Sind Sie auch schon einmal mit 60 oder 70 Knoten über das Wasser „geflogen“ und wie fühlten Sie sich dabei – sicher und geborgen, entspannt? Wer dieses besondere Erlebnis bereits erfahren durfte, befand sich wahrscheinlich an Bord eines reinrassigen Renn- oder Supersportbootes. Der Fahrkomfort dürfte dabei eine ebenso zweitrangige Rolle gespielt haben wie ein luxuriöses Interieur, falls der Rumpf nicht sogar komplett leer blieb. Zumindest spiegeln das unsere Erfahrungen in der Redaktion wider, als wir nicht allein dort, aber vor allem während des Cannes Yachting Festivals an Bord diverser Formate in den Genuss solch rasanter Testfahrten gekommen sind. „Atemberaubend“ scheint als Beschreibung dessen fast schon untertrieben, was wir in den letzten Jahren bei über 110, 120 oder gar 130 km/h auf dem Wasser erlebten. Dabei hat es selbst Kollegen mit jahrzehntelanger Erfahrung nicht immer ein Lächeln ins Gesicht gezaubert, sondern dieses auch erblassen lassen und sogar den Angstschweiß auf die Stirn getrieben. Zumindest das drohte uns beim Bord-Besuch Ende September im Fürstentum nicht.
Während die Bolide 80 einige Wochen zuvor in Cannes leider noch mit Abwesenheit glänzte und somit nicht ihr dynamisches Potenzial beweisen konnte, folgt auf der Monaco Yacht Show zumindest ihr statisches Debüt. Dabei wirkt die 24,90 Meter lange Weltpremiere, zwischen den schwimmenden Gigayachten der bekannten Hersteller und den neuesten Wallys im Port Hercule geparkt, zugleich goldrichtig und dennoch falsch am Platz. Zum einen ist es im eigenen Anspruch begründet, in vieler Hinsicht eine echte Yacht zu sein, worauf wir noch eingehen. Zum anderen scheint sie mit ihrem 5,40 Meter schlanken, aerodynamisch optimierten Design nicht in ihrem bevorzugten Element fest vertäut zu sein, sondern geradezu ungeduldig auf die nächste Vollgas-Ausfahrt zu warten. Und exakt das war die Intention des erfahrenen Eigners aus Italien, der vorher
mehrere Boote von Cigarette Racing und Magnum besaß. Des traditionellen Designs jener Boote überdrüssig, suchte er nach etwas Modernerem und einer Yacht mit mindestens 70 Knoten Höchstgeschwindigkeit! Zudem war ihm wichtig, nicht mehr mit 38 oder 40, sondern mit über 50 Knoten „entspannt cruisen“ zu können.
„Viele in der Branche waren skeptisch – nicht allein wegen der geforderten Höchstgeschwindigkeit, sondern auch, weil sie nicht per Wasserjet, sondern mit Oberflächenantrieb und Dieselmotoren erreicht werden sollte“, berichtet Brunello Acampora, Gründer von Victory Design mit Sitz in Neapel. „Wir waren sehr an dem Vorhaben interessiert. Es ist natürlich ein sehr überschaubarer Nischenmarkt, aber die Herausforderung, die schnellste Yacht der Welt zu bauen, hat uns extrem gereizt.“ Honorarfrei arbeitete Acampora ein vielversprechendes Konzept aus, mit dem er seinen geschwindigkeitsaffinen Landsmann direkt überzeugte und zugleich den Bauauftrag erhielt. Für das Designstudio, das seit drei Jahrzehnten unter anderem Prototypen und Vorserienmodelle produziert, stellte der Auftrag allerdings eine große Herausforderung dar: „Doch wir hatten das Glück, dass der America‘s Cup gerade pausierte und die besten Carbon-Experten verfügbar waren.“
So konnte Acampora sein Dream-Team zusammenstellen und mietete sich 2019 bei der Seven-Stars-Werft direkt neben den Hallen von Mangusta und dem Flughafen in Pisa ein. Zwar sorgte die Pandemie auch bei der Pop-up-Werft für Lieferprobleme, Unterbrechungen und Verzögerungen. Doch die Italiener ließen sich nicht beirren und vollendeten ihr Meisterwerk mit drei jeweils 1471 Kilowatt starken MAN-Zwölfzylindern mit 24 Litern Hubraum. Im Mai 2023 gelangte die Bolide 80 schließlich ins Wasser und durfte erste Probefahrten laufen. „Das Boot hat alle Projektziele – sowohl in Bezug auf die Höchstgeschwindigkeit mit über 70 Knoten als auch bei Reise- und Teilgeschwindigkeiten – übertroffen“, kommentiert es Massimo Bruni, der technische Leiter bei Victory Design, und ergänzt: „Dank des innovativen Rudersystems von Dihedral und des aktiven Lenksystems von Xenta bestätigten die Tests die perfekte Manövrierfähigkeit des Bootes bei allen Geschwindigkeiten.“
Das bei Rennbooten bewährte, patentierte T-Drive-Antriebssystem von Flexitab samt Trimmklappen und Automatikmodus vereinfacht zusammen mit den beiden unabhängigen Rudern nicht allein die Steuerung. Letztgenannte fungieren zudem wie Foils und ermöglichen beeindruckende Verbrauchswerte und Reichweiten. Brunello Acampora verweist während unseres Besuchs an Bord gern auf lediglich 13,7 Liter Diesel pro Meile bei 1800 Umdrehungen der drei MAN V12-2000 und beeindruckenden 53 Knoten. Dieser Verbrauchswert sei bei der hohen Reisegeschwindigkeit viel aussagekräftiger als die 729 Liter Diesel pro Stunde und deutlich unter jenem vergleichbar langer Yachten bei deutlich niedrigeren Geschwindigkeiten. Dank des 6500 Liter fassenden Dieselbunkers kommt der sportliche 28-Tonner so auf eine Reichweite von 472 Seemeilen. Nicht minder bemerkenswerte 389 Seemeilen sind es, wenn 2400 Touren und 76 Knoten Topspeed auf den digitalen XL-Instrumenten im vor Fahrtwind und Sonne geschützten Steuerstand angezeigt werden. Der Dieselkonsum pendelt sich dann bei 1268 l/h respektive 16,6 l/sm ein. Ebenfalls Superlativ-Regionen.
Zu verdanken sind diese Fabelwerte auch der von Victory entwickelten Rumpfform mit mehreren Stufen, die während der rasanten Fahrt einen extrem niedrigen Reibungswiderstand erzeugt, sowie dem aufwendigen Leichtbau. Die von Microtex hergestellten Carbonfasern sorgen gemeinsam mit den eigens von Diab entwickelten Strukturkernen außerdem für extreme Steifigkeit. Diese Carbonelemente sind direkt mit dem Rumpf verbunden und unter Deck bewusst sichtbar gehalten. Der Eigner entschied sich bei der ersten Bolide 80, die im Sommer regelmäßig zwischen Ibiza und Formentera pendelte, für ein Layout mit Galley an Backbord, die vom Cockpit über den Niedergang komfortabel erreichbar ist. Vom parallelen Niedergang an Steuerbord geht es zur TV-Lounge, die sich bei Bedarf in eine Gäste- oder Kinderkabine verwandelt. Deren Bad mit Carbon-Toilette und cognacfarben lackiertem Marmorfurnier dient tagsüber auch den Gästen an Bord. Eine weitere Kabine im Heck ist dem Kapitän vorbehalten. Die Eignersuite mit Queensize-Bett befindet sich im Bug, dahinter grenzt der großzügig geschnittene Salon an. Backbords bietet ein Speisetisch acht Gästen Platz, gegenüber orderte der Eigner einen Schreibtisch mit zwei fest integrierten Displays.
Als Kontrast zum Carbon und zu den ebenfalls mattschwarz lackierten Flächen setzte Interieurdesigner Stefano Faggioni aus La Spezia, der bislang vor allem an klassischen Segelyachten arbeitete, zusammen mit dem Inhouse-Designteam von Victory auf cognacfarbenes Leder und Naturfasern wie Leinen, Kaschmir und Seide, unter anderem von Loro Piana. Die Schränke erinnern bewusst an historische Lederkoffer und überzeugen wie das gesamte Interieur mit hochwertiger Verarbeitung. Die Kopffreiheit überrascht positiv für eine Yacht dieser Kategorie und dieser Dimensionen – trotz der Dominanz dunkler Materialien wirken die Räume großzügig und einladend. Auf Wunsch lassen das Oberlicht und die Rumpffenster viel Tageslicht hinein. Alternativ illuminiert die LED-Beleuchtung in den geschwungenen Deckenpaneelen den Salon oder lässt die Möbel auf Licht schweben.
Der Eingang zur Eignerkabine wird an Backbord vom Bad mit großzügig geschnittener Dusche, Carbon-Toilette und -Bidet flankiert. Vis-à-vis wartet ein begehbarer Kleiderschrank, der mit zwei Schränken, einem zentralen Sideboard und der Ledersitzbank ein elegantes Ensemble bildet. Auffällige Schnittmuster in den Lederoberflächen sind vom italienischen Meister der Schnittbilder – Lucio Fontana – inspiriert. Das Queensize-Bett in der „Pole-Position“ scheint auf den zwei Schubladen darunter zu schweben, ein perlgrauer Seidenteppich schmeichelt den Füßen. Spätestens hier beweist die gut zehn Millionen Euro teure Bolide 80, von der eine limitierte Kleinserie von zehn Exemplaren geplant ist, dass sie nicht nur ein überdurchschnittlich schnelles Boot, sondern auch eine höchst komfortable Yacht ist. Doch damit soll für Brunello Acampora und sein Team nicht Schluss sein – weitere Speed-Konzepte bis 170 Fuß Länge sind bereits in Arbeit.