ReportageTullio Abbate

Gerald Guetat

 · 23.04.2022

Reportage: Tullio AbbateFoto: Henri Thibault, Collection Tullio Abbate

Im Kielwasser der Legende: Rennpilot und Bootsbauer – Der Italiener Tullio Abbate verkörperte als einer der Letzten die Leidenschaft einer großen Generation unabhängiger Werfteigner

Die ikonische Szene wurde Anfang der Achtzigerjahre gedreht, im Mittelmeer vor der französischen Küste. Ein Speedboat jagt im Sonnenschein über das glatte Wasser, verfolgt von einem Hubschrauber, der in geringer Höhe über seinem Kielwasser fliegt. Auf der rechten Landekufe steht ein athletischer Mann, bereit zum Sprung im richtigen Augenblick. Auf dem Bootsrumpf ist deutlich der Schriftzug „Tullio Abbate“ in goldenem Lorbeerkranz erkennbar. Schließlich springt der Mann, landet auf der Sonnenliege und übernimmt mit der Waffe in der Hand die Kontrolle über das Boot. Es ist kein Geringerer als Jean-Paul Belmondo, der für den Actionfilm „Der Außenseiter“ gerade einen der spektakulärsten Stunts seiner Karriere absolviert hat.

Millionen von Kinozuschauern sahen zugleich einen der frühen Entwürfe von Tullio Abbate, auch wenn sie dem Boot in der Nebenrolle selbst nicht allzu viel Aufmerksamkeit geschenkt haben dürften: „Mister Nicolas“, ein an den Filmproduzenten ausgeliehenes Modell 36 von Abbate Offshore, war ursprünglich von Formel-1-Weltmeister Alain Prost in Auftrag gegeben worden, um die Geburt seines Sohnes Nicolas zu feiern.

Das Werftgelände in Tremezzo steckt voller GeschichteFoto: Henri Thibault, Collection Tullio Abbate
Das Werftgelände in Tremezzo steckt voller Geschichte

In gewisser Weise fasst der rasante Kurzauf­tritt auf der Leinwand viel von dem zusammen, was das Leben und Schaffen von Tullio ausmachte: der Rausch der Geschwindigkeit, die Rennen, das Risiko am Limit zu Lande und zu Wasser, aber auch der Glitter und Glamour des Jetsets, eine treue Klientel berühmter Freunde und anspruchsvoller Kenner.

Mit seiner einnehmenden Art und viel Humor verband Tullio seine eigene Verführungskraft mit der seines „Ferrari der Meere“: „Es war der Klang meiner Boote, mit dem ich sowohl Herbert von Karajan als auch Diego Maradona verzaubern konnte.“ In Anbetracht seiner Leistungen als Rennfahrer und Bootsbauer fühlte sich mancher versucht, Vergleiche mit Enzo Ferrari, dem legendären „Commendatore“ aus Maranello, anzustellen. Aber das war zu gewagt für Tullios Bescheidenheit. Außerdem war der Mann mit dem springenden Pferd für seine Zurückgezogenheit und einsamen Einscheidungen bekannt, während Tullio selbst, trotz seiner temperamentvollen und zuweilen autoritären Art, gern und oft lachte und sich in Gesellschaft anderer sehr wohlfühlte.

Geboren am 14. Juli 1944 als ältester Sohn von Guido Abbate, wuchs Tullio in einer Familie von Bootsbauern auf, die bereits seit mehreren Generationen am Ufer des Comer Sees tätig waren. Sein Vater war seine große Inspiration: 1946, kurz nach dem Krieg, hatte er die erste Goldmedaille des italienischen Motorbootverbandes für „Pamblo“ erhalten, den bahnbrechenden Prototyp eines sehr schnellen Runabouts, der von einem Oberflächenpropeller angetrieben wurde.

Die Mito 45 ist das Flaggschiff der WerftFoto: Henri Thibault, Collection Tullio Abbate
Die Mito 45 ist das Flaggschiff der Werft

Guido Abbate hatte oft bedeutende Besucher und Kunden auf seiner Werft zu Gast, und der junge Tullio ließ sich nichts entgehen. In den frühen Fünfzigerjahren war es ein Ort, an dem man Ingenieuren wie einem gewissen Giulio Alfieri begegnen konnte, der später Chef von Maserati werden sollte, oder Mario Verga, dem berühmten Speedboat-Champion, der 1953 einen neuen Geschwindigkeitsweltrekord auf dem Wasser aufstellte. Sein Abbate-Rumpf wurde dabei von demselben Motor angetrieben wie Juan Manuel Fangios Formel-1-Rennwagen aus der Schmiede von Alfa Romeo.

Tullio bekam einen Logenplatz für die gewaltige technische Entwicklung, die in der zweiten Hälften des zwanzigsten Jahrhunderts vonstattenging: zunächst noch klassischer Bootsbau aus Holz, Geschwindigkeitsrekorde mit Dreipunkt- und später Vierpunktrümpfen, tiefe V-Spanten, schlanke Katamarane, die Gretchenfrage von Außenborder oder Innenborder, der Aufstieg der Offshore-Szene, der Bau von Prototypen für reiche Individualisten, Sprint- und Langstreckensiege, der Siegeszug von GFK, das endlose Rennen um immer mehr Motorleistung, die Marinisierung von Lamborghini-, Ferrari- oder Porsche-Triebwerken und schließlich sogar der industrielle Serienbau.

Doch Schritt für Schritt: Schon als Sechzehnjähriger gewann Tullio 1960 als Co-Pilot die Europameisterschaft in Cannes. Er liebte alles Französische, und in Frankreich hatte er in den frühen Sechzigerjahren die Offenbarung seines Lebens: „Es kam mir vor wie eine wundersame Erscheinung. Ich nahm an den Sechs Stunden von Paris teil und sah ein kleines Boot mit tiefem V-Rumpf, ziemlich hässlich und, noch schlimmer, aus Kunststoff gebaut. Ein Albtraum für alle Traditio­nalisten.“ Doch der junge Mann erkannte das Potenzial des neuen Materials. Wie zu erwarten, wollte sein Vater daheim am Comer See von Plastik nichts hören.

Doch Tullio Abbate ließ sich nicht von seinem Vorhaben abbringen und begann auf eigene Faust mit dem Bau von Booten aus GFK. Der Rest ist Geschichte und in die Annalen des internationalen Mo­tor­boot­sports eingegangen: mehr als zweihundertfünfzig Siege und eine langen Liste von Weltrekorden, der letzte 1997 mit einer Durchschnittsgeschwindigkeit von über 223 Stundenkilometern.

Seit 1979 läuft die Sea-Star-Modellserie, hier die RS 22 von 2017Foto: Henri Thibault, Collection Tullio Abbate
Seit 1979 läuft die Sea-Star-Modellserie, hier die RS 22 von 2017

Egal, ob er selbst am Steuer saß oder nicht, der Name Abbate war mittlerweile zu einem prestigeträchtigen Markenzeichen geworden. Das Lorbeer-Logo stand als Symbol des Triumphs, immer verbunden mit der Ziffer 5, seiner ersten Startnummer, die er von der Motor Boating Federation bekommen hatte. 1963 malte er sie auf das erste von ihm entworfene Rennboot, mit dem er im Alter von 19 Jahren sogleich die Centomiglia del Lario gewann. Von nun an glaubte er immer fest an seine Glückszahl: Als Vater Guido 1975 in den Ruhestand ging, übernahm Tullio die Werft und erweiterte sie beträchtlich. Bis Mitte der Achtzigerjahre verließen jährlich tatsächlich nie weniger als zweihundertfünfzig Neubauten die Werkshallen in der Lombardei.

Mit der Sea-Star-Serie ab 1979 kam der Erfolg ins Rollen. Ihr Design war so originell wie zeitlos, eine Version folgte auf die nächste, und auch wenn immer wieder Änderungen an der Gestaltung vorgenommen wurden, blieb die Grundlinie über die Jahre erhalten. Ähnlich wie bei einem anderen Klassiker, dem Porsche 911. Gleichzeitig kamen die ersten Offshore-Modelle auf den Markt, kraftvolle Boliden von 33 bis 42 Fuß Länge und später auch mehr. Mit dem führenden Automobildesigner Giorgetto Giugiaro wurden sogar Projekte mit einer Länge von bis zu 80 Fuß in Angriff genommen.

Tullio Abbate 2011 am Steuer einer Mito 33. Zweimal 486 PS machten das Modell zu einem der schnellsten der WerftFoto: Henri Thibault, Collection Tullio Abbate
Tullio Abbate 2011 am Steuer einer Mito 33. Zweimal 486 PS machten das Modell zu einem der schnellsten der Werft

Tullio war sich nie zu schade, selbst Hand anzulegen. Oft reiste er nach Monaco und an die Côte d’Azur, um auf dem Boot eines Kunden noch in allerletzter Minute für das perfekte Feintuning zu sorgen. So beschreiben ihn Menschen, die mit ihm zusammengearbeitet haben, wie etwa Maurice Marth aus Grimaud: „Tullio war immer verfügbar und enthusiastisch, wenn es darum ging, ein Problem zu lösen. Eine Abbate ist schließlich zum Vergnügen da, und Tullio liebte es vor allem, die Menschen in dieser Hinsicht vollends zufriedenzustellen.“

Wie auch Theo Rossi di Montelera und der im September 2019 tödlich verunglückte Fabio Buzzi wurde Tullio mit der höchsten Sportauszeichnung seines Heimatlandes geehrt. Inzwischen gehört der Meister selbst der Geschichte an. Im April 2020 starb er im Alter von 77 Jahren in Mailand. Doch sein Sohn Tullio Junior hat bereits die Fackel übernommen. Ein Jahr vor dem Tod des Vaters konnte er ihm den ersten eigenen Titel widmen: Langstreckenweltmeister.

Die Reportage “Im Kielwasser der Legende” finden Sie mit weiteren Bildern in BOOTE-Ausgabe 05/2022 – seit dem 20.04.2022 am Kiosk oder online im Delius Klasing-Shop.