„Hilfe, wir sinken!“

Rainer Bergmann

 · 01.08.2014

„Hilfe, wir sinken!“Foto: Rainer Bergmann / Feuerwehr Neuhaus
Untergang und Bergung der „Musta Kissa“ vor der Oste-Mündung.

Was, wenn es wirklich ernst wird? Rainer Bergmann schildert den Untergang seines Motorbootes „Musta Kissa“ – und die damit verbundenen Folgen.

Untergang und Bergung der „Musta Kissa“ vor der Oste-Mündung.
Foto: Rainer Bergmann / Feuerwehr Neuhaus

Wir – das sind nur wenige, nämlich meine Frau und ich – wollen endlich ein wenig Sommer nachholen, das heißt Urlaubstage mit unserer "Musta Kissa". Das ursprünglich angedachte Ziel Lüneburg, die Elbe und Ilmenau aufwärts haben wir kurzfristig mit "elbabwärts Richtung Oste" getauscht.

Unterwegs zur Oste-Mündung

Für die weniger "Geografiefesten": Die Oste ist ein linker, etwa 100 km langer, schiffbarer Elbe-Nebenfluss, dessen breiter Mündungstrichter sich kurz vor Cuxhaven und der Nordsee ausdehnt und langsam zum offenen Meer wird. Die gewaltige Tide, also Ebbe und Flut, die hier herrscht, geht mit einer Strömung einher, die selbst Einheimischen Respekt einflößt.So verlangt die Ansteuerung besondere Aufmerksamkeit; denn das Oste-Fahrwasser zwischen Buhnen, Sandbänken und flachen Uferzonen ist zwar ausgetonnt, aber auch eng. Nun, ich kenne das Revier von früheren Törns. Daher plante ich mit dem Tidenkalender, was Folgendes bedeutet: Ablegen mit Beginn des ablaufenden Wassers im Heimathafen Grünendeich, um mit dem Tidenstrom nach etwa vier Stunden die Oste-Mündung zu erreichen.

   	Untergang und Bergung der „Musta Kissa“ vor der Oste-Mündung.
Foto: Rainer Bergmann / Feuerwehr Neuhaus
Untergang und Bergung der „Musta Kissa“ vor der Oste-Mündung.

Doch nicht selten werden Pläne zur Makulatur, wie sich bald herausstellen sollte. Auf halber Strecke zeigen sich am Horizont unvorhergesehen tintenschwarze Unwetter-Gebirge, ein Gruß vom Nordatlantik. Und prompt reagiert die Elbe auf den einsetzenden Starkwind mit Regen-böen zunehmend ruppig. Das Vorschiff taucht tief in die Wellen, überkommendes Wasser hüllt das Boot in eine Gischtwolke, die die Sicht mitunter auf null bringt.
Als ich die Fahrgeschwindigkeit drossele, läuft die Steuerbord-Maschine plötzlich unrund, beruhigt sich jedoch zwischendurch wieder – bis zur Richtungsänderung in die Oste-Mündung.

Abgelenkt durch die stotternde Maschine

Als ich durch den stotternden Diesel und gleichzeitige Beobachtung der Instrumente kurz abgelenkt bin, versetzt der bereits heftig landeinwärts auflaufende Tidenstrom die "Musta Kissa" im engen Fahrwasser nach Backbord. Die frontale Kollision der voraus auftauchenden Fahrwassertonne lässt sich nur noch durch ein hartes Steuerbord-Manöver vermeiden. Glaube ich.

   	Untergang und Bergung der „Musta Kissa“ vor der Oste-Mündung.
Foto: Rainer Bergmann / Feuerwehr Neuhaus
Untergang und Bergung der „Musta Kissa“ vor der Oste-Mündung.

Doch weil sich Theorie und Praxis nicht zwangsläufig in Einklang bringen lassen, erwischt das Unterwasserschiff in Spiegelhöhe die Fahrwassertonne in dem Augenblick, als ich sicher bin, vorbei zu sein. Außer einem dumpfen Geräusch passiert zunächst nichts. Die Motoren laufen, das Boot fährt weiterhin sauber geradeaus. Doch Fahrwassertonne und deren Ankerkette haben den Rumpf großflächig auf-gerissen, was später nach der Bergung sichtbar wird. Dokumentiert auf den beiden Fotos auf Seite 20. Der Holzrumpf eines Oldtimers, dessen Planken in über fünfzig Jahren nicht gerade an Festigkeit gewonnen haben, hat in einem solchen Fall gegen eine mächtige Stahltonne eben keine Chance.

Kein Zweifel: Wir gehen unter!

Was dann passiert, zieht immer wieder als Zeitraffer an uns vorbei: Meine Frau stürzt, durch die Kollision aufgeschreckt, aus der Kajüte, in der bereits Wasser steht. Und die ersten aufschwimmenden Lukendeckel im Cockpit lassen keinen Zweifel mehr aufkommen: Wir gehen unter!

Geistesgegenwärtig läuft meine Frau zurück in die Kajüte, greift sich ihre Hand-tasche mit dem Mobiltelefon und turnt aufs vordere Kajütdach. Dort ruft sie – sie weiß zum Glück, dass die in Deutschland an Land gültige Notrufnummer auch für den Notfall auf dem Wasser* gilt – die 112 an, wo sich umgehend die Einsatzleitstelle Bremerhaven meldet und Hilfe avisiert.

Meine kühne Idee, währenddessen ins Cockpit einströmendes Wasser außenbords zu schöpfen, erweist sich eher als Versuch, der Wirklichkeit zu entfliehen. Widerstrebend, bereits bis zum Bauch im Wasser stehend, begreife ich, dass hier nichts mehr zu retten ist. Auch die eingebauten Pumpen aus der Berufsschifffahrt sind keine Lebensversicherung, wenn die Elektrik ausfällt. Und die beiden Motoren sind abgesoffen und verstummt – das einströmende Wasser übernimmt gurgelnd das Kommando.

Der Proviant schwimmt vorbei

Als Erdbeeren, Salat, Kartoffeln und anderer für den Törn gebunkerter Küchenproviant die Kajüte verlassen und im Cockpit an mir vorbeidriften, dämmert mir endgültig, dass außer uns "zwei Figuren" nichts mehr zu retten bleibt. Mit den beiden Automatik-Schwimmwesten geselle ich mich zu meiner Frau aufs Kajütdach, um (immer noch) ungläubig das Vorschiff langsam versinken zu sehen.

Von der Kollision bis zu diesem Zeitpunkt verstreicht gerade mal eine unendlich scheinende Viertelstunde. Eine Viertelstunde, die unzählige mit der Restaurierung meines Oldtimers verbundene Arbeitsstunden, die man schon fast mit dem Begriff "Aufopferung" belegen kann, nach 25 Jahren einfach zunichte macht.(Rückblende für Jüngere: In einer acht-teiligen Serie habe ich 1987/88 über die Restaurierung meiner ChrisCraft Seaskiff 32 berichtet.)

Außerdem rächt sich meine Bequemlichkeit. 35 Jahre lang lief ich niemals ohne Beiboot aus, nach dem Motto "Das Schlauchboot taugt im Notfall als Rettungsinsel". Diesmal war ich schlicht zu faul, vor Fahrtbeginn mein Zodiac aufzupumpen und mitzunehmen. Nun ragen die leeren Davits symbolhaft wie Galgen auf dem Achterdeck.

Blaulicht am düsteren Horizont

Inzwischen naht nach einem zweiten telefonischen Notruf am düsteren Horizont Hilfe. Zunächst nur als blinkendes Blaulicht, zu dem, wie sich beim Näherkommen herausstellt, ein kleines, offenes Aluminiumboot gehört. Besetzt mit sechs Feuerwehrleuten aus Osten, während über uns bereits ein Hubschrauber der Bundespolizei seine Runden dreht.

Ein absolut glücklicher Zufall an diesem für uns verhängnisvollen Samstag. Weil die Feuerwehren einiger Gemeinden in diesem Gebiet Ausbildungsfahrten angesetzt haben, ohne zu ahnen, dass die Übungstheorie zur Notfallpraxis wird.

Was dann passierte, las man bereits anderntags in der "Niederelbe Zeitung" Cuxhaven: "Die Leitstelle Bremerhaven alarmierte nach Eingang der Notfallmeldung die Feuerwehren in Neuhaus und Belum. Außerdem setzte die Seenotleitung Bremen den in Cuxhaven stationierten Seenotkreuzer ,Hermann Helms‘ in Bewegung. Da aber die Feuerwehrleute aus Osten mit ihrem Boot zwischen Sperrwerk und Oste-Mündung fuhren, waren sie die Ersten bei der Motoryacht, die zu diesem Zeitpunkt bereits zu zwei Dritteln unter Wasser lag. Es gelang, das Paar von Bord zu bergen. Ortsbrandmeister Dirk Klintworth lobte: Die beiden älteren Leute verhielten sich ganz ruhig und besonnen." Soweit die Zeitung.

Wie kommen wir nach Hause?

Die beiden älteren, klitschnassen Leute, in wärmende Decken gehüllt zurück in der Wirklichkeit, sinnierten inzwischen über den besten Weg, wieder zurück nach Hause zu kommen: Bahn oder Taxi? Die Frage beantwortet umgehend die Besatzung des am Sperrwerk wartenden DRK-Rettungswagens: "Sie kommen mit." Damit verschwinden wir für die nächsten anderthalb Stunden "zur Beobachtung" im mobilen "Krankenhaus".

Dort klärt uns Mayk Tessmer unter anderem über unterschiedlichste Schockzustände und deren Folgen auf. Zum Glück stellen die sich nicht ein, auch wenn die Pulsanzeige auf einem riesigen Monitor mitunter auf über 200 klettert. – Die Rundum-Versorgung ist damit nicht beendet. Der Rettungswagen bringt uns in einstündiger Fahrt noch nach Hemmoor, wo man uns aus einer Altkleidersammlung mit passenden warmen Klamotten ausrüstet, ehe wir mit einem Taxi nach Stade zurückkehren.

Ein Trecker hilft bei der Bergung

Parallel läuft auf der Oste die schwierige Bergung der inzwischen gesunkenen "Musta Kissa". Frank Strohsahl, Ortsbrandmeister in Neuhaus, erzählt mir Tage später Einzelheiten. Weil die Feuerwehr von sich aus nicht tätig werden darf, war der erste Ansprechpartner die Wasserschutzpolizei in Cuxhaven. Dort gibt es jedoch folgende Antwort: "Unser Polizeiboot liegt in Büsum wegen Niedrigwasser fest. Ansonsten haben wir zurzeit kein Personal zur Verfügung."

Inzwischen schickte das Wasser- und Schifffahrtsamt (WSA) Cuxhaven das Arbeitsschiff "Mittelgrund", das jedoch mit dem 3-t-Geschirr nichts ausrichten konnte. Erst dem Tochterboot des Rettungskreuzers "Hermann Helms" gelang es, gemeinsam mit zwei Feuerwehrbooten und 200-PS-Treckerunterstützung des Belumer Landwirts Frank von der Heide von Land aus, den Havaristen an die Wattkante zu ziehen und mit Tauen provisorisch zu sichern.

Welche Kosten kommen auf uns zu?

Jeder kann sich vorstellen, dass für mich die Stresssituation ihren Fortgang nahm, zumal mir das WSA sofort schriftlich mitteilte: "Die notdürftig gesicherte Yacht stellt weiterhin ein Sicherheitsrisiko dar und muss aus Gründen der Sicherheit und Leichtigkeit des Schiffsverkehrs geborgen werden. Es besteht Eilbedürftigkeit ... ,und der Schiffseigner ist gesamtschuldnerisch verpflichtet, entsprechende Hindernisse zu entfernen."
Nach solchen Nachrichten beginnt das Gehirn zu rattern. Nun rollen Fragen über Fragen wie schwere Brecher durch dein Gefühlsleben. Was muss ich tun, welche Kosten kommen auf mich zu?

Denn wie sich später herausstellt, schlägt allein der Feuerwehreinsatz mit 4453,76 Euro zu Buche.
Ich denke an meine Bootsversicherung, die ich vor gut 25 Jahren bei Pantaenius in Hamburg abschloss. Allerdings habe ich mich noch nie damit beschäftigt. Kann die mir überhaupt helfen und wie?

Sie kann. Und damit beginnt eine zweiwöchige Rallye durch die bunte Welt der "Nach-Rettung". Telefonate, Mails, Briefe, Autofahrten. Unter anderem zum Bauhof außerhalb Neuhaus, wo die Feuerwehr alles, was sich schwimmend aus der untergegangenen Yacht davongemacht hat, zusammengetragen und gestapelt hat: Polsterteile, Cockpittisch, Rettungsring und die mit Lebensmitteln voll gestopfte Waeco-Tiefkühlbox, von der die Feuerwehr glaubte, ein Chemieklo "gerettet" zu haben.

Im Schlick des Belumer Außenwatts

Leider ist nur einer der schönen Deckstühle da, sein Kollege entwischte unentdeckt und driftet vermutlich noch immer im Tidestrom der Elbe. – Bei einer zweiten Fahrt wird selbst der Bürgermeister aus Neuhaus in das "Rettungsgeschehen" eingespannt. Georg Martens legt die zwei Kilometer zum außerhalb gelegenen Bauhof auf dem Fahrrad zurück, um das verschlossene Tor extra für uns aufzuschließen.

Nach Glückstadt ging es auch – zur dortigen Yachtwerft, wo die "Musta Kissa" aufgebockt im Hinterhof auf Schadenprüfung wartete. Doch zunächst erreiche ich nun über die Notruf-Telefonnummer meiner Versicherung Kim Wiese, die in den folgenden zwei Wochen wie eine rettende Najade über uns schwebt und direkte Hilfe verspricht.

Die kommt noch am selben Abend per Telefon von Eico Ehrsam, dem Bergungsspezialisten von Marine Claims Service (MSC), einer Pantaenius-Tochter. Er fährt bereits am Sonntag, einen Tag nach dem Untergang unseres Bootes, an den Oste-Außendeich – nur über Wiesen, Gräben und Kuhweiden mit dem Geländewagen zu erreichen –, um die Bergungsmöglichkeiten auszuloten.

In die Glückstädter Yachtwerft

Seine Nachricht ist kurz und schmerzvoll: "Das Loch im Rumpf lässt sich nicht provisorisch abdichten, um das Boot abzuschleppen. Morgen kommt das Bergungsschiff TK 8 der Bergungsfirma Taucher Knoth aus Hamburg. Wegen der Tide haben wir nur morgen Nachmittag ein schmales Zeitfenster, um die "Musta Kissa" auf den Haken zu nehmen. Wenn Sie wollen, können Sie dabei sein."

Bin ich. Mit Gummistiefeln, Regenzeug und Kamera finde ich mich bereits zwischen Jungrindern und Seevögeln im Schlick des Belumer Außenwatts ein. Meine "Musta Kissa", die ich ein Vierteljahrhundert lang mit unzähligen Arbeitsstunden zum sehenswerten Oldtimer hochpäppelte, ist durch die vorangegangenen Bergungsarbeiten in einem erbärmlichen Zustand. Ich bin den Tränen nahe.

Nun, die Hamburger Bergungsprofis schaffen es letztlich noch rechtzeitig, in Zusammenarbeit mit Eico Ehrsam und seinem Kollegen Ole Pietschke die Yacht aus dem Schlick zu befreien und an Bord der TK 8 zu heben. Fahrtziel: die Glückstadter Yachtwerft, wo sie gegen Mitternacht eintrifft.

„Sie sind vollkaskoversichert“

Trotz aller Zusagen beschäftigt mich immer wieder nur die eine Frage: Muss ich die aufwendige Bergungsaktion bezahlen? – "Nein", beruhigt mich tags darauf Kim Wiese: "Sie sind vollkaskoversichert, das übernehmen wir." Klingt gut. Doch Restzweifel bleiben dennoch, wenn man sich allein vorstellt, dass ein Bergungsschiff im nahezu 90 Kilometer entfernten Hamburg angefordert wird.

Doch Zeit zu schwerwiegenden Überlegungen bleibt nicht. Als Nächstes steht der Termin in der Yachtwerft Glückstadt auf dem Kalender, Thema "Schadensfeststellung". – Letztlich entscheidend für die Auszahlung einer Versicherungssumme.

Totalschaden

Meine Frau und ich finden unser Boot aufgebockt im Werfthof. Total ausgeräumt. Was beim Untergang nicht wegschwamm, liegt in großen Drahtcontainern in der angrenzenden Halle. Von der Werft versammeln sich die entsprechenden Spezialisten an Bord und umreißen die Reparatur-Schätzwerte. Rumpf-Reparatur einschließlich Lackierung 22 000 Euro, Motoren 25 000 Euro, Elektrik 35 000 Euro. Eico Ehrsams trockener Kurzkommentar lässt nicht lange auf sich warten: "Totalschaden".

Zur Erklärung: In unserem Fall spricht man von Totalschaden, wenn die Kosten einer Wiederherstellung die abgeschlossene Versicherungssumme (fachlich: feste Taxe) übersteigen. Im Gegensatz dazu kann man ein Boot auch zum Zeitwert versichern.Bleibt für mich noch die Frage "Wohin mit dem Wrack?" zu klären. Pantaenius hat auch darauf die passende Antwort: "Wir lassen es verschrotten."

Doch noch eine glückliche Wende

Dann jedoch die Wende: Der Hafenmeister von Elmshorn will die "Musta Kissa" wieder flottmachen. Für einen "Anstandseuro" wechselt sie den Besitzer. Auch das erledigt Pantaenius für mich. Motto "Wir lassen Sie im Schadensfall nicht hängen." Früher hielt ich das für unverbindliche Werbe-Prosa. – Schön, wenn man sich so irrt. Den emotionalen Totalschaden kann allerdings keine Versicherungssumme kompensieren. Aber sie bewahrt, wie der beschriebene Fall beweist, vor dem finanziellen Fiasko.

Vorausgesetzt, man ist vernünftig versichert – was für viele Bootseigner vielleicht nicht zutrifft. Kein Wunder; denn in Deutschland besteht für Boote – man mag es kaum glauben – keine Versicherungspflicht. Weder Haftpflicht noch Kasko. Die hier beschriebene Untergangsgeschichte sollte jedoch nachdenklich stimmen ...
Beeindruckend bleibt für uns in jedem Fall die überwältigende Hilfsbereitschaft aller Beteiligten im Gedächtnis, die den Untergang zum Glück doch noch zu einem guten Ende für uns brachten