„Bayesian“Einschätzungen der Havarie des Ex-Kapitäns

Sören Gehlhaus

 · 28.08.2024

„Seahawk“ beim Perini Navi Cup 2018 vor Porto Cervo. Seit 2020 ist Stephen Edwards der Kapitän der 60-Meter-Ketsch. Von April 2015 bis Juni 2020 hatte er das Kommando auf „Bayesian“
Foto: Perini Navi Cup / Studio Borlenghi
Nun äußerte sich der Ex-Kapitän von „Bayesian“ zu möglichen Ursachen der Havarie. Seiner Einschätzung nach ist eine Flutung bereits ab einem Krängungswinkel von 45 Grad möglich. Offene Rumpfklappen hält er für unwahrscheinlich

Stephen Edwards hatte von April 2015 bis Juni 2020 das Kommando auf „Bayesian“. Der Brite arbeitete bis 2004 als Elektrotechnik-Ingenieur an Land und baute sich danach eine beeindruckende nautische Vita auf, die von elf Jahren auf unterschiedlichen Yachten von Perini Navi geprägt ist. Das habe ihn zum Experten für Betrieb und Systeme der Großseglern aus Viareggio gemacht, so der in Palma de Mallorca ansässige Kapitän auf LinkedIn. Seit Oktober 2020 führt Edwards die 60-Meter-Ketsch „Seahawk“, die mit Carbonmast und -Rigg als eine der sportlichsten Perinis für den Esprit-Mitgründer Jürgen Friedrich entstand.

„Ich möchte nicht zu den wilden Spekulationen und Behauptungen beitragen oder in irgendeiner Weise andeuten, was wirklich passiert ist... Das werden nur diejenigen wissen, die an Bord waren, aber ich kann etwas Licht auf die Eigenschaften des Schiffes und einige der Einschränkungen werfen, die bei dieser Katastrophe wahrscheinlich eine Rolle gespielt haben.“ Ein wichtiger Punkt ist, dass der Rumpf auf Perini Navis 56-Meter-Plattform basiert, „Bayesian“ aber als einzige Slup im Gegensatz zu den neun Ketsch-getakelten Schwesterschiffen vom Stapel gelaufen ist.

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Mast:

Mit dem Alumast reizte man die Grenzen der Konstruktion aus. Es mussten im Laufe der Jahre einige Lektionen gelernt werden, aber das Ergebnis war ein robustes und gut kontrolliertes Rigg, das innerhalb der Grenzen der Konstruktion gut funktionierte.

Ballast:

Die Höhe des Mastes wurde natürlich von den Perini-Ingenieuren bei der Gesamtkonstruktion des Schiffes berücksichtigt. Zu diesem Zweck kamen zusätzliche 30 Tonnen Bleiballast in den Kielkasten. Dies glich die zusätzliche Masse, den höheren Schwerpunkt und die höheren Kräfte der Segel der Slup-Takelung aus.

Kiel:

Der größte Bleiballast liegt wahrscheinlich bei etwa 200 Tonnen. Dazu kommt der etwa 60 Tonnen schwere bewegliche Kiel, der im abgesenkten Zustand fast sechs Meter unter dem Kielkasten hervorragte. Den Hauptanteil des aufrichtenden Moments lieferte der Hauptballast. Der bewegliche Teil des Kiels fungierte eher als Kielschwert, um die Abdrift unter Segel zu verringern.

Stabilität:

Yachten wie „Bayesian“ werden mit einem Stability Information Book ausgeliefert. Dieses vom Flaggenstaat anerkannte Dokument definiert die Belastungs- und Betriebsgrenzen, die vom Kapitän einzuhalten sind. Bei ,Bayesian‘ behandelt ein Abschnitt die Nutzung des beweglichen Kiels und definiert, wann er abgesenkt werden muss. Er musste unter Segeln gesenkt werden und/oder oder wenn bei Küstenentfernungen von mehr als 60 Seemeilen (unabhängig davon, ob unter Segeln oder Motoren).

Das Stabilitätsbuch enthält auch Angaben zu Aufrichtwinkeln und der Wasserdichtigkeit des Rumpfes. Hier gibt es zwei wichtige Zahlen: den Eintauchwinkel (Angle of Vanishing Stability) und den Flutungswinkel. Der Eintauchwinkel ist der Krängungswinkel, bei dem das Aufrichtmoment des Schiffes Null erreicht, es sich also nicht mehr selbst aufrichtet. Die genauen Zahlen habe ich vergessen, sie sollte etwa 90 Grad bei abgesenktem Kiel und 75 Grad bei aufgeholtem Kiel betragen.“

Der Flutungswinkel ist in dem von uns behandelten Szenario jedoch viel wichtiger. Dies ist der Krängungswinkel, bei dem das Wasser beginnt, in das Schiff einzudringen (normalerweise durch den Maschinenraum oder die Lüftungsschächte der Unterkünfte). Sobald dies beginnt, ist das Schiff in ernsthaften Schwierigkeiten, da sich die Stabilität durch die Überflutung schnell verringert oder verloren geht. Der Überflutungswinkel lag für ,Bayesian‘bei 40 bis 45 Grad.

Wenn also die Lüftungsklappen nicht geschlossen sind (was bei HVAC-Systeme und der Generator laufen, würden sie NICHT geschlossen sein, da sie dafür offen sein müssen), wird das wird das Schiff schnell überflutet, wenn die Krängung größer ist als der Überflutungswinkel.

Rumpföffnungen:

Im Vergleich zu den anderen 56-Meter-Perinis hat „Bayesian“ eine um zehn Zentimeter höhere Wasserlinie aufgrund des zusätzlichen Ballasts von 30 Tonnen. Da die einzige Rumpfklappe, auf der Backbordseite achtern, sehr nahe an der Wasserlinie lag, wurde sie nur selten benutzt und konnte nur bei flacher, ruhiger See geöffnet werden. Hundertprozentig war sie NICHT in der Nacht geöffnet.

Es gibt keine zu öffnenden Fenster oder Bullaugen, alle sind aus laminiertem Glas gefertigt , die mit dem Rumpf und den Aufbauten verklebt sind. Andere Decksluken/Aufbauöffnungen, die die Wasserdichtigkeit beeinträchtigen könnten, befinden sich mittschiffs oder in der Nähe. Damit diese im geöffneten Zustand Wasser aufnehmen können, müsste das Schiff weit über den bereits erwähnten Überflutungswinkel hinaus krängen und daher bereits über Rohre/Entlüftungsöffnungen geflutet werden.

Nur eine Öffnung befand sich weit vom Mittschiff entfernt und könnte bei geringerer Krängung anfällig für Überflutung sein, der Deckszugang zur Lazarette im Heck. Da er sich auf der Backbordseite des Achterdecks befindet, wäre es unwahrscheinlich, dass er in diesem Szenario eine Rolle gespielt hat, da wir wissen, dass ,Bayesian‘ auf die Steuerbordseite gekippt wurde.

Zusammenfassung:

„Bayesian“ basiert auf einer soliden Konstruktion, war seetüchtig und wurde meines Wissens gut gewartet. Eine Krängung von mehr als etwa 45 Grad im normalen Betriebszustand könnte zu einer Überflutung und einem anschließenden Verlust führen, sofern die Überflutung nicht kontrolliert werden kann.

Die Wetterbedingungen, die zu diesen extremen Umständen geführt haben, können tatsächlich ohne Vorwarnung auftreten. Und da sie lokal begrenzt sind, ist es schwierig, sich darauf vorzubereiten, so dass der Besatzung nur sehr wenig Zeit bleibt zu reagieren.


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