Ingrid Bardenheuer
· 08.06.2014
Seit 100 Jahren bewahrt die Deutsche Lebens-Rettungsgesellschaft Menschen vor dem Ertrinken. Das Jubiläum war Anlass für eine Bootsdemo durch Berlin.
Samstag, kurz nach halb acht. Im Osten beginnt der Horizont zu schimmern. Das Thermometer zeigt 4 °C, die Luft ist klamm. Ein einsamer Rudervierer zieht über den See. Es ist spät im Jahr, fast Ende Oktober. Der Himmel leuchtet jetzt in den Farben des Morgens: Purpur, Rotorange, Gold. "Passt doch!", sagt einer meiner Mitfahrer, der wie alle hier in signalroter Funktionskleidung mit gelbem "DLRG"-Schriftzug steckt. Alle?
Neidisch schaue ich auf das Profi-Outfit. Ich trage Zwiebellook, und mir ist kalt. Mit einer ganzen Flotte von Rettungsbooten sind wir auf dem Weg vom Großen Wannsee zum Pichelsdorfer Gemünd. Von dort soll’s weiter in die Berliner Innenstadt gehen. Die Ruderer halten inne. "Ich wusste gar nicht, dass ihr so viele Boote habt!", meint einer. "Da kommen noch mehr, so fünfzig, sechzig", ruft unser Skipper zurück und fügt, ein bisschen übermütig, hinzu: "Man wird nur einmal hundert!" Die Ruderer lächeln, und ich schlage den Kragen hoch. Das bisschen Kälte. Heute feiert die Deutsche Lebens-Rettungs-Gesellschaft (DLRG) hundertsten Geburtstag. Da will man doch kein Weichei sein.
Teil der Festlichkeiten ist diese Bootsdemo durch Berlin. Seit mehr als einem Jahr wird an dem Projekt getüftelt. Über tau-send Teilnehmer und Unterstützer aus dem gesamten Bundesgebiet sind gemeldet, rund 200 Rettungsboote avisiert. Etwa 150 Kollegen vom DLRG-Landesverband Berlin stehen als Helfer bereit. Zwei Tage vor dem großen Event ist die ganz heiße Phase angelaufen.
Gespann um Gespann trifft im Strandbad Wannsee ein. Hier ist die zentrale Check-in-Station. Die Bootsführer bekommen alle nötigen Infos, die Boote eine Akkreditierung. Und zwar rund um die Uhr. Einige DLRG’ler schlafen deshalb im Orgabüro. Wenn nachts ein Neuankömmling klingelt, dann muss einer raus und den Kameraden einweisen.
So ist das eben unter Ehrenamtlichen: Viele können erst nach Feierabend ihre Siebensachen packen, den Trailer anhängen und sich nach Berlin aufmachen. Wer eine weite Anfahrt hat, trifft dementsprechend spät beim Check-in ein. Klar, dass man den Kumpel dann nicht vor der Türe stehen lässt. Etliche wollen zelten. Ihnen muss das Orgateam, auch zu nachtschlafender Zeit, noch einen Stellplatz zuteilen.
Geschlummert wird ohne wärmendes Öfchen. Sowas ist auf dem Strandbadgelände nicht erlaubt. Sind DLRG-Menschen hart im Nehmen? Michael Neiße vom DLRG-Landesverband Berlin grinst: "Normalerweise sind sie hart im Nehmen. Wenn sie den richtigen Schlafsack haben …"
Michael Neiße ist sozusagen in die DLRG hineingeboren worden. "Ich durfte am Strand spielen, während meine Eltern Dienst gemacht haben", erinnert er sich. Mittlerweile hat die dritte Generation bei der DLRG Fuß gefasst, Neißes 15-jährige Tochter. Deutlich über 60 % aller DLRG-Mitglieder sind unter 26 Jahre. Dass etliche Aktive ihre Kinder mitbringen und auch der Nachwuchs anderer schon früh, quasi übers Babyschwimmen, Bekanntschaft mit der DLRG machen kann, erleichtert einiges, bindet aber noch nicht.
Was die Kinder letztlich bis ins Erwachsenenalter an der Organisation festhalten lässt, ist etwas anderes – die Kombination aus Spaß und Substanz. Denn Party und Einsatz liegen stets dicht beieinander. "Und das sagen wir den jungen Leuten auch, wenn sie hier anfangen", bekräftigt Michael Neiße, "dass es von einer Sekunde auf die andere ganz, ganz bitterernst werden kann." Doch genau dieser Mix aus verbindlichem Miteinander und sinnhaftem Tun trifft den Nerv, bei Jung und Alt.
Noch zwölf Stunden bis zum Korso. Michael Neiße gibt den Teilnehmern letzte Instruktionen. Vom Strandbad Wannsee aus starten wir morgen in Richtung Pi-chelsdorfer Gemünd, wo weitere Rettungsboote zu uns stoßen werden. Nachdem sich der Konvoi formiert hat, geht es durch die Charlottenburger Schleuse, dann via Spree zum Berlin-Spandauer-Schifffahrtskanal und über den Charlottenburger Verbindungskanal wieder zur Spree. Am Schloss Charlottenburg wird uns nun eine Festgesellschaft erwarten. Gleich danach treten wir die Rücktour an. Vor uns liegt eine Gesamtstrecke von etwa 61 km. "Bitte den Anweisungen folgen", gibt Michael Neiße den Bootsführern mit auf den Weg, "damit wir alle eine schicke Fahrt haben …"
Samstag, der große Tag ist da. Und ich sitze mit rot gefrorener Nase auf der Rückbank des Einsatzleitbootes. Recht voraus kommt schon das Pichelsdorfer Gemünd in Sicht, außerdem eine Bade-Ente. Sie ist vierzigmal so groß wie handelsübliche Exemplare und hockt auf einem Ponton-boot, mit 60 PS unter dem Bürzel. Die gelbe Ente als Symbol für sicheres Schwimmen macht das Motto dieser Bootsdemo noch augenfälliger: "Sicherheit für unsere Kinder – gegen die Schließung von Schwimmbädern."
Das Einsatzleitboot ist eine Windy 22 mit 190 PS, die seit 42 Jahren unverdrossen ihren Dienst verrichtet. "Absolut geeignet als Leitboot und schnelles Eingreifboot", schwärmt Skipper André Günther, DLRG-Einsatzleiter "SüdOst", also der Berliner Gewässer im Bereich Köpenick. Außerdem hat die Windy eine "Zweitfunktion": als Notarztboot. Denn André Günther ist Notarzt. Wie viele fand er schon früh zur DLRG, mit 13. "Das ist mein Hobby", sagt er. Ehrenamtlich? "Natürlich!", kommt es postwendend, und ich meine, ein kurzes Kopfschütteln bemerkt zu haben. Was für eine Frage auch. Und, ja, die Freizeit sei knapp. "Aber die verbringe ich gerne sinnvoll", betont André Günther. Bootfahren hat er bei der DLRG gelernt, und zwar richtig gut. Motorboote sind das wichtigste Rettungsmittel der Organisation und müssen im Notfall zu hundert Prozent beherrscht werden.
"Macht doch, was ihr wollt, ich hab ja Langeweile", brüllt ein DLRG-Ordner entnervt. Es ist 9 Uhr, und die Kammer der Schleuse Charlottenburg füllt sich mit Rettungsbooten. Nicht jeder Steuermann hält sich an den zuvor penibel festgelegten Schleusenplan. Der muss sein, damit die rund 200 Boote des Konvois wie geplant in zwei Stunden durchgeschleust werden können. Da gilt es, Zaghafte zum Aufrücken zu bewegen und Drängler zu bremsen. Am Ende klappt es doch noch wie gemalt. Ob "Sabine", "Friedel" oder "Wasserfloh" – kurz nach elf schwimmen alle Boote im Schleusenoberwasser.
Stau, nichts geht mehr. Bei so vielen Booten dauert es, bis sich alle wieder sortiert haben. Jemand reicht Schichtsalat herum. Was machen Retter eigentlich, wenn es nichts zu retten gibt? "Aus- und Fortbildung mit den jungen Kameraden", sagt André Günther. Und dann zwinkert er doch noch: "Natürlich fliegt bei schönem Wetter auch mal der eine oder andere Kamerad ins Wasser …" Im Boot neben uns schauen Lucy und Mira gebannt aus dem Steuerbordfenster. An Land hebt gerade ein Artgenosse das Bein.
Lucy und Mira sind Rettungshunde und fahren auf der "Schwabenstolz" mit. Das Kajütboot gehört zur DLRG-Ortsgruppe Gundelsheim. Die Crew kam auf eigenem Kiel vom Neckar an die Spree. Sieben Tage war sie unterwegs. – Plötzlich herrscht Aufregung. Ein Boot vor uns ist voll Wasser gelaufen. "Seid ihr leckgeschlagen, oder was ist los?" ruft ein DLRG-Helfer. Kein Loch im Rumpf, der etwa 4 m langen "Jöö 2" aus Bottrop ist eine Welle eingestiegen. Kollegen sind schon längsseits gegangen und haben Erste Hilfe geleistet: Schlepp-Paket gebaut, Pumpe installiert, Trimm-Anweisungen gegeben. Klar und deutlich kommen die Kommandos. Bald kann sich die "Jöö 2" dem Konvoi wieder anschließen.
Wir sind am Hauptbahnhof. Nun winken uns wirklich jede Menge Menschen zu – Aufmerksamkeit, die der Korso verdient hat. Schließlich ist die Aktion eine Demo gegen Bäderschließungen. Weniger Bäder heißt weniger Schwimmunterricht, weniger Ausbildung bedeutet mehr Nicht-schwimmer. Eine fatale Entwicklung.
Anfang des 20. Jahrhunderts, kaum drei Prozent der Deutschen können schwimmen. Damals ertrinken im Kaiserreich jährlich etwa 5000 Menschen – statistisch 14 Tag für Tag. Dann geschieht eine Tragödie, die wach rüttelt.
Es ist der 28. Juli 1912. In Binz auf Rügen geht ein herrlicher Sommersonntag zu Ende. Über die Seebrücke bummeln zahllose Badegäste und Schaulustige. Der Landesteg vor Kopf ist von Ausflüglern belagert. Gleich wird hier die "Kronprinz Wilhelm" festmachen. Doch da knickt ein Träger ein. Der Anleger bricht und reißt Dutzende Menschen ins Meer. Die meisten sind Nichtschwimmer und die, die auf der Brücke stehen, auch. Sie können nur hilflos mitansehen, wie Männer, Frauen und Kinder im Wasser um ihr Leben kämpfen. In der Nähe liegen Marineschiffe. Besatzungsmitglieder beobachten das Drama, springen in die Ostsee und retten viele Verunglückte. Für 16 Menschen kommt trotzdem jede Hilfe zu spät. Sie ertrinken.
Im Juni darauf veröffentlicht der Deutsche Schwimmverband einen flammenden Gründungsaufruf. "Retten lernen! muss unser Hauptlosungswort werden", steht da, "Wir müssen eine planvolle Ausbildung aller herbeiführen, auch der Frauen …" Am 19. Oktober 1913 ist es soweit. Im Leipziger Hotel "De Prusse" konstituiert sich die DLRG. Viel ist seitdem geschehen. Heute sind Nichtschwimmer eher die Ausnahme. Die Zahl der im Jahr Ertrunkenen ist gegenüber 1913 um 92 Prozent zurückgegangen. Ein Verdienst, den sich die DLRG zusammen mit anderen Organisationen und Rettern auf die Fahnen schreiben darf.
Auf den Tag genau hundert Jahre nach Gründung der DLRG, am 19. Oktober 2013, schlängelt sich der Bootskorso durch die Berliner City. Mittags passieren wir ein weiteres Mal Schloss Charlottenburg. Am Ufer applaudieren die Menschen. Etliche kommen geradewegs vom Festakt in der Großen Orangerie des Schlosses. Dort hat eben auch der Schirmherr der DLRG gesprochen, Bundespräsident Joachim Gauck. "Die Ideale und die Arbeit in der DLRG sind auch ein Modell für die Gesellschaft als Ganzes: gemeinsam Fähigkeiten entwickeln, um sich gegenseitig zu fördern, aufeinander achtzugeben und einander zu beschützen", sagte er. In diesem Sinne: Auf die nächsten hundert Jahre, Deutsche Lebens-Rettungs-Gesellschaft!