Ein Text von Markus Stier
Wenn sie sich zischend und fauchend in Bewegung setzt, wenn die riesigen Kolbenstangen langsam die Gleitbahnen hinunterfahren, sich der mächtige Kurbeltrieb reckt und zu rotieren beginnt, wirkt sie wie ein uralter Drache, der tief im Bauch einer eisernen Höhle zum Leben erwacht. Und sie speit noch immer Feuer.
Ein verregneter Morgen in Hard am Bodensee, das stählerne Monster schläft noch. Felix Brandauer streicht liebevoll über den Hochdruckzylinder und fühlt mit den zwei Maschinisten: „Wenn sie richtig läuft, hat es hier unten 36 bis 38 Grad und es ist wirklich laut.“ Der Bändiger dieses Riesenvieches ist ein feingliedriger Mensch, der im Ruderhaus nur knapp das große Ruderrad überragt, das früher bei schwerem Wetter zwei Mann stemmen mussten. Brandauer spricht mit leiser Stimme, als er durchs Schiff führt, als ob er das Ungeheuer nicht aufwecken wolle, und weil er keiner ist, der sich wichtigmachen will. Die Kapitänsmütze hat er nur fürs Foto aufgesetzt.
Er mag die Stille, das Säuseln des Windes in Bäumen oder flatterndem Tuch. Brandauer segelt gern, wollte Bootsbauer werden. Bis Brasilien hatte er sich beworben, aber wer nimmt einen ernst, der aus dem Schwarzwald kommt, wo die nächste Küste eine Tagesreise entfernt ist? Er wurde Schreiner, bis ihn die Finanzkrise auf die Straße setzte. 2011 bekam er eine Stelle auf der „Hohentwiel“, lief staunend durch das Schiff wie die Besucher, die er heute herumführt, und fragte angesichts dieser polierten Pracht in Mahagoni und Messing: Was soll es denn hier zu reparieren geben? Bei ihm war es bloß Glück. Dass es das Schiff noch gibt, ist ein Wunder.
Den ersten Tod hätte sie schon in einer Frühlingsnacht vor rund acht Jahrzehnten sterben können. Am 27. April 1944 verbrennt eine britische Bomberstaffel das Schwesterschiff, die „Friedrichshafen“, zu Asche, die „Württemberg“ versinkt schwer getroffen im See. Die „Hohentwiel“ hat – gerade noch rechtzeitig gewarnt – das Inferno im Hafen von Konstanz abgewartet. Kurz darauf nimmt die Unerschütterliche ihren Dienst wieder auf. Allein 1943 hat sie rund 53.000 Kilometer hinter sich gebracht. Doch der Lack ist längst ab, das schicke Mobiliar der Anfangstage längst ausgebaut, das strahlende Weiß mit olivgrünem Tarnanstrich übermalt, die königlichen Wappen wurden im allgemeinen Materialmangel eingeschmolzen.
Als sie am 1. Mai 1913 in Dienst gestellt wird, ist sie das Prunkstück der Königlich Württembergischen Bodenseeflotte, ihren Namen hat sie vom Hausberg Singens, dessen Burg auf dem knapp 700 Meter hohen Gipfel allein im Dreißigjährigen Krieg fünf Belagerungen standhielt. Kaiser Wilhelm II. hat die Begeisterung für Technik und Fortschritt von seinem Vater geerbt. Die industrielle Revolution ist ein Jahrhundert alt, das Maschinenzeitalter läuft auf Hochtouren. Nahezu jede Dampfmaschine dieser Zeit ist ein Einzelstück. Bei einer Bauzeit von fast drei Jahren fließen in die nächste schon wieder weitere Innovationen ein.
Die „Hohentwiel“ reckt ihren Bug ebenso senkrecht und gerade geschnitten in die Wellen wie die großen Atlantikliner und strahlt ebenso wie in Weiß mit schwarz lackiertem Unterwasserschiff. Auf den Ozeanen liefern sich Hochseedampfer Wettrennen um die schnellste Überquerung. Die Vorgabe von 28 Kilometern pro Stunde übertrifft die 950 PS starke Maschine des Zürcher Unternehmens Escher Wyss mit 29,13 Kilometern pro Stunde schon bei der Abnahmefahrt. Alles scheint möglich. Der Mensch fährt Automobil und Motorrad, und er fliegt. Im Juli 1913 feiert Graf Ferdinand Zeppelin, der Vater der Luftschiffe, auf der „Hohentwiel“ seinen 75. Geburtstag. Der schicke Halbsalondampfer leistet nicht nur Liniendienst, er dient auch als royale Party-Location. Im August lädt Wilhelm den sächsischen König Friedrich August III. zu einer mehrstündigen Dampfpartie.
Doch der frühe Glanz ist schon nach wenigen Jahren verblasst, der Erste Weltkrieg verloren, das Kaiserreich Geschichte, auch Württemberg hat keinen König mehr. Schon in den „Roaring Twenties“ sind Fahrten über den See kein elitäres Vergnügen mehr. Im aufkommenden Massentourismus wird das noble Mobiliar ausgebaut, die Passagierzahl auf 800 aufgestockt. Zwanzig Jahre nach dem Stapellauf fährt man im einst schicken Salon nun zweiter Klasse. Nach dem zweiten großen Krieg dampft sie unter der Trikolore, dient als schwimmende Kasematte der französischen Besatzer, immerhin wieder in friedlichem Weiß gestrichen.
Die „Hohentwiel“ ist in den späten Fünfzigerjahren schon eine betagte Dame, das Dampfzeitalter pfeift auf dem letzten Loch. Im Juni 1962 scheint ihr letztes Stündlein geschlagen zu haben, aber eine Explosion in der Werft ihrer Nachfolgerin, „München“, verschafft ihr eine Gnadenfrist. Die verlängerte Dienstzeit endet im August, als das zuvor schon notdürftig geschweißte Gussgehäuse des Anfahrventils endgültig bricht. Die Maschine schweigt.
Der Bregenzer Segelclub verholt sie über die Grenze nach Österreich. Er braucht ein neues Clubheim und rettet sie vor der Verschrottung. Den Schaufelrädern rücken sie mit Schneidbrennern zu Leibe, ihre Gehäuse dienen nun als Lagerräume. Im Maschinenraum steht alsbald ein Abwassertank, auf dem Kurbelgehäuse liegt Müll. Felix Brandauer erinnert sich: „Meine Eltern hat es bei einem Segeltörn mal da reingeweht.“ Nach dem Sturm sind sie froh über trockene Kleider, aber auch schockiert über den Zustand des Kahns. Der Stolz des Schwäbischen Meeres ist zum Schandfleck verkommen. Als das Clubrestaurant im Sommer 1984 aus hygienischen und sicherheitstechnischen Gründen schließt, scheint das Schicksal endgültig besiegelt. Doch es kommt anders. „Als meine Eltern vor wenigen Jahren wieder aufs Schiff kamen, haben sie es nicht wiedererkannt“, sagt Brandauer, als er durchs Vorschiff führt, den „schiffigsten Teil des Schiffes“, wie er den komplett in Mahagoni gehaltenen Salon nennt, der selbst in goldenen Zeiten nur ein Frachtraum war. Er bittet um Nachsicht, dass der Maschinentelegraf auf der Backbord-Nock nach dem durchwachsenen Wetter der letzten Tage nicht poliert ist. Vor 40 Jahren war sie morsch und rostig, jetzt steht der Kapitän auf einem tadellosen Oberdeck aus Pechkiefer. Zur Schonung des Parketts gilt bei Schuhabsätzen ein Mindestmaß von zwei mal zwei Zentimetern.
Selbst die Wohlmeinendsten fällten beim Anblick der Überreste der „Hohentwiel“ ein vernichtendes Urteil: Ein Haufen Schrott. Und doch will sie niemand abwracken. Bei Ingenieur Reinhard Kloser hat das Herz nicht aufgehört zu bluten, seit er das darbende Schiff 1963 am Reserve-Pier in Bregenz erlebt. Wer soll diesen Mann stoppen, der schon als 26-Jähriger für eine Hamburger Reederei zwei 20 Jahre eingemottete Dampfschiffe in zehn Tagen flottmachte und von Oregon nach Mexiko überführte? Kloser tritt dem frisch gegründeten Verein Internationales Bodensee-Schifffahrtsmuseum bei, entwickelt ein Konzept, schart Spezialisten um sich. Der Lindauer Landrat Klaus Henninger sammelt Geld. Es hilft, dass sich am Bodensee drei Länder treffen. Die Internationale Bodenseekonferenz (IBK) kauft die „Hohentwiel“, verspricht, die Hälfte des am Ende 4,8 Millionen Mark teuren Wiederaufbaus zu stiften. Viele Unternehmen rund um den See lassen sich von der Begeisterung anstecken. Die Ausbildungswerkstatt von Dornier baut eine neue Ruderanlage, bei ZF fertigen die Lehrlinge neue Öltropfer. Einige Teile werden auf „kurzem Dienstweg“ übers Wasser geschmuggelt, manche Firmen schreiben nie eine Rechnung.
Der Wind hat sich gedreht. Was gestern noch Alteisen war, ist nun Nostalgie, eben noch nicht mehr Zeitgemäßes ist jetzt Kulturgut. Rund 30 Raddampfer schwimmen noch auf den Seen Deutschlands, Österreichs und der Schweiz. Die Anfangsidee, aus der „Hohentwiel“ eine von Hafen zu Hafen zu schleppende schwimmende Wanderausstellung zu machen, findet wenige Befürworter. Schnell setzt sich der Plan durch: Sie soll wieder fahren. Wenige glaubten an den Erfolg, 1990 ist es so weit. „Für eine Stunde Fahrt fallen acht Stunden Instandhaltung an“, sagt Brandauer. Trotz all der Mühe – das Schiff macht Gewinn. Die „Hohentwiel“ ist jetzt ein Star, auf dem schon James Bond zu Besuch war. Das Schiff bekam 2008 einen Kurzauftritt in „Ein Quantum Trost.“
Felix Brandauer wollte eigentlich nur eine Weile bleiben, aber das Schiff hat ihn aufgenommen, eingenommen, und es hat ihn verkuppelt: seine Vroni heuerte 2011 im Bordrestaurant an. Bei einem Feuerwerk im Sommer hat es dann gefunkt. „Bordbeziehungen waren eigentlich verpönt. Wir haben versucht, uns da durchzuschlängeln“, sagt Brandauer, dabei hatten es bis zum Betriebsleiter längst alle gewusst. Nie wäre das junge Paar auf die Idee gekommen, auf der „Hohentwiel“ zu heiraten. „Das konnten wir uns nicht leisten“, sagt Brandauer. Ein Ticket mit Fünf-Gänge-Menü aus der Gourmetküche von Heino Huber kostet heute 145 Euro. Immerhin gab es im Juni 2018 den Sektempfang auf der „Hohentwiel“, und den spendierte die Firma. Mit dem Mann, der eigentlich nur ein Jahr bleiben wollte, hatte die Betreibergesellschaft Historische Schifffahrt Bodensee (HSB) Größeres vor. Seit 2023 ist Brandauer Betriebsleiter. Schon vorher ermunterte man ihn, das Kapitänspatent zu machen. Seitdem führt er selbst Trauungen durch. Die sind rechtlich nicht bindend, aber sehr beliebt.
Kaum jemand betritt je wieder das Standesamt, auf dem er geheiratet hat, von den auf der „Hohentwiel“ Getrauten kehren nicht wenige regelmäßig an den „Tatort“ zurück, an dessen Flanken unter dem Löwen der Württemberger wieder der Wahlspruch „Furchtlos und treu“ prangt. Die „Hohentwiel“ ist nicht nur Trauzeugin, die Unsterbliche ist auch Trauerbegleiter bei Todesfällen. Für ihren 38 Jahre jungen Kapitän wurde das Schiff zum Familienmitglied, auch wenn die Taufe des Töchterleins aus Kostengründen dann doch auf dem zweiten Schiff des Vereins, dem 15 Jahre jüngeren Art-déco-Motorschiff „Oesterreich“, stattfand.
Brandauer fährt sie beide. Die „Oesterreich“ lässt sich viel sanfter steuern, an Bord ist es viel ruhiger. Und doch: „Mein Herz schlägt mehr für die ‚Hohentwiel‘.“ Nicht weil das Anlegemanöver in Friedrichshafen bei sieben Beaufort mit dem Raddampfer spektakulärer ist, sondern weil das Dampfschiff etwas mit den Leuten macht. „Viele, die an Bord kommen, sind vom Alltag gestresst. Und dann siehst du zu, wie sie sich immer mehr entspannen.“ s kann kaum an der Stille liegen. Eine Frau beschwerte sich über den Lärm des zischenden Ungetüms, wollte anfangs weiter entfernt vom Kessel sitzen. Sie wurde ein Stammgast. Vielleicht sind es die Gravitation und die Wärme der 51-Tonnen-Maschine in der Mitte des Schiffes, die mit ihrem Herzschlag von 22 Kurbelwellenumdrehungen in der Minute, mit ihrer Masse und Gelassenheit ihre Umgebung neu kalibriert, unerschütterlich und für alle sichtbar rotiert.
Offene Kurbelgehäuse sind auf Raddampfern nichts Ungewöhnliches. Abgesehen vom optischen Spektakel lässt sich so die Wärme deutlich besser ableiten. Doch auf vielen Schiffen ist der Antrieb mittlerweile abgedeckt, trennt mindestens eine Plexiglasscheibe Maschine und Mensch. Auf der „Hohentwiel“ kämpfen sie trotz ständig verschärfter Regeln und Bestimmungen um den freien Blick auf die Technik. Felix Brandauer ist überzeugt: „Wenn die Maschine nicht mehr sichtbar wäre, würde es dem Schiff etwas von seiner Seele nehmen.“
Sie ist eben nicht nur ein Schiff, sie ist ein Organismus. In der Kälte des Winters zieht sie sich zusammen, dass die Türen nicht mehr aufgehen wollen. Brandauer schwört, man könne die Kälte sogar riechen. Wenn sie im Frühling nach einem halben Jahr Stille „den kalten Klotz“ wieder anwärmen, wenn der Geruch von Öl und Ruß den Muff vertreibt, fällt von allen eine bleierne Last ab. Dann spricht die Maschine mit ihm. „Aber leider nur über ihre Wehwehchen“, sagt Brandauer grinsend. Wenn das Steuerbord-Schaufelrad mal wieder einen Schlag tut, antwortet er ihr: „Ja, ich weiß, wir müssen das Lager wechseln.“
In Hard wird es nicht Frühling, wenn sie daheim die Heizungen ausstellen, sondern wenn wieder Rauch aus dem Schiffskamin quillt. Seit der Restaurierung schaufelt niemand mehr Kohle. Die „Hohentwiel“ verfeuert heute leichtes, schwefelarmes Heizöl. Von Anfang Mai bis Oktober geht sie fünfmal in der Woche raus auf den See. Die Maschine zieht Staub, Rost und Wasser. Sie muss bewegt werden, um fit zu bleiben. Felix Brandauer würde schon noch gern Segelboote bauen. Er kennt jetzt genug Leute in der Branche, muss niemanden mehr überzeugen, dass auch Waldmenschen Schiffe können. „Aber wer weiß? Vielleicht stehe ich auch die nächsten 20 Jahre hier im Ruderhaus.“