Hildegard Nagler
· 06.05.2016
Jubiläum einer schweren Wiedergeburt: Vor 25 Jahren startete der letzte Schaufelraddampfer auf dem Bodensee zu seiner zweiten Jungfernfahrt. Seine Magie zieht seither alle in den Bann.
Majestätisch und würdevoll dampft sie durch ihr zweites Leben, lässt sich von nichts und niemandem aus der Ruhe bringen. Ein edler Schaufelraddampfer, dessen Kamin schon von weitem zu sehen ist, mitten auf dem tiefblauen Bodensee, auf dessen Wellenkämmen Tausende von Sternchen tanzen, dazu der herrliche Blick auf die Berge: Mit ihrer beinahe unglaublichen Schönheit vor traumhaftem Ambiente zieht die 102 Jahre alte „Hohentwiel“ Scharen von Menschen in ihren Bann und fasziniert sie – ganz so, wie es der Schaufelraddampfer, bei Escher Wyss & Cie in Zürich für den württembergischen König Wilhelm II gebaut, schon in seinem ersten Leben tat.
Dass in den 1980er-Jahren nach vielen ar-beitsreichen Jahren auf dem Bodensee das Ende des Schiffs besiegelt schien, kann heute kaum mehr jemand glauben – nur durch den Mut und das Engagement einer Gruppe von Menschen wurde der letzte Schaufelraddampfer auf dem Schwäbischen Meer in einer grenzüberschreitenden, nervenzehrenden Aktion gerettet, ihm vor 25 Jahren ein zweites Leben geschenkt.
Zurück in die Zukunft: Die Fahrt mit der „Hohentwiel“ ist eine faszinierende Zeitreise
Doch der Reihe nach. Am 3. Mai 1911 stimmt die Generaldirektion der Königlich Württembergischen Staatseisenbahnen dem Neubau eines Schiffs zu, das den Namen "Hohentwiel" zu Ehren des 689 Meter hoch vor Singen im Hegau aufragenden Basaltkegels tragen soll. Ein Halbsalondampfer soll es werden wie schon das 1909 erbaute Schwesterschiff "Friedrichshafen"; der Hecksalon wird dabei in den hinteren Rumpfteil abgesenkt. Die Schiffs-höhe über Wasser wird damit niedriger, was wiederum die Angriffsfläche für den Wind bei den sehr unberechenbaren Windverhältnissen auf dem Bodensee reduziert. 325 000 Mark kostet der Bau des Schiffs, die Saloneinrichtung schlägt zusätzlich mit 15 000 Mark zu Buche. Sorgsam werden in Zürich die Kalkulationsbücher geführt: Zwei dicke handgeschriebene und -gezeichnete Wälzer erzählen noch heute davon.
Teil um Teil wird von Zürich in offenen Güterwaggons bis nach Romanshorn transportiert, dort in Trajektkähnen über den See geschippert und in Friedrichshafen aufs Werftgleis verschoben. 100 Arbeiter nieten den Dampfer zusammen. Auf die "Titanic"-Katastrophe haben Auftraggeber und Schiffsbauer reagiert: Der Rumpf für das neue Schiff wird in sieben wasserdichte Sektionen aufgeteilt, damit der Dampfer auch noch schwimmfähig ist, wenn Wasser in einen Raum eingedrungen ist.
Am 1. Mai 1913 wird die "Hohentwiel" mit einer Besatzung von acht Mann offiziell in Dienst gestellt. Fein geht es an Bord zu – die Württemberger haben, wie es Tradition ist, Besatzungsmitglieder von der kaiserlichen Marine rekrutiert. Graf Ferdinand von Zeppelin zum Beispiel feiert am 8. Juli 1913 gemeinsam mit der königlichen Familie und seinen Mitarbeitern auf der "Hohentwiel" seinen 75. Geburtstag. Der sächsische König Friedrich August III. weilt am 12. August des selben Jahres auf Einladung des württembergischen Monarchen mehrere Stunden zu einer Bodensee-Rundfahrt auf der "Hohentwiel".
Wie es "drunter" aussieht, bekommen nur wenige mit: Bei 60 Grad Celsius unter Deck schaufeln die beiden Heizer Kohlen in die Flammrohre – allein auf einer Fahrt von Bregenz nach Konstanz 6,5 Tonnen. Der Arbeitstag auf der "Hohentwiel" ist lang: Er beginnt um 5.20 Uhr und endet um 20 Uhr.
Als am 1. August 1914 mit der Kriegs-erklärung Österreich-Ungarns an Serbien der Erste Weltkrieg ausbricht, beginnt das Ende der höfischen Herrlichkeit der württembergischen Bodenseeflotte. Rauf runter, rauf runter – in den Folgejahrzehnten versieht die "Hohentwiel" treu ihren Dienst auf dem Bodensee. Beim Seenachtsfest in Konstanz am 4. August 1962 geht der "Hohentwiel" dann im wahrsten Sinne des Wortes der Dampf aus: Das zuvor gerissene und notdürftig geschweißte Gussgehäuse des Hauptanfahrventils an der Dampfmaschine bricht.
Der Bregenzer Segelclub schnappt das Schiff einem Schrotthändler weg, nutzt es in den folgenden Jahren als Clubheim. Im Sommer 1984 ist damit Schluss: Die Behörden ordnen aus Sicherheits- und Hygienegründen die Schließung des Restaurationsbetriebs an.
Nach mehreren erfolglosen Anläufen setzt eine beispiellose Rettungsaktion ein: Die Internationale Bodensee Konferenz beschließt am 18. November 1983, die Hohentwiel zum Preis von 10 000 DM zu kaufen und die Vorarbeiten für eine Renovierung in Höhe von 4200 DM zu übernehmen. Dem Verein "Internationales Bodensee-Schifffahrtsmuseum", der am 4. Oktober 1984 gegründet wird, soll damit der Start erleichtert werden. Mit Klaus Henninger, dem früheren, mittlerweile verstorbenen Lindauer Landrat als Präsident an der Spitze und Reinhard E. Kloser, Vorstandsmitglied, Schiffsingenieur und später Kapitän der "Hohentwiel", findet sich ein Team, das alles gibt, um den Schaufelraddampfer wieder wie zu Königs Zeiten über den Bodensee fahren zu lassen.
Henninger und Kloser schaffen es, für die aufwendige Restaurierung 186 Firmen und Persönlichkeiten an Bord zu bekommen. Weil die Pläne für die "Hohentwiel" verschollen scheinen, orientiert man sich an den noch erhaltenen des Schwesterschiffs "Friedrichshafen". Für den Innenausbau beispielsweise spannt Holztechniker Heinrich Auer gemeinsam mit einem Mitarbeiter von Fensterunterkante zu Fensterunterkante mit Hilfe von Schnüren eine gedachte Ebene. Ein Netz entsteht, durch das eine gerade Linie in Längsrichtung des Raumes verläuft. Diese Linie dient als Referenz für die Maße, welche die beiden nehmen, auf Papier übertragen und mit einer Polaroidkamera dokumentieren. Der Einsatz einer Wasserwaage wäre sinnlos gewesen, da der Raum gebogen ist und es keine gerade Ebene gibt.
Nach jahrelangen, nervenzehrenden Arbeiten – immer wieder hängt das Projekt am seidenen Faden, weil kein Geld mehr da ist –, hat die "Hohentwiel" am 17. Mai 1990 ihre zweite Jungfernfahrt, fährt fortan unter österreichischer Flagge. Umgerechnet rund 2,4 Millionen Euro (4,8 Millionen Mark), ein Viertel des Betrags, der laut Projektleiter Reinhard E. Kloser angefallen wäre, hat die Restaurierung gekostet.
Die Faszination für die "Hohentwiel" hat in all den Jahren nach ihrer zweiten Jungfernfahrt zugenommen: Rund 2000 Menschen aus Deutschland, Österreich, der Schweiz und anderen Ländern sind Mitglieder im Verein "Internationales Bodensee-Schifffahrtsmuseum", dem der Schaufelraddampfer gehört. Nicht nur Vereinspräsident Lothar Wölfle, Landrat des Bodenseekreises, ist stolz darauf, dass die "Hohentwiel" als die Botschafterin des Bodensees gilt: Zum 100. Geburtstag des einzigartigen Schiffes haben auch der österreichische und der Schweizer Bundespräsident sowie der Präsident des Bundesrats der Bundesrepublik Deutschland der "Hohentwiel" noch viele Jahre im Namen der grenzüberschreitenden Freundschaft gewünscht. Und: Bei der Recherche für ein Buch zum 100. Geburtstag des Schaufelraddampfers (siehe Buchtipp rechts und Hintergrundbericht "Aufwendige Spurensuche", S. 26) wurden die verschollen geglaubten Originalpläne entdeckt.
"Anfang der 1980er-Jahre habe ich von Bord meiner Segeljolle aus den desolaten Zustand der ,Hohentwiel‘ gesehen", sagt Horst Poralla, Präsident des Vereins Internationales Bodensee-Schifffahrtsmuseum, Sektion Deutschland. "Heute, nach der originalgetreuen Restaurierung, fügt sich alles zu einem authentischen Ganzen. Eine Fahrt mit dem Schaufelraddampfer ist wie eine faszinierende Zeitreise.
Unser gemeinsames Ziel ist es, dieses Schiffsdenkmal erlebbar zu machen und für nachfolgende Generationen zu erhalten." Und sein Kollege Hans Kubat, Präsident der Schweizer Sektion, fügt an: "Ich bin immer wieder davon angetan, was die Fahrgäste beim Betreten des Schiffes begeistert: Das Messing poliert, die Ausstattung edel. Die Dampfmaschine wuchtig und ästhetisch zugleich – ein Wunderwerk 100-jähriger Technologie. Keine Hektik, stattdessen noble Gelassenheit. Die Fahrt wird zum Ziel – alles andere ist Beilage!"
Wie viele Kilometer die "Hohentwiel" in ihrem ersten Leben insgesamt zurückgelegt hat, ist nicht bekannt. In ihrem zweiten Leben hat sie es bisher nach Angaben von Kapitän Adolf Konstatzky auf 267 000 Kilometer gebracht – unfallfrei und ohne technischen Defekt – und damit rein rechnerisch etwa 6,5 Mal die Erde umrundet. Weltweit hat der letzte Schaufelraddampfer auf dem Bodensee Fans, die mit ihm 2013 seinen 100. Geburtstag gefeiert haben und in diesem Jahr seinen 25. Geburtstag feiern. Sie alle hoffen, dass dieses zweite Leben des faszinierenden Schaufelraddampfers unendlich ist.
Weitere Information unter www.hohentwiel.com bzw. direkt beim Betreiber des Schiffes, der Hohentwiel-Schifffahrtsgesellschaft m.b.H.: office@hohentwiel.com