Jill Grigoleit
· 24.11.2021
Ein glücklicher Zufall führte Benyamin Tanis zu seinem Traumboot. Doch bevor die „Serendipità“ in der Ostsee wieder Wasser unter den Kiel bekam, gab es einiges zu tun
Angenehme 25 Grad, ein laues Lüftchen weht von der Adria herüber und treibt den Geruch von Fisch und Pizza durch das schier endlose Labyrinth aus kleinen Gassen: Das ist Venedig. Der berühmte Markusdom mit den goldenen Kuppeln, die romantische Rialtobrücke über den Canal Grande und natürlich die knapp 175 Kanäle, auf denen Gondolieri Touristen chauffieren. Wer von einer der mehr als 100 Inseln, auf denen das historische Zentrum gebaut ist, zur nächsten möchte, nimmt sich am besten eines der vielen Wassertaxis – in der Mehrzahl motoscafi genannt. Weit mehr als die Hälfte der Gesamtfläche Venedigs besteht aus Wasserwegen. Aber ganz abgesehen von den praktischen Gründen, hat ein motoscafo einfach Stil. Authentischer kann man dort kaum unterwegs sein.
Nun weht dank dem Stolzen Eigner ein Hauch von Venedig am Westufer der Kieler Förde.
1000 Kilometer weiter nördlich: Ein prüfender Blick auf die Schuhsohlen, ob auch kein Steinchen darunter klemmt – dann macht Benyamin Tanis einen großen, vorsichtigen Schritt auf das makellose Deck seines ganzen Stolzes. Die venezianischen Wassertaxen, geschaffen von Meistern der Bootsbaukunst, haben es dem Norddeutschen angetan. Und nun weht dank ihm ein Hauch von Venedig am Westufer der Kieler Förde. Der 2,35 Meter schmale und 9,20 Meter lange Rumpf des Wassertaxis ist natürlich wärmere Gewässer gewohnt, 40 Jahre lang lag auch die „Serendipità“ in den türkisblauen Kanälen Venedigs. Jetzt schaukelt das italienische Schmuckstück im Nieselregen auf der aufgewühlten Kieler Förde. Aber immerhin hat das Boot im gediegenen Design der Dreißigerjahre für seine neue Heimat ein frisches Gewand bekommen: Ein weißer Mantel aus Epoxidharz und Glasfaser schützt nun die alten Planken und gibt dem kleinen Fahrgastboot die nötige Stabilität für die rauere Ostseewelle. Regentropfen perlen vom glänzenden Mahagonideck ab. Es ist fast Herbst. Der wolkenverhangene Himmel über Kiel lässt die norddeutsche Küste natürlich keinen Vergleich mit der Mittelmeerlagune bestehen. Und trotzdem steht Ben Tanis mit einem breiten Grinsen am Steuer und lässt seinen Blick über die eleganten Armaturen und dann über die Förde gleiten. Er hat es geschafft, seine Leidenschaft für italienisches Design und venezianische Bootsbaukunst mit seinem Hang zur Heimat zu verbinden. Als er erzählt, wie er und das Taxiboot zueinander fanden, glänzen seine Augen.
„,Serendipità‘ bedeutet so viel wie ‚glücklicher Zufall‘“, erzählt der 36-Jährige. Zwei Jahre ist es her, dass er mit seiner Frau in Venedig war und sie sich in die Wassertaxis verliebten. Wie toll wäre es, wenn solche Boote auch auf der Kieler Förde fahren würden? Aufgrund seiner beruflichen Tätigkeit als Anwalt für Yachtsport war ihm klar: So einfach ist das nicht mit der gewerblichen Fahrgastschifffahrt in Deutschland. Trotzdem, die Schnapsidee war geboren. Freunde, die in Venedig leben, bekamen den eher scherzhaften Auftrag, die Augen offen zu halten. „Diese Boote verlassen Venedig eigentlich nicht, das ist ein ungeschriebenes Gesetz. Sie werden nur dort von drei oder vier verschiedenen Werften gebaut. Und sie kosten neu gut 250 000 Euro. Alles ist handgemacht. Jedes Stück ein Unikat aus Holz, nichts wird industriell gefertigt“, erzählt Ben begeistert. Nie hätte er ernsthaft damit gerechnet, dass ein Kauf infrage kommen könnte.
“Serendipità” bedeutet so viel wie “glücklicher Zufall” – und um einen Glücksfund handelt es sich tatsächlich.
Doch ein Jahr später sind sie wieder in Venedig. Und besagte Freunde begrüßen ihn und seine Frau mit einer Überraschung: Übrigens, wir haben ein Boot für euch gefunden! „Als sie mir erzählten, dass es nur 10 000 Euro kosten soll, dachte ich direkt‚ das brauchen wir uns gar nicht anzugucken. Das kann nichts sein.“ Drei Jahre lang hatte das motoscafo im Dornröschenschlaf auf dem Trockenen gelegen. Der Werftbesitzer war überraschend verstorben, und sein Sohn wusste nicht so recht, was er mit dem schönen Stück anfangen sollte. Wichtig war ihm, dass es in gute Hände kommt, erinnert sich Tanis. Kein Problem – denn es war Liebe auf den ersten Blick.
Tanis schmunzelt: „Das kenne ich eigentlich eher von meinen Klienten, denn ich betreue Personen, die auch Schiffe kaufen wollen. Und dann predige ich ständig, dass sie ihre Emotionen zu Hause lassen sollen, dass das eine nüchterne Entscheidung sein muss. Im Nachhinein frage ich mich, was an dem Tag mit uns los war! Meine Frau hat direkt gesagt: ,Das Schiff ist so schön, das müssen wir kaufen!‘ Natürlich haben komplett wir unterschätzt, obwohl ich ja durchaus vom Fach bin, wie viel Arbeit da reingesteckt werden muss und wie teuer das werden würde. Am Ende hat es uns so viel gekostet wie eine Eigentumswohnung, ungefähr die Hälfte vom Neupreis.“
Noch am gleichen Tag kaufen sie das Boot per Handschlag. Einige bürokratische Hürden, um es aus der Lagunenstadt heraus zu bekommen, gilt es noch zu überwinden. Doch schon vier Wochen später ist die knapp drei Tonnen schwere Schönheit auf einem Tieflader von Sleepy Yachttransport aus Heikendorf auf dem Weg über die Alpen.
„Als der Lkw ankam, waren wir noch überzeugt, dass das Boot in gutem Zustand sei und die nötigem Arbeiten nicht so teuer werden würden“, erzählt Tanis, „bis wir es zu unserem befreundeten Bootsbauer Rouven Rademacher brachten.“ In homöopathischen Dosen bringt der erfahrene Handwerksmeister den frischgebackenen Eignern bei, dass doch eine ganze Menge gemacht werden müsse. Trotzdem gehen alle Beteiligten das Projekt mit Eifer an. Das Boot wird komplett gestrippt, Antrieb, Maschine und Aufbau werden abmontiert. Spätestens nach dem Sandstrahlen ist klar: Eine einfache Lackierung kommt nicht in Betracht. Um dem in die Jahre gekommenen Rumpf mehr Stabilität zu geben und nicht zuletzt aus optischen Gründen, weil das Holz an vielen Stellen feucht und nicht mehr zu retten ist, überzieht Rademacher den Mahagonirumpf mit Epoxidharz und Glasfaser. Schließlich werden sechs Lackschichten aufgetragen. Anschließend erneuert Bootsbaumeister Armin Hellwig, spezialisiert auf hochwertige, individuelle Holz-Innenausbauten, alle Holzteile, vom Laufdeck bis zur Motorklappe.
Schnell stellt sich heraus: Der Iveco läuft nur noch auf drei von sechs Zylindern – und die haben noch nicht einmal genug Kompression.
Eine industriell gefertigte Platte für das stark gekrümmte Vorschiff kommt nicht infrage. Die Krümmung hätte früher oder später dazu geführt, dass der Lack bricht. Zunächst wird das Deck also mit zwölf Millimeter starkem Mahagonisperrholz geschlossen, bevor eine Furnierlage aus Mahagoni aufgebracht wird. Auf dem Vorschiff und im Heck entsteht eine Veredelung durch helle Adern aus Buchenholz. Neue weiße Lederpolster, neues Windshield, neue Kabinenfenster – am Ende erstrahlt das motoscafo so elegant wie vermutlich zuletzt 1981 beim Stapellauf. „Der Rumpf war neu, das Deck war neu. Also wollten wir wenigstens die Maschine erhalten“, erinnert sich Tanis. Also kommt der betagte Big-Block-Motor auf den Prüfstand. Sechs Liter Hubraum und 150 Pferdestärken stecken im roten Herz der alten Dame.
Schnell stellt sich heraus: Der Iveco läuft nur noch auf drei von sechs Zylindern – und die haben nicht genug Kompression. Nach einigem Suchen finden sie im hessischen Dieburg die Firma Sauer und Sohn. Die einzige Firma in Deutschland, die sich wirklich mit diesen Maschinen auskennt und die sie einmal komplett überholen kann. „Das Schöne an dem ganzen Restaurationsprozess war, dass alle Beteiligten mit Leidenschaft bei der Sache waren und sich ein freundschaftliches Verhältnis zu allen aufgebaut hat, weil es eben doch ein sehr spezielles Projekt ist. Zum Vorbesitzer, dem venezianischen Werftchef hat sich eine richtige Freundschaft entwickelt. Wir haben ihn über jeden Schritt auf dem Laufenden gehalten und auch zur Taufe nach Kiel eingeladen.“ Am Schluss bekommt das Boot noch einen neuen Z-Antrieb von Volvo Penta – das gleiche Modell, das vor 40 Jahren eingebaut worden war.
“Wir hoffen, dass wie eine ganze Flotte dieser Boote nach Kiel und vielleicht sogar darüber hinaus bringen können”
Im Frühsommer 2021 ist es dann endlich so weit. Die „Serendipità“ berührt zum ersten Mal in ihrem Leben Ostseewasser. Theoretisch würden zwölf Passagiere in der gemütlichen und bei Bedarf sogar beheizten Kabine Platz finden. Doch würde das motoscafo überhaupt die Genehmigung bekommen, Gäste über die Förde zu transportieren, oder war womöglich alles umsonst? Überraschenderweise sind alle behördlichen Stellen dem Unternehmen wohlgesinnt und möchten die Idee unterstützen. Trotzdem gilt es, einfallsreich zu sein. „Wir haben herausgefunden, dass wir das Schiff als kleines Fahrgastboot nach der Binnenschifffahrtsuntersuchungs-ordnung zulassen können. Das ist bislang noch nie gemacht worden. Aber die Möglichkeit gäbe es theoretisch im Gesetz.“ Zumindest innerhalb geschützter Ufer, südlich der gedachten Linie zwischen Laboe und Strande, stünde einer gewerblichen Nutzung eigentlich nichts im Wege. Noch stehen die offiziellen Genehmigungen aus. Aber die Augen des 36-Jährigen leuchten wieder, wenn er von seinen Plänen erzählt. „Wir hoffen, dass wir eine ganze Flotte dieser Boote nach Kiel und vielleicht sogar darüber hinaus bringen können.“ Es ist, als hätte er all die Rückschläge bei der Restauration vergessen. Zumindest scheint er sich sicher zu sein, dass es das wert war. Er träumt von einer kleinen Marina für seine motoscafi-Flotte, vielleicht sogar mit integrierter Gastronomie. Gäste könnten direkt vom Flughafen abgeholt und auf dem Wasserweg zu Hotels und Restaurants chauffiert werden. Eben wie in der alten Heimat des ersten Wassertaxis von Kiel. Vorerst sind Chartertouren für kleine Hochzeitsgesellschaften und Events geplant, später dann auch Taxifahrten auf Abruf. Eine echte Bereicherung für das Kieler Mobilitätskonzept, findet nicht nur Tanis. Der Zukunftsdialog „Kiel 2042“ hat ergeben, dass sich viele Kieler*innen eine bessere Verbindung zwischen Ost- und Westufer wünschen.
Während Tanis von seiner Vision erzählt, frischt der Wind über der Förde auf, und es wird langsam ungemütlich am Steuer, das im Gegensatz zur Kabine Wind und Wetter ausgesetzt ist. Er dreht das Boot und gibt Gas. Manch ein Fahrgast wird überrascht sein, was für eine Kraft unter dieser edlen Hülle steckt, die auf den ersten Blick eher schwerfällig daherkommt. „Bis zu 22 Knoten würden die motoscafi locker schaffen, wenn sie dürften“, schwärmt Tanis und nimmt Kurs auf den Hafen, wo sein „Glücksfund“ nun noch ein paar Monate ruhen darf, bevor sein zweites Leben genau 1000 Kilometer nördlich seiner Heimat beginnt.
Diesen Artikel finden Sie in BOOTE-Ausgabe 12/2021. Seit dem 17.11.2021 am Kiosk oder online im Delius Klasing-Shop.