Dieter Wanke
· 28.08.2019
Fast wie in einer Zeitkapsel kommen auf „Gudrun“ wahre Raritäten zum Vorschein. An dem seltenen Fundstück gab es nie signifikante Veränderungen
Gelegentlich geraten einst geliebte Objekte in Vergessenheit, um dann nach Jahrzehnten aus ihrem Dornröschenschlaf geweckt zu werden. Die Motoryacht "Gudrun" ist so ein seltenes Stück Zeitgeschichte.
Der Fund ist kein Zufall. Als Joachim Siebold bei einem tragischen Unfall auf einem Arbeitsboot ums Leben kommt, erinnert sich sein Nachbar Rolf Gersch daran, dass in dem Bootsschuppen am Rhein, neben seiner Steganlage in Mainz-Kastell seit den 1980er Jahren noch ein Erbstück des Unfallopfers eingelagert ist.
Nach einer ersten Besichtigung reift die Idee, die völlig eingestaubte Yacht zu retten. Mit den Verwaltern des Nachlasses ist sich Gersch schnell einig, und so geht „Gudrun" Anfang 2016 in seine Hand über.
Das Boot gehörte einst Heinz Siebold, dem Vater des Verunglückten. Ein erfolgreicher Unternehmer aus Hanau. Das Leben auf dem Wasser zog ihn an. Es muss um 1965 gewesen sein, als sein Entschluss reift, eine Motoryacht für längere Bordaufenthalte bauen zu lassen, denn große Touren in andere Länder waren Teil seines Traums.
Um möglichst komfortabel zu Reisen, hat er die 15-Meter-Grenze ausgeschöpft. Umgesetzt hat den Plan die Jachtwerf Gebrüder Visch im niederländischen Warmond. Der Betrieb ist damals bekannt für solide Stahlkonstruktionen mit Holzaufbauten.
So bekannt, dass sich 1971 kein geringerer als Rainier von Monaco von der Werft seinen 24 Meter langen Familienkreuzer "Stalca" bauen lässt. Doch zuerst kommt die Baunummer 143 von Siebold an die Reihe und die sieht 1966 ihrer Erstwasserung entgegen.
Werftbesuche während des Baus sind penibel mit der Kamera dokumentiert. Die Fotos findet man im Familienalbum, das ebenfalls erhalten ist. Sogar den Betrieb gibt es noch, aber irgendwann war Schluss mit dem Bootsbau. Aus der Werft wird die Marina Visch Watersport, die 2008 mit der Marina 't Fort zur heutigen Fort Marina in Warmond fusioniert.
Die neue Anschaffung hat der Eigner intensiv genutzt. Er ist mit seiner Familie überwiegend in Nordeuropa unterwegs. Aber nicht nur Binnengewässer ziehen den Hobbykapitän an, auch in der Nord- und Ostsee sind seine Ziele. Sicher ein Grund, warum die Yacht mit zwei kräftigen und damals hochmodernen 7,8-Liter-V6-Dieseln von GMC ausgerüstet ist, die mit je 125 kW (170 PS) ihre Kraft mittels Wellenantrieben ins Wasser bringen und über die nötigen Reserven verfügen, um sie selbst in Küstengewässern stets sicher betreiben zu können.
Plaketten und Pokale zeugen von unzähligen Stern- und Langfahrten in den 1960er und 1970er Jahren. Fast 3000 Kilometer sind während eines Törns, der bis nach Schweden führt, alleine 1972 zurückgelegt worden, und solche Reisen sind keineswegs ein Einzelfall.
In Malmö, Kopenhagen, Helgoland, Norderney und Terschelling hat das Boot schon angelegt. Um 1980 etwa versagt die Backbordmaschine bei einer Ausfahrt ihren Dienst. "Gudrun" macht daraufhin ein letztes Mal in ihrem Bootsschuppen auf dem Rhein fest. 3274 Motorstunden zeigt der antike Betriebsstundenzähler des defekten Motors auch heute noch an.
Der Eigner, inzwischen auch in die Jahre gekommen, kommt nicht mehr zur Reparatur und verstirbt einige Jahre später. Sein Sohn, der die Yacht erbt, hat wenig Interesse, das Objekt wieder flott zu machen. Also bleibt sie kaum beachtet stehen und staubt ein.
Erst nachdem Gersch den Fund übernommen hat, kommt wieder Bewegung in die Sache. Eigentlich mit dem Ziel sich bald damit auf den Weg zu machen und gemeinsam mit seiner Frau Patty den Ruhestand mit ähnlich intensiven Ausfahrten zu genießen, wie sie schon der Erstbesitzer gemacht hat. Also legen die beiden los und putzen auf Teufel komm raus den Staub von dem alten Schätzchen.
Die Putzerei nimmt insgesamt ein ganzes Jahr in Anspruch, aber es zeigt sich schnell, dass es sich überwiegend um Dreck oder leichte Korrosion an den Metallteilen handelt. Wirkliche Defekte oder irreparable Schäden an den Oberflächen treten nach dem Entfernen der Patina kaum zum Vorschein.
Die Polster zeigen wenig Verschleiß, Schränke und Scharniere sind fast neuwertig. Das Teak auf dem Deck ist makellos. Fast wie in einer Zeitkapsel kommen wahre Raritäten zum Vorschein.
Das komplette Navigationszubehör, Seekarten, Revierhandbücher und Instrumente sind unversehrt vorhanden. Auch die gesamte Bordelektronik inklusive Funkgerät ist im Original erhalten. Selbst die Kopfhörer hängen im Navigationsschrank.
Nur vom Rufzeichen DA 6345, das auf dem Gerät klebt, hat schon lange niemand mehr etwas gehört. Beim Durchstöbern der Stauräume bewegt man sich wie in einem kleinen maritimen Museum. Ein Flaggenschrank mit vollständiger Bestückung ist beeindruckend. Wo gibt’s so etwas heute noch? Eine filigrane Bordbar mit Bowle-Set und Alu-Bierbechern, ganz im Stil der 1960er, fasziniert. Schnitzereien zieren die Kabinen. Sogar der original Staubsauger – Bestandteil der Grundausstattung – ist noch da und voll funktionsfähig.
Sehr interessant ist außerdem das Bad mit seltener Kurzbadewanne. Ein Luxus, den man auf modernen Yachten dieser Größe vergeblich sucht.
Alle technischen Komponenten werden auf Funktionstüchtigkeit geprüft. Der Gesamtzustand entpuppt sich auch diesbezüglich als erstaunlich gut. Etwas Patina ist zwar an einigen Teilen sichtbar, aber gerade das macht ja den Charme eines solchen Bootes aus.
Die Kurbelwelle der Steuerbordmaschine lässt sich drehen, das Aggregat sollte also ohne großen Reparaturaufwand wieder in Betrieb zu nehmen sein. Doch die Backbordmaschine ist fest und macht Rolf Gersch etwas Sorgen. Ersatzteile für den von Crusader marinisierten GMC Toro-Flow DH478-V6-Diesel in Europa aufzutreiben, wird nicht ganz einfach sein. In den USA sollten zwar einige Exemplare in alten Lastwagen, Bau- oder Landmaschinen schlummern – diese muss man aber erst einmal finden.
Nun stellt eine Motorüberholung einen ausgewiesenen Motorenfachmann wie Gersch nicht vor unlösbare Probleme, aber der versierte Schrauber hat noch viele weitere Schätze in seiner Sammlung, darunter einige historische Rennboote und diverse Fahrzeuge, die ebenfalls gepflegt und gewartet werden wollen.
Nach reiflicher Überlegung entscheiden sich die neuen Eigner ihr seltenes Fundstück doch wieder abzugeben. Käufer finden sich zwar schnell, aber auch die haben ihre verfügbare Freizeit und Energie für dieses Projekt wohl überschätzt.
Deshalb ist "Gudrun" inzwischen wieder im Angebot und wartet erneut auf einen Liebhaber, der sie in einen fahrtüchtigen Zustand versetzt.
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