KlassikerBackdecker “Hecht” - Golden Oldie

Lasse Johannsen

 · 06.11.2022

ug- und Heckwelle eines klassischen Verdrängers. Doch auch die elegante Rumpfform ist aus dieser Perspektive gut zu erkennen
Foto: Yacht/S. Hucho

Stilvoller als an Bord eines Engelbrecht-Backdeckers wie dem „Hecht“ lässt sich eine Zeitreise in die Goldenen Zwanziger auf den Berliner Gewässern kaum unternehmen

Ein Spätsommertag in Potsdam. Der Jungfernsee zeigt eine spiegelglatte Oberfläche, das Bild darin könnte das Motiv einer Schwarz-Weiß-Postkarte längst vergangener Tage sein. Villen säumen das Ufer, zu vielen gehört ein Bootssteg; an einem liegt, verträumt, ein klassischer Backdecker. Nur das saftige Grün der bewaldeten Uferzone stellt klar: Das Gestern ist heute, das Bild ist echt – und lebt.

Am Ufer geht es einen Fußweg entlang in Richtung des Stegs, wo das Oldie-Boot, am Heckspiegel steht der Name „Hecht“, schon abgedeckt ist und zur Fahrt über den Jungfernsee und die angrenzende Havel klargemacht wird. Sonores Brummen umgibt die Szene, der laufende Diesel verbreitet Aufbruchstimmung, und so geht es los. Und wer ein wenig Fantasie mitbringt, träumt sich tatsächlich unversehens in die Zeit, als dieses Vehikel auf den Berliner Gewässern State of the Art war.

Die pulsierende Weltstadt Berlin ist Inbegriff der Goldenen Zwanzigerjahre, jener kurzen Blütezeit zwischen Währungs­reform und Weltwirtschaftskrise, jenes radikalen Umbruchs vom letzten Kaiserreich zur ersten Republik, jener Jahre gesellschaft­licher Erneuerung mit selten hochfrequenten Entwicklungen in Kunst, Kultur und Wissenschaft.

Eine Zeit des Vergnügens - auch auf dem Wasser

Nach einem Weltkrieg, der erstmals auch die Zivilbevölkerung der beteiligten Länder einbezog, ist diese Zeit nicht zuletzt auch das: eine Phase, in der das ausschweifende Vergnügen als legitimer Lebenszweck angesehen wird und alles, was ihm dient, bei weiten Teilen der Bevölkerung vorbehaltlos positiv besetzt ist. Die Gesellschaft amüsiert sich in Lichtspielhäusern und Revuen, tanzt Charleston und besucht Sportfeste, blättert in Modemagazinen und lauscht dem Klang der Schellack­platten auf dem Grammofon oder dem neuerdings vom Detektor zu empfangenden Rundfunk.

Auch auf dem Wasser vergnügt sich die Bevölkerung, und die Hauptstadt ist nahezu vollständig umgeben davon. Wer es sich leisten kann, befährt die Seen in und um Berlin mit einem flotten Motorboot. En vogue sind schlanke Backdecker mit steilem Steven, deren elegante Silhouette nicht von Aufbauten dominiert wird. Des Abends geht es damit zum Picknick auf einen lauschigen Ankerplatz, am Wochenende mit bezahltem Piloten zum Kampf um Silber auf Motorbootregatten. Regnet es, sitzt der Eigner im Salon, der Fahrer steht im Ölmantel hinter dem Rad. Feste Scheiben oder Ruderhäuser gelten daher nicht als Muss.

Die “Hecht” als Paradebeispiel eines Backdeckers

Der „Hecht“ ist ein Paradebeispiel für diese Spezies. Er entsteht 1928, als noch niemand ahnt, dass die goldenen Zeiten bereits ihren Zenit erreicht haben. Und auch der „Hecht“ symbolisiert den Höhepunkt der Evolution seiner Gattung. Der Rumpf ist solide und ökonomisch aus massivem Schiffbaustahl zusammengesetzt, das Deck besteht im Original aus Pinienstäben; Laibungen und Aufbauten sind aus Mahagoni gefertigt. Es gibt ein Luk über dem Vorschiff, ein Skylight über dem Salon, ein Schiebeluk über dem Niedergang. Der Ruderstand ist völlig offen, dafür gibt es eine geräumige Achterkajüte mit zwei Kojen. Mittschiffs befindet sich die offene Plicht, unter deren Boden der Antrieb verbaut ist, welcher mit wenigen Handgriffen komplett freizulegen ist. Davor geht es durch die Pantry in den geräumigen Salon, an dessen Ende im Vorschiff die Nasszelle mit WC platziert ist.

Der Ausbau erfolgt gemäß den Wünschen des Eigners, eines Berliner Teppichgroßhändlers namens Max Berke. „Die Werft Claus Engelbrecht hat damals drei Rumpfgrößen hergestellt, 9,5 Meter, 10,5 Meter und 11,5 Meter. Und jeder Kunde hat bestimmt, wie er den Rumpf ausgebaut haben wollte“, erinnert sich Felix Feige, der den „Hecht“ sowie den Eigner Berke im Jahr 1952 kennenlernte, als er dem Motor-Yacht-Club von Deutschland beitrat, dessen Gründungsmitglied Berke war. Heute sieht Feige den Backdecker nach vielen Jahren zum ersten Mal wieder. Mit weißem Knochen im Maul schiebt sich das gerade erst in der Potsdamer Bootsbauerei Alveus aufwendig restaurierte Boot unter der Glienicker Brücke hindurch; in Feige kommen die alten Er­innerungen hoch. „Es gab von Engelbrecht Vorderkajütboote, Achterkajütboote, jeweils mit Ruderhaus oder ohne. Es waren alles Unikate“, so Feige, der den Bootsbauern bescheinigt, dass sie den „Hecht“ in den Zustand zurückversetzt haben, in dem er einst vom Stapel gelaufen war.

Der Mercedes unter den Propellern

Der „Hecht“ wurde seinerzeit von einem Achtzylinder-Continental angetrieben, einem äußerst leistungsstarken Benziner – was damals auf Sportbooten dieser Art üblich war. „Ich weiß, dass sich am ‚Hecht‘ ein Zeise-Propeller befand, das war der Mercedes unter den Propeller-Herstellern. Und zwar ein dreiflügeliger“, sagt Feige und dass ein Wendegetriebe der Marke Nixe an Bord gewesen sei.

Während des Zweiten Weltkriegs wurde der „Hecht“ wie fast alle privaten Motorboote requiriert und als Patrouillenboot eingesetzt. Berke bekommt den Back­decker anschließend aber zurück, und als er ihn Mitte der Fünfziger in andere Hände gibt, hat er fast 30 Jahre seines Lebens mit diesem Schiff verbracht.

Das Ehepaar Schneider aus seinem Club übernimmt den „Hecht“. Für den Kaufpreis von 15.000 D-Mark nehmen sie eigens einen Kredit auf; mit viel Leidenschaft widmen sie sich dem Schiff und bauen ein Ruderhaus darauf. Doch die gemeinsame Zeit an Bord währt nicht lange. Und nach weiteren zwei Eignerwechseln geht der Backdecker in den Besitz des Lübecker Ehepaars Stumpf über.

Es beginnt für das Boot eine Ära, während der es sehr geliebt, intensiv gepflegt und viel gefahren wird. „Die Stumpfs ließen es nach der Wende in Köpenick total sanieren und räumten in der Folgezeit alle Preise ab, die es abzuräumen gab“, erzählt Felix Feige, der sich damals mit den Eignern anfreundet. Weite Reisen auf den Binnengewässern Europas und regelmäßige Teilnahmen an den einschlägigen Treffen der Oldtimer-Boote sind der Grund für die vielen Ehrungen. Feige, der damals ebenfalls einen En­gel­brecht-Backdecker sein Eigen nennt, ist oft mit von der Partie.

Engelbrecht war die renommierteste Werft Berlins

Der Neustart in Köpenick hat starke Symbolkraft. Hier war die 1890 in Zeuthen, östlich von Berlin, gegründete Engelbrecht-Werft seit Mitte der Zwanzigerjahre ansässig, und hier lief der „Hecht“ vom Stapel. Es ist die Hochzeit dieser renommiertesten Berliner Werft. Von seetüchtigen Motor­yachten über elegante Binnenkajütboote – die sogenannten Limousinen – bis hin zu echten Rennbooten und den irgendwo dazwischen liegenden Backdeckern entstanden hier bis 1945 rund 1000 Sportboote, darunter auch kleine und größere Segelyachten. Doch der Name Engelbrecht steht bis heute vor allem für hervorragende Expertise in Sachen Antriebstechnik – in einer Zeit, als sich diese rasant entwickelte.

Das Werftregister gibt Aufschluss über eine Vielzahl verbauter Motoren und lässt daher Rückschlüsse auf die Innovationsfreude des Betriebs zu. Bekannte Namen wie Daimler, BMW, Hanomag oder Dürkopp tauchen dort auf, aber auch heute fast vergessene wie Argus, Körting, Kämper oder Breuer. Nach dem Krieg wurde die Werft, mittlerweile von den Söhnen des 1935 verstorbenen Claus Engelbrecht geführt, demontiert. Auf dem Gelände entsteht später der Volks­eigene Betrieb Yachtwerft Berlin.

Umfassende Restaurierung mit vielen Original-Teilen

Heute wird der „Hecht“ von einem 130 PS starken Lombardini-Diesel angetrieben. Bootsbauer Hilmar Dembler-Malik steht am hölzernen Speichenrad und hat den selbst konstruierten Gashebel im Classic-Look in der rechten Hand. Langsam dreht er daran, bis der Motor das Boot bei 2000 Umdrehungen auf acht Knoten bringt. Das Brummen ist jetzt eine Oktave höher als im Standgas am Steg und so laut, dass die Unterhaltung anstrengend wird. Etwa drei Liter verbrauche der „Hecht“ bei dieser Marschfahrt, sagt Dembler-Malik, während er an der Pfaueninsel vorbeifährt. Dann beschreibt das Fahrwasser eine Kurve. Die hydraulische Steuerung macht es leicht, den zehn Meter langen und fünf Tonnen schweren Backdecker zu dirigieren. Der Rudergänger schaut seit der unlängst abgeschlossenen Restaurierung wieder wie im Baujahr über ein unverstelltes Deck.

Der Dieselmotor kam schon vor der Restaurierung an Bord, wie auch verschiedene bootsbauerische Maßnahmen bereits früher durchgeführt wurden, was den guten Zustand der Originalsubstanz erklärt. „Die gesamte Innenschale wurde schon mal gestrahlt und beschichtet“, sagt Dembler-Malik und berichtet, dass sie makellos war, als der Rumpf im Rahmen der Restaurierung entkernt wurde.

Die Arbeiten bei Alveus begannen mit der Recherche des Originalzustands. Den Bootsbauern gelingt es, an Fotos vom „Hecht“ aus den ersten Jahren zu kommen. „Man sieht darauf, dass die Balkenbucht mal verändert und der Freibord erhöht wurde“, sagt Dembler-Malik. Das ergab mehr Raum unter und einen sicheren Stand an Deck, veränderte allerdings auch den Charakter des Backdeckers. „Da das Deck aber völlig in Ordnung war, haben wir die Eigner dahingehend beraten, es so zu lassen.“ Lediglich das Achterdeck muss, weil es beschädigt ist, neu eingedeckt werden. Alle übrigen Arbeiten bestehen in einer intensiven Aufarbeitung der alten Teile und dem Rückbau der Veränderungen. Selbst die Scheuerleiste bleibt im Original an Bord, obwohl sie an vielen Stellen ausgebessert werden muss. Aber „die alte Eiche sieht einfach so viel schöner aus als eine neue“, sagt Dembler-Malik und verrät damit viel über seine Philosophie, die mit Wertschätzung des alten Handwerks und Freude an Zeitreisen zu tun hat. Und so erklärt sich auch das zufriedene Lächeln, als der passionierte Bootsbauer den klassischen Backdecker mit voller Fahrt um die letzte Kurve steuert und wieder den Steg aus der Postkarten­ansicht voraus nimmt.

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