Christian Tiedt
· 12.10.2015
Seit 150 Jahren hilft die Deutsche Gesellschaft zur Rettung Schiffbrüchiger in Seenot. Wir erzählen die Geschichte der kleinen Einheiten – der Motor- und Seenotrettungsboote entlang der Küsten.
„Vor jetzt einem Jahre ist ein Verein ins Leben getreten, der unter die besten Errungenschaften unserer Tage zu zählen ist und sicher einer reichen Zukunft entgegengeht. Es ist die deutsche Gesellschaft zur Rettung Schiffbrüchiger, die am 29. Mai des verflossenen Jahres zu Kiel begründet wurde“.
So rühmt die erste große deutsche Illustrierte – ein Blatt mit dem züchtigen Namen "Gartenlaube" – das noch junge Seenotrettungswerk im Mai 1866, kaum ein Jahr nach seiner Gründung. Mit ehrlicher Begeisterung zählt man das bereits Erreichte auf: Dreizehn Bezirksvereine mit Rettungsstationen und -booten seien an Nord- und Ostsee eingerichtet worden, von Borkum bis nach Pillau – alles andere als eine Selbstverständlichkeit, schließlich umfasst das Gebiet zu damaliger Zeit noch eine Handvoll mehr oder weniger souveräner Staaten, vom Großherzogtum Oldenburg bis zum Königreich Preußen.
Doch der Autor wird mit seiner Einschätzung recht behalten: Denn die "reiche Zukunft" der Seenotretter hat damals gerade erst begonnen. Sie dauert bis heute an. Auch wenn sich die Technik geändert hat, ist die Aufgabe der Männer und Frauen der DGzRS auch nach 150 Jahren noch dieselbe: Helfen in der Not.
Mit gehöriger Skepsis blicken die Seeleute auf die frühen Verbrennungsmotoren: Schwachbrüstig und dennoch laut, störanfällig und im wahrsten Sinne brandgefährlich kommen sie daher – alles andere also als heilbringende Zaubermaschinen. Was nützen schließlich ein paar Pferdestärken, wenn einem das ganze Boot plötzlich um die Ohren fliegt? Da verlässt man sich lieber auf Bewährtes: Muskelkraft und Wind.
Doch da man bei auflandigem Sturm unter Segeln kaum durch die Brandung kommt oder sich von einer Leeküste freikreuzen kann, legen sich die Rettungsmänner in den ersten Jahrzehnten der DGzRS-Geschichte fast immer in die Riemen. Wird Alarm ausgelöst, wuchten kräftige Kaltblüter das Gespann mit dem 30 Fuß langen "deutschen Normal-Rettungsboot" über Dünen und Strand bis in die Wellen.
Die Männer sind schon an Bord, in schwerem Ölzeug und mit Schwimmwesten aus Kork. Gegen den "furchtbarsten Aufruhr des Elements", gefrierende Gischt, Hagel und Schnee, schützt sonst nur der tief nach unten gezogene Südwester auf dem Kopf, denn die Boote sind ungedeckt, also offen. Sobald das schwere Holzboot aufschwimmt, greift der Vormann die Pinne, und mit vereintem Pullen geht es dem Ziel entgegen.
Erst als die Motorentechnik soweit gereift ist, dass die Stärken die Schwächen überwiegen, macht man sich bei der DGzRS an die Umrüstung. Eifrigster Fürsprecher dieses Schrittes ist der Bremer Gregor Pfeifer, der ein Vierteljahrhundert lang für die Gesellschaft als "Oberinspector" tätig war. Da ist es eine passende Würdigung, dass nach dem nur kurz zuvor Verstorbenen im Jahr 1911 auch das erste Motorrettungsboot der DGzRS benannt wird: die "Oberinspector Pfeifer".
Mit der Indienststellung des robusten Neubaus beginnt eine neue Zeitrechnung für die Seenotretter: Schon zwei Monate später wird der erste Einsatz auf der Kieler Förde vor Laboe gefahren, bis Jahresende hat man zwölf Menschen aus Seenot gerettet. "Das Boot und der Motor bewährten sich in der schweren See vorzüglich", attestierte der Vormann in einem Einsatzbericht. Das überzeugt – und man beginnt, die Flotte umzurüsten.
Nach den ersten Motorrettungsbooten wie der "Oberinspector Pfeifer" gewinnt die technische Entwicklung zu leistungsfähigeren Einheiten nach dem Ersten Weltkrieg zunehmend an Geschwindigkeit. Beispielhaft dafür steht die Rettungsstation auf Borkum inmitten der Emsmündung mit ihren Riffen und Sänden. Nach dem letzten Einsatz eines Ruderrettungsbootes 1926 wird das MRB "Hindenburg" auf der Insel stationiert, es verfügt bereits über einen Stahlrumpf und Doppelschraubenantrieb. 1932 folgt die größere "August Nebelthau", die wiederum 1937 von einer zweiten neuen "Hindenburg" abgelöst wird.
Mit einer Länge von 16 Metern, 200 PS Maschinenleistung und einem erstmals vollständig geschlossenen Ruderhaus weit achtern gilt das MRB bei seiner Indienststellung als fortschrittlichstes und leistungsstärkstes Boot der Flotte. Und dennoch: Auf einem Rettungseinsatz im Kriegsjahr 1941 geht die "Hindenburg" mit ihrer gesamten sechsköpfigen Besatzung aus bis heute unbekannten Gründen verloren. Ob tatsächlich eine Treibmine verantwortlich ist, wird nie geklärt.
Trotzdem sollen die Boote noch sicherer werden. Dazu gehört ein erhöhter Aufbau mit Fahrstand für bessere Sicht und zusätzlichen Schutz vor überkommenden Wellen. Nach diesen Prinzipien konstruiert man auch die "Borkum", die der Station seit ihrem Bau noch zu Kriegszeiten zugeteilt ist, und der am Abend des 28. November 1951 ihr größter Einsatz bevorsteht:
An diesem Tag zieht ein schwerer Nordweststurm über die Deutsche Bucht. Es ist bereits dunkel, als die Seenotfunkstelle auf der Insel einen Notruf auffängt: Die englische "Teeswood" ist nordwestlich der Tonne "Mövensteert-Nord" aufgelaufen. Schon wenige Minuten später rundet die "Borkum" mit drei Männern an Bord in voller Fahrt die Molenköpfe, mitten hinein in peitschende Hagelböen, um sich gegen Sturm und Flutstrom zu stemmen.
Bald ist der Havarist erreicht, Notraketen erhellen den Himmel gespenstisch. Da meldet die "Teeswood": "Schiff bricht durch!" Die Nordsee zeigte keine Gnade mit dem 60 Meter langen Dampfer, also muss es ganz schnell gehen. Sein Heck ist der Gewalt der Brecher voll ausgesetzt, immer wieder verschwindet es in Glocken aufbrandender Gischt. Die Besatzung drängt sich auf Brücke und Back zusammen.
Mehrere Anläufe benötigt die "Borkum", um längsseits zu kommen; nirgendwo gibt es Schutz vor Wind und Wellen, immer wieder wird sie hart gegen die Bordwand des Frachters geworfen. Doch die Beharrlichkeit der Seenotretter wird belohnt: Mann für Mann wagt den Sprung von der "Teeswood" auf das unter ihm schlingernde Deck – alle bis auf zwei, die über Bord gespült und nicht mehr gefunden werden. Doch dreizehn Seeleute werden so vor dem sicheren Tod bewahrt.