Auf den ersten Blick wollen sie nicht recht zu einem Powerformat passen, die nach vorn geneigten Scheiben. Vielmehr sind sie doch ein Markenzeichen von Explorern geworden, markiger Ausdruck vorn Robustheit. Da die negativ verlaufenden Scheiben aus der kommerziellen Schifffahrt kommen, sind sie natürlich mehr als das und bieten viele praktische Vorteile. Da wären Rauwasser-Aspekte: Außen läuft Spritzwasser schneller ab, innen liegen die Instrumente im Schatten. Zudem wird das Licht gebrochen, was weniger Reflexion und Blendung zur Folge hat. Eine Schleuderscheibe sucht man bei der AB 110 vergebens, dafür gibt es zwei diskret unter dem Vorsprung der Fly hängende Scheibenwischer.
Die sich dem Fahrtwind schräg entgegenstellende Windschutzscheibe und die Verwendung von ultraleichtem, teils dreidimensional gebogenem Glas mit höherem Wärmewiderstand sollen das Aufheizen des Innenraums verringern. Den Entwicklern der Next Yacht Group, der unternehmerischen Heimat der Powerboat-Marke, ging es um einen weiteren Aspekt: die Maximierung der Decksfläche unter der Sonne. Verkaufsleiter Giacomo Benelli empfängt auf dem Topdeck und unterfüttert den scheinbar Stil brechenden Kniff mit Zahlen: „Bei dieser Yacht haben wir uns bewusst für das umgekehrte, nach vorn geneigte Fenster entschieden, um 40 Prozent mehr Fläche auf dem Oberdeck zu gewinnen.“
Natürlich lässt der 33,70 Meter lange Gleiter seine Muskeln an anderer Stelle spielen, wie es sich nun einmal für ein schnelles wie wendiges Waterjet-Format gehört. Sie ist das erste Modell einer neuen Serie und schließt die Lücke zwischen den Modellen 130 und 100. So hielt das werfteigene Team aus Exterieur-Gestaltern achtern an der prallen Aufbauverkleidung mit den typischen Schlitzen fest. Mit einer AB will man Tempo machen und schnell sein, einfach nur so oder um als Erster in der Ankerbucht zu sein oder sich spontan zum Beachclub auf der Nachbarinsel aufzumachen.
Den Pumpen zum Ansaugen und den Impellern zum Ausstoßen des Wassers dient ein Trio aus MANs 2000er Serie als Energiequelle. Drei Wasserstrahleinheiten, von denen die äußeren steuern und die mittlere als Booster agiert. Ein Leistungsplus hält die Konfiguration nur für den europäischen Markt in Form der 2600er Aggregate von MTU vor, die für Kunden aus den USA nicht mit einem Katalysator versehen werden können. Zur Höchstgeschwindigkeit des 110-Tonners sagt Benelli: „Optimal getrimmt und ohne Bewuchs sind 43,5, fast 45 Knoten möglich. Ohne Weiteres schafft die AB 110 zwischen 40 und 41 Knoten.“
„Noch wichtiger ist der Fahrkomfort, das Boot läuft sehr ruhig. Und das ist die DNA von AB-Yachten. Die perfekte Entspannung stellt sich mit 38, 39 Knoten ein.“ Damit meint Benelli die Marschfahrt, die wie für Waterjet-Format üblich überaus hoch ist und Gäste bei vollen Tanks bis zu 430 Seemeilen weit bringt. Es ist wie der Dauersprint eines Marathonläufers, denn setzt man den Verbrauch ins Verhältnis zur Seemeile und nicht zur Stunde, sind die AB-Modelle Meister der Effizienz.
Ein weiterer Vorteil des Waterjetantriebs ist der Tiefgang von nur 1,30 Meter, den Eigner etwa vor Miami oder in den Bahamas voll ausspielen können. Die USA sind ein traditionell starker Absatzmarkt für die Werft aus der Toskana und ein triftiger Grund für die Konzeption noch dazu: „Aufgrund der US-Vorschriften mussten wir im Vergleich zur AB100 die Entwicklung anders angehen“, löst Giacomo Benelli auf. „Die konnten wir dort nicht mehr verkaufen, weil bei einer Laderaumlänge von mehr als 24 Metern ein SCR-Katalysator vorhanden sein muss. Der aber hätte den Motorenraum um 2,50 Meter verlängert.“ Aufgrund der einschneidenden Maßnahmen zur Senkung der Stickoxid-Emissionen musste man von einer „hochskalierten“ AB 100 Abstand nehmen und entschied sich stattdessen für eine Neukonstruktion.
In dem Entwurf fand überdies eine geräumige Tendergarage im Heck Beachtung. Der Spiegel öffnet sich nach dem Prinzip einer Pantografentür mitsamt dem zentralen Element der Badeplattform und dem Loungesofa darauf nach oben. Das Beiboot fährt wie in eine Marina in das Heckschiff hinein, kommt an den Haken und wird bei Bedarf bei gefierter Winde wieder gewassert. In der Garage können zusätzlich zum Tender ein Jetski und Seabobs gelagert werden, die sonst häufig auf der Badeplattform landen. Verbindendes Element von außen und innen sind die Zwillingstreppen zur Badeplattform und hinauf zur Fly, wo der von Carbon umsäumte Steuerstand nur zum Manövrieren geöffnet wird. Benelli steht neben dem Stufenkunstwerk und erklärt: „Das Design haben wir mit Marco Casamonti entwickelt. Die Carbon-Treppe wird in einem Stück in einer einzelnen Form laminiert.“ Casamonti hat das Architekturbüro Arcea Associati mitgegründet und agiert mittlerweile als künstlerischer Leiter der Next Yacht Group, die in Viareggio ihren Stammsitz hat und zu der auch Maiora gehört.
Im Interieur ist der Einfluss von Casamonti und damit die neue Ausrichtung der seit 30 Jahren bestehenden Marke besonders stark zu spüren. Wobei innen und außen nicht leicht voneinander zu trennen sind, was auch am fortgeführten Teakstabdeck mit grauen Fugen liegt. Bei zur Seite geschobenen Salontüren wird in der offenen Galley an Backbord beinahe im Freien gekocht oder ein Drink an der organisch geformten Bar zubereitet. Davor zieht eine schwarz getünchte Holztafel den Raum in die Länge, gegenüber laden zwei Loungesofas ohne Armlehnen zum flexiblen Verweilen ein. Die Fensterscheiben ziehen sich nach unten bis auf Schanzkleidhöhe. Darüber erzeugen teils geschwungene LED-Bahnen indirekte Beleuchtung, die sich allenthalben im Verborgenen entlangschlängeln und die Räume zurückhaltend wie umfassend illuminieren.
Sogar in die Unterdeck-Areale werden Gäste auf beiden Seiten von hell gefugtem Teak auf den Treppenstufen begleitet, die ähnlich rund wie die Außentreppen daherkommen und sich in Hohlkehlen an die Wände schmiegen. Hier unten entpuppt sich die AB 110 einmal mehr als Raumwunder, wobei das fülligste der vier Gästegemächer nahezu mittschiffs vor dem Motorenraum wartet und von einer VIP-Kabine im Vorschiff ergänzt wird. Die beiden Gemächer dazwischen bringen mit ihrer jeweiligen Pullman-Koje die Schlafkapazität auf zehn Personen. Alle haben einen hohen Anteil von Leder und Alcantara, in das Metallleisten eingefasst sind. Einbaumöbel entstehen in Sandwichbauweise mit Schaumkernen als Basis und außen mit gekalkten Eichenfurnieren. Alles, was an Gewicht im Interieur gespart wird, resultiert in mehr Leistung. Eine Faustregel besagt: Für eine Tonne weniger Verdrängung erhöht sich der Topspeed um einen Knoten.
Unterkünfte für bis zu vier Crewmitglieder in zwei Crewkabinen offeriert die für einen Gleiter erstaunlich voluminöse Bugpartie – was Segelyachten schnell über die Wasseroberfläche hinweg und aus dem eigenen Wellensystem bringt, hilft auch Motorformaten.
Wer sich an der Explorer-Ästhetik der schräg nach vorn ausgerichteten Frontscheiben stört oder es mit einem windschlüpfrigeren Aufbau noch ein My schneller mag, für den hält AB eine „S“-Version der AB 110 bereit. Die Sport-Variante der AB 110 ist aus der ersten Zusammenarbeit mit dem Automobil-Spezialisten EXE Design hervorgegangen, setzt auf ein schmales Profil und ein Cockpit-Bimini, das im Ganzen aus dem Aufbaudach fährt.
Komfort wird bei den Speed-Spezialisten nie außer acht gelassen. Im 34 Meter langen Rumpf, der unter Vakuum mit Vinylesterharz und Kevlar- und Glasfasern laminiert wird, verbauen die Italiener zwei je 1,4 Tonnen schwere Kreiselstabilisatoren von Seakeeper, deren Schwungräder sich mit 5.000 Umdrehungen pro Minute drehen und so Langsam- nicht zu Schaukelfahrten werden lassen. Für musikalische Untermalung, nicht ganz unwichtig auf einem Open-Format, sorgen außen zehn und innen sieben leistungsstarke Lautsprecher. Wer auf der Suche nach einer vielfältigen Open mit Kraft, Komfort und Klasse ist, den wird die AB 110 begeistern. Die zweite Baunummer wird über Superyachts Monaco für 15,65 Millionen Euro zum Verkauf angeboten.