PorträtChefmaschinist “Hohentwiel”

Hildegard Nagler

 · 27.01.2022

Porträt: Chefmaschinist “Hohentwiel”Foto: Roland Rasemann

25 Jahre für das Bodensee-Juwel „Hohentwiel“: Christian Hämmerle kümmert sich mit Herzblut um die einzigartige Dampfmaschine des historischen Schaufelraddampfers

Ohne ihn ginge – nichts. Christian Hämmerle grinst verschmitzt, wenn er derlei Sätze hört. Dann sagt der Mann, der so herzlich lachen kann: „Ohne den drüber auch nicht.“ Der 50-Jährige muss es wissen: Seit 25 Jahren ist Christian Hämmerle Maschinist auf der majestätischen „Hohentwiel“, dem letzten Schaufelraddampfer auf dem Bodensee, und hat keine Minute bereut. Über ihm steht im wahrsten Sinn des Wortes Oberkapitän Robert Kössler. Der gibt an Bord des 1913 für den württembergischen König gebauten Dampfers dem Chefmaschinisten, der im Maschinenraum zwei Etagen tiefer bei einer Raumtemperatur ab 40 Grad Celsius vor der schwarz glänzenden Maschine steht, vom Führerstand aus übers Sprachrohr den Befehl „Ganz langsam voraus“. Der Chefmaschinist wiederholt den Befehl und gibt vorsichtig Dampf in die Maschine. Es folgt: „Maschine Stop!“ Die Maschine wird auf „Rückwärts“ umgesteuert, mit dem Hilfsdampfhebel bringt der Maschinist die mächtige Maschine in die richtige Anfahrtsposition. Eine Glocke ertönt: Über den Maschinentelegrafen hat der Kapitän soeben den Befehl zum Auslaufen gegeben. Der Chefmaschinist bestätigt den Befehl, das Klingeln endet. Dann betätigt er den Hauptdampfhebel. „Jeee tu, jeee tu“ – der Dampf strömt langsam in die sorgfältig gewartete und gepflegte Maschine hinein und wieder heraus. Die Schaufelräder beginnen sich zu drehen, passen sich dem immer schneller werdenden „Ein- und Ausatmen“ an. Gischt spritzt gegen die kleinen Bullaugen, hinter denen die Schaufelräder arbeiten. Die „Ho­hen­twiel“ gewinnt an Fahrt, gleitet in einen wunderschönen Abend mit traumhaftem Sonnenuntergang vor den Schweizer Bergen hinein. Wieder einmal läuft die mittlerweile einzigartige, von Escher und Wyss & Cie Zürich und Ravensburg vor knapp 110 Jahren gebaute original Dampfmaschine zur Hochform auf. Ganz ohne Strom, Gas oder Holz – allein mit Wasserdampf als Energiequelle fährt der 360 Tonnen schwere Dampfer mit seiner Crew und den Passagieren über den See. Der Chefmaschinist strahlt. Er und die alte elegante Dame mit dem charakteristischen Schornstein – sie verstehen sich blendend. 1962 wurde die „Hohentwiel“ ausgemustert, durch das Engagement einiger Visionäre in letzter Minute vor dem Schneidbrenner gerettet und nach dem zweiten Stapellauf am 17. Mai 1990 zum bestrestaurierten Schiff Europas gekürt. Keine einzige Fahrt musste in den vergangenen 25 Jahren aus technischen Gründen abgesagt werden.

Christian Hämmerle. Kurzes Haar, groß gewachsen, sportlich, kräftige Hände. Hört er das Wort „Hohentwiel“, leuchten seine Augen. Erzählt er von ihrer Maschine, strahlen sie. Schon als Bub interessiert er sich für Technik. „Mein Vater, der von Beruf Mechaniker und Elektriker ist, brachte alte Lochkartenmaschinen nach Hause. Die haben wir gemeinsam zerlegt“, erzählt er. Zahnrädchen und beispielsweise Magnete bauen die beiden aus und woanders wieder ein. So verwundert es nicht weiter, dass Chris­tian Hämmerle eine Lehre zum Elektromechaniker/Maschinenbauer absolviert und dann bei der Dornbirner Seilbahngesellschaft Maschinist wird. „Eines Abends ist der stellvertretende Betriebsleiter in den Maschinenraum gekommen, wo ich Dienst hatte“, erinnert sich Christian Hämmerle. Sein Chef schlägt eine Zeitung auf. Darin ist eine Anzeige, wonach für die „Hohentwiel“ ein Maschinist gesucht wird. Er überlege, ob er sich bewerben solle, sagt er dem jungen Mann. Als der Chef wieder geht, schlägt Christian Hämmerle die zusammengefaltete Zeitung wieder auf. „Ich hatte zwar nicht das Bedürfnis, den Job zu wechseln“, erinnert er sich. „Trotzdem habe ich beschlossen, dass ich mich bewerbe.“

Eingewintert wartet die „Hohentwiel“ auf die nächste SaisonFoto: Hildegard Nagler
Eingewintert wartet die „Hohentwiel“ auf die nächste Saison

Vorstellungstermin ist am Dreikönigstag 1997. Reinhard E. Kloser, Projektleiter der aufwendigen Restaurierung und seinerzeit Kapitän des majestätischen Dampfers, zeigt dem jungen Mann das Schiff, das Christian Hämmerle zuvor noch nie betreten hat. Als es in den Maschinenraum geht, ist er überwältigt. Reinhard E. Kloser, der auch Sachverständiger für Schifffahrt ist, spürt instinktiv, dass Christian Hämmerle der richtige Mann für die alte Dame ist. Zwei Monate später fängt dieser auf der „Hohentwiel“, die dem Verein Internationales Bodensee-Schifffahrtsmuseum gehört, an. Der stellvertretende Betriebsleiter der Seilbahngesellschaft ist platt. So sei es nicht gemeint gewesen, erklärt er Christian Hämmerle zum Abschied.

Der hat nicht groß Zeit, sich Gedanken zu machen. Der Kapitän lernt ihn und die anderen Neuen an. Drei Tage vor Saisonbeginn wecken die Männer die Maschine aus dem Winterschlaf, bringen, nachdem die Wasserpumpen etwa eineinhalb Stunden gelaufen sind, die Kessel langsam unter Druck – das Eisen muss Zeit haben, sich auszudehnen. Gleichzeitig darf die Wasser-Aufwärmphase nicht zu lange dauern, weil es sonst mit den Dichtungen schwierig werden kann. Bei 186 Grad Celsius und einem Druck von zehn Bar in den Kesseln ist die Betriebstemperatur erreicht. Die maximale Heizleistung liegt bei etwa 10 000 PS. Hoch konzentriert ist die Mannschaft dabei. Erfahrung, über die heute nur noch wenige verfügen, ist unerlässlich, da es ja keinen Computer gibt, der die Dampfmaschine steuert.

Ist der Kessel noch warm vom vorigen Einsatz, sind der leitende Maschinist und der zweite Maschinist rund zweieinhalb Stunden vor Fahrbeginn an Bord. Andernfalls beginnen die beiden eine weitere Stunde früher, den Kessel langsam hochzufahren und die Maschine, einen riesigen Gusseisenblock, vorzuwärmen. Reinhard E. Kloser lässt Christian Hämmerle bald die Maschine in Eigenverantwortung fahren. Die wiegt schwer. Das weiß der Chefmaschinist. Und doch trägt er sie gern – wie schon bei der Seilbahn erfordern Wartung und Bedienung Handwerk. „Das gefiel mir von Anfang an“, erinnert sich Hämmerle. Gemeinsam mit zwei weiteren Maschinisten pflegt und hegt er die Maschine, füllt die vielen Tropföler. Weil es an Bord keine Überwachungseinrichtungen gibt, müssen die Maschinisten – derzeit sind es Florian Pausch und Conny Simma als erste Frau in der technischen Crew – die Fähigkeit haben, jede Unregelmäßigkeit sofort zu hören und zu sehen. Läuft beispielsweise ein Lager heiß, muss unverzüglich entsprechend reagiert werden. „Christian Hämmerle merkt sofort, wenn mit der Maschine etwas nicht stimmt. Er kann sich in sie reinfühlen“, lobte der frühere Kapitän Adolf F. Konstatzky einmal.

Zwar gilt der Maschine das Hauptaugenmerk, es gibt aber weitere Aufgaben für die Maschinisten: So klettern sie in die beiden roten Schaufelräder, die einen Durchmesser von rund vier Metern haben, und kontrollieren alle Lager, Muttern und Schrauben. Nebenaggregate wie die Rudermaschine oder die Generatoren sind ebenfalls zu warten, und die Trinkwasserversorgung muss hygienisch sicher sein.

Auf dem See ist die Crew in Uniform unterwegs – wie schon zu Königs Zeiten, als die Besatzungsmitglieder von der kaiserlichen Marine rekrutiert wurden. Dann wird auch manövriert, was viel Kenntnis, Geschick und Teamwork zwischen Kapitän beziehungsweise Steuermann und Maschinist bedeutet. Denn Letzterer muss umsetzen, was Ersterer vorgibt.

Schiff in FahrtFoto: Hildegard Nagler
Schiff in Fahrt

„Vergleicht man den Schaufelraddampfer mit einem modernen Schiff, passt das Bild Schwerlaster-Fahrrad am besten“, sagt Se­nior­kapitän der „Hohentwiel“ Reinhard E. Kloser. Fährt der Schaufelraddampfer vorwärts, laufen auf Vorausfahrt beide Schaufelräder synchron. Muss das Schiff rückwärts fahren, wie beispielsweise in Friedrichshafen nach dem Anlegen auf Platz 2, wird eine Achterleine am Eck- und Festmacherpoller befestigt, mit deren Hilfe das Schiff um den Poller „herumgezogen“ wird – was immer für großes Aufsehen sorgt. Der schwierigste Hafen für den Dampfer ist Lindau, wenn nicht auf Platz 2 festgemacht werden kann. Und: Generelles Minimum fürs Anlegen ist eine Wassertiefe von nur zwei Metern. Mit einer Höchstgeschwindigkeit von 31 Kilometern pro Stunde ist die „Hohentwiel“ unterwegs. Für einen Notstopp hat das Schiff bei voller Fahrt einen Bremsweg von 60 Metern. Einmal im Jahr werden die Maschinisten auch äußerlich zu Glücksbringern: Dann rußen sie den Schornstein – natürlich in Arbeitskleidung. „Früher waren die Maschinisten den ganzen Tag voller Ruß“, berichtet Christian Hämmerle. Bei 60 Grad Celsius unter Deck schaufelten zwei Heizer von 5.20 Uhr bis 20 Uhr – so lange dauerte ein Arbeitstag – Kohlen in die Flammrohre. Allein auf einer Fahrt von Bregenz nach Konstanz und zurück waren es drei Tonnen. Damit sie sich abkühlen konnten, stand eine große Wanne mit Wasser im Maschinenraum. Mit beiden Händen tauchten sie ein, spritzten sich das Nass ins Gesicht.

Zeiten, die glücklicherweise vorbei sind. Heute kommt die Crew auf rund 900 Fahrstunden. Die „Hohentwiel“ fährt mit Heiz­öl extraleicht, der Brennstoffverbrauch liegt bei rund 100 000 Litern pro Saison. Die Kurbelwelle dreht sich etwa eine Million Mal, dabei legt das Schiff rund 10 000 Kilometer zurück. An Bord sind über die Saison rund 20 000 Passagiere. „Wenn wir das Schiff Ende Oktober einwintern, brauchen wir etwa zehn Tage“, sagt Christian Hämmerle. Einen Monat vor Beginn der Saison wird es „ausgewintert“. Langweilige Routine nach so vielen Jahren? „Nein“, sagt Christian Hämmerle. „Wir müssen konzentriert arbeiten. Die Maschine verzeiht keine Fehler.“

Traumhafte Sonnenuntergänge hat der Chefmaschinist auf der „Hohentwiel“ erlebt, hektische Leute kommen, entspannte gehen sehen. Was ist geblieben? Christian Hämmerle muss nicht lange nachdenken. „Respekt vor der Maschine – und vor dem See“, sagt er. Vor der Maschine, weil sie nach so vielen Jahren noch immer Höchstleistungen vollbringe. Dafür aber auch sehr gut gewartet sein müsse. Den Respekt vor dem See hat ihm schon sein Lehrmeister Kloser gelehrt. Der habe vor schnellem Wetterwechsel auf dem Bodensee gewarnt. „Einige Male habe ich das miterlebt. Die Sonne schien, der See war ruhig. Dann, von einer Minute auf die andere, ist ein heftiger Sturm aufgezogen. Hat getobt wie verrückt. Nach einer Viertelstunde war das Schauspiel vorbei.“ Hatte er Angst? „Nie“, sagt Christian Hämmerle. „Ich habe mich auf ihr immer sicher gefühlt. Das Schaukeln kenne ich von der Seilbahn. Nur dass man auf der „Hohentwiel“ nicht so weit oben ist.“

Christian Hämmerle hat eine Rechnung aufgemacht: 49 Dienstjahre hatte die „Hohentwiel“ in ihrem ersten Leben, hinzu kommen 32 aus ihrem zweiten. Rechnet er für sich 2000 Arbeitsstunden pro Jahr (inklusive Urlaub bei einer 40-Stunden-Woche), kommen 50 000 Arbeitsstunden zusammen. Gut möglich, dass er der dienstälteste Maschinist ist, der jemals an Bord war.

Derzeit ruht der Schaufelraddampfer des Vereins Internatio­nales Bodensee-Schifffahrtsmuseum unter einer Abdeckung in seinem Heimathafen im österreichischen Hard. Auch wenn Christian Hämmerle seit 25 Jahren auf der „Hohentwiel“ Dienst tut, macht es ihn jedes Mal traurig, wenn das Schiff eingewintert wird. „Wenn die Maschine kalt ist, ist es nicht mehr schön. Dann ist es Zeit, von Bord zu gehen.“

Umso mehr freut sich der Chefmaschinist, wenn die „Hohen­twiel“ im Frühjahr wieder zu neuem Leben erwacht. Dann riecht er beim Vorwärmen das Öl und den Dampf, der durch die Luft wabert. Dann kann es sein, dass seine Augen wieder feucht werden, wenn die Maschine ihre ersten Umdrehungen macht. Christian Hämmerle hat seinen Traumjob gefunden. Er liebt ihn.

Das Porträt 25 Jahre für das Bodensee-Juwel „Hohentwiel“ finden Sie in BOOTE-Ausgabe 02/2022 – seit dem 12.01.2022 am Kiosk oder online im Delius Klasing-ShopDelius Klasing-Shop.