“Kismet“ als schwimmende Kathedrale zu betrachten fällt nicht schwer: eine kühne Konstruktion auf geometrischer Grundlage, gepaart mit filigraner Struktur und hohem Lichteinfall im Innern. Nun gut, der Riss von Nuvolari Lenard lässt Maßwerk missen, aber die furchteinflößende Galionsfigur am Steven ist den dämonischen Wasserspeiern gotischer Fassaden mindestens ebenbürtig. Und auch die Entstehung der gewaltigen Gotteshäuser ist der von Yachten nicht unähnlich. Sie wurden von Bauhütten erschaffen, deren Künstler, Handwerker und Architekten gleichberechtigt am Gesamtkunstwerk Kathedrale arbeiteten. So gesehen wird Lürssen als Bauwerft zum einenden Element und bringt alle Gewerke und Gestalter zusammen.
Bereits das Heck offenbart eine der vielen ingenieurtechnischen Meisterleistungen des 122 Meter langen Kolosses. In Zeiten stetig wachsender Rumpffenster fällt die 4,90 mal 1,30 Meter große Scheibe im Spiegel kaum auf. Dabei ist es die größte Einzelverglasung, die je an dieser Stelle integriert wurde. Die Heckklappe ist ein sensibler Bereich, für den die Klassenvorschriften bislang maximal 60 mal 40 Zentimeter messende Fenster vorsahen. Doch die Gestalter wollten den Beachclub nach außen öffnen – dahinter ist der Yogaraum des Eigners –, und ein Team aus Werftingenieuren und Zulieferern überzeugte die Klassifikationsgesellschaft mit Belastungs- und Drucktests, die sich über eineinhalb Jahre zogen.
Mit den Unterwasser-Fenstern an der Rumpfseite betrat Lürssen kein Neuland, zumindest nicht regulatorisch. Die drei Scheiben messen jeweils 1,10 mal 2,85 Meter, sind zur Hälfte unter der Wasserlinie und bestehen aus 13 Zentimeter dickem Glaslaminat von Seele und Sedak. Auch wenn „Octopus“ bereits 2003 ein Fenster auf der Rumpfunterseite erhielt, ist es die erste Nemo Lounge für die Werft aus Bremen, die „Kismet“ in Schacht-Audorf bei Rendsburg baute. Das dreireihige Theater des Meeres wird zum Kino, wenn der 160-Zoll-Bildschirm von der Decke herunterklappt. Gesteppte Lederwände in Petrol enthalten Lautsprecher, und es mangelt nicht an goldenen Akzenten. Reymond Langton Design (RLD) stellte einen Art-déco-Filmpalast aus dem Hollywood der Zwanzigerjahre nach.
Die Co-Gründerin des Designstudios Pascale Reymond klärt über die stilistische Bandbreite des britischen Interieurs auf: „Der Eigner wollte ein außergewöhnliches Design, mit dem man durch Zeit und Raum reisen kann. Etwas völlig anderes, sehr Avantgarde, aber dennoch zeitlos.“ Die Französin betreute bereits die ersten beiden Lürssens gleichen Namens in 95 Meter (2014, jetzt „Whisper“) und 68 Meter (2007, jetzt „Global“) Länge. Die Entwurfsphase von „Kismets“ 1400 Quadratmeter großen Gästebereichen verschlang 18 Monate.
In einem Zeitreisevehikel wähnt man sich beim Gang durch den gläsernen, abgedunkelten Motorenraum. Zu Beginn des Korridors informieren zwei seitliche Screens über Leistungsdaten, ehe diverse LED-Streifen, Fenster und die hochglanzpolierten SCR-Katalysatoren der Antriebsaggregate Effekte erzeugen, die an den Sci-Fi-Klassiker „Tron“ erinnern. Die Wände des nächsten Flurs schmückt sattelbraunes Leder mit hervorstehenden Nähten im Stile eines Baseballhandschuhs, ein erster dezenter Hinweis auf die Sportverrücktheit des US-Eigners. In der Lobby der Wellness-Suite hat der Eigner beim Sonnengruß – für ihn kommt eine Vollzeit-Yogalehrerin an Bord – eine goldene Plastik im Rücken. Das Antlitz generierte eine KI aus den Gesichtszügen von Mutter, Frau und Tochter. Ein Zen-Bali-Gefühl wollte das RLD-Team mit Steinwänden, dunklem, mattem Holz, Pflanzen und Schilf auf Glas erzeugen. Die Ausnahme bildet der Schönheitssalon, den die Tochter als femininen Bijou-Raum mit handbestickten Tapeten anlegte.
Chartergäste – sie überweisen Cecil Wright mindestens drei Millionen Euro pro Woche – erwarten Fitnessraum, Wasserfalldusche, Wanne für Schlammbäder und ein Therapieraum. Um konzentrisch angeordnete Fußmassage-Ringe und eine Ethanol-Feuerstelle verteilen sich Sauna, Dampfbad, Plunge Pool und Kryokammer. In Letzterer beträgt die Rekordverweildauer fünf Minuten, bei minus 87 Grad Celsius. In den Ozean geht es über die seitliche Terrasse des Gyms steuerbords oder achtern über die Plattform, wo Außenduschen in die muschelförmigen Windfänger integriert sind. Vom Heck führen dramatisch-breite Treppen auf das Hauptdeck und in das Versailles des Sonnenkönigs Louis XIV. Als Foyer fungiert ein Spiegelsaal mit patinahaften Blindeffekten und einer Bar in Stromlinienform. Die Bodenfliesen sind aus französischem Travertin und wie Holzparkett angeordnet.
Pascale Reymond ordnet ein: „Es ist keine bloße Nachbildung klassischen Designs, sondern eine Neuinterpretation mit zeitgenössischen Elementen – ein interstellares Versailles.“ Das dazugehörige Deckenfresko in Anlehnung an die italienische Renaissance wacht in 2,45 Meter Höhe über den Hauptdecksalon und seine modern-barocken Möbel. Räumliche Übergänge sind fließend, und zum Speiseplatz führt kein Weg vorbei an den zwei Ethanol-Kaminen mit ihren reich ornamentierten Fronten aus Travertin. An der Tafel der “Kismet” speisen oder konferieren bis zu 18 Personen, gegenüber einer zweiten Freiform-Bar.
Das Raumgefühl vollends aus den Fugen bringen die Videowände an den vorderen Stirnseiten, die bis zum Oberdeck reichen und Footballspiele, Filme oder Art-déco-Installationen zeigen. Auch hier sorgen Spiegel an der Decke und der flankierende Glasboden der Oberdeck-Galerie für reichlich Reflexionen. Die Raummitte nimmt ein selbst spielender Boganyi-Flügel des gleichnamigen ungarischen Pianisten ein. Ähnlich gewunden gibt sich die zentrale Wendeltreppe, inmitten derer ein sechs Meter (!) langer Kronleuchter aus venezianischem Muranoglas über drei Decks reicht. In Position halten den Lüster goldene Wantenspanner, wie man sie vom Segeln kennt. Das Treppenhaus lebt von der Wechselwirkung aus Glasbalustrade und der Wand aus Ziricoteholz-Leisten vor Textiltapete, die auf Ebene des Kinos dunkelgrün beginnt und nach oben hin heller wird.
An der freien Luft heißt Dan Lenard willkommen. Der “Kismet”-Designer beleuchtet sogleich den Grund für den Studiowechsel; die beiden Vorgängerinnen entwarf Espen Øino. „Der Eigner wollte ein neues Kapitel aufschlagen“, so Lenard selbstbewusst, „er zielte auf etwas ab, das eine hohe Außenwirkung und Reichweite hat.“ Während des Auswahlverfahrens lautete die erste Frage: „Entwerfen Sie oder sind Sie nur der Inhaber des Designbüros?“ Seine den Job bringende Antwort: „Ich bin Designer, ich bin Ihre erweiterte Hand.“ Der gebürtige Slowene gründete das Studio 22-jährig mit dem italienischen Konstrukteur Carlo Nuvolari und zeichnet seine Entwürfe stets analog. „Wir wollten, dass die Signatur von Weitem erkennbar ist, und belebten die Galionsfigur wieder.“ Das Motiv war gesetzt: ein Jaguar. Der sollte nun nicht wie bei der Alten nur zu Spielen des NFL-Teams – die Football-Mannschaft des Eigners heißt Jacksonville Jaguars – auf dem Bugspriet mit ausgestreckter Pranke prangen, sondern klassisch darunter. Mehr noch: Dan Lenard nahm den Jaguar im Sprung als Grundlage für den Radius des Stevens.
Eine weitere Forderung des Eigners bestand in einem schwarzen Büro auf dem vorderen Pooldeck. Der schwarze Teppich gefiel dem Eigner bei der ersten Begehung so gut, dass er ihn gern überall gehabt hätte. Ein Deck höher in seiner Suite liegt cremefarbener Teppich aus Merinowolle, Taiping steuerte Hunderte Quadratmeter Bodenware dazu. Wie schon bei der Vorgängerin diente Coco Chanel als Inspiration für die Beletage, die ein Acht-Personen-Fahrstuhl mit weißem Ledersofa ansteuert. Gäste verteilen sich auf die vier Kabinen des Hauptdecks und auf zwei darunter. Eine dritte Kabine auf dem Unterdeck wird als großer Massageraum zweitgenutzt. Achtern schließt das Pooldeck eine Lounge im Stil von Nikki Beach ab; es ist der von der Ästhetik her ruhigste Raum an Bord, den allerdings zig LED-Streifen zur Disco machen.
Außen zeigen Teppanyaki- und Barbecue-Grill an, dass hier viele Mahlzeiten eingenommen werden – an einer Tafel auf Hockern und Höhe einer Bar für bis zu 14 Gäste. In der Flucht beansprucht der Hauptpool elf Meter in der Länge für sich. Ein 50-Tonnen-Tank nimmt das Poolwasser auf, im eigentlichen Becken schwappen 48 Tonnen über zwei Rundfenstern im Boden. Zum Vergleich: „Kismets“ Frischwassertank fasst 75 Tonnen. Dass das per Wärmerückgewinnung aufgeheizte Wasser im Gästemodus meist nicht abfließen muss, geht auf das Konto der quer verlaufenden Trennwand in der Poolmitte, der seitlichen Überlaufrinnen und der insgesamt vier Flossenstabilisatoren. Kapitän Olav Hinke – er und der Chefkoch begleiten den Eigner seit der ersten Lürssen – erklärt auf der Brücke: „In diesem Sommer ließen wir den Pool in 80 Prozent der Fälle befüllt.“
Quantums XT-Flossen sind fast vollständig einfahrbar und ein zentrales Element des Dynamic Positioning (DP) Systems. Das automatische Position-Halten und Ausgleichen der Schiffsbewegungen bringt nicht nur nautischen Nutzen: „Im Sommer spielten Gäste Pickleball auf dem Vordeck und wollten nicht die Sonne in den Augen haben, wenn sie sich gegenüberstanden. Bei jedem Seitenwechsel drehten wir uns mithilfe von DP.“ Der Steuerstand ist der Ausbaugüte und den komfortablen Sitzgelegenheiten nach auch ein Gästebereich, die Lederarbeiten sind im Stile eines Bentley-Fonds gehalten.
Lürssen entwickelte einen dieselelektrischen Hybridantrieb aus zwei MTU-Dieseln, die über Einzelgetriebe zwei Verstellpropeller antreiben. Diese Getriebe sind mit PTI/PTO-Einheiten ausgestattet, die dieselelektrischen Antrieb bei niedrigen Geschwindigkeiten (Power-Take-In) oder für höhere Geschwindigkeiten die Erzeugung elektrischer Energie per Wellengenerator (Power- Take-Off) ermöglichen. Olav Hinke schaltet sich ein: „Wir benutzen die Wellengeneratoren regelmäßig. Dann können wir alle Hilfsgeneratoren abschalten. Das ist effizienter und spart Betriebsstunden.“ Der von Lürssens Ingenieuren berechnete Stahlrumpf kommt auf 99 Meter Wasserlinienlänge und pflügt mit maximal 18 Knoten durch die See. Voll gebunkert mit 300 Tonnen Diesel geht es bei einer Reisegeschwindigkeit von zwölf Knoten 6.000 Seemeilen weit.
Eine weitere technische Premiere für Lürssen war die Maßgabe für vollelektrisches Reisen. „Während der Gespräche mit dem Eigner entwickelte sich der ursprüngliche Plan für den Antrieb von einem hochmodernen Maschinenraum zu dem Wunsch, die Yacht ausschließlich mit Batterien zu betreiben“, sagt Projektmanager Thorsten Göckes. Der Energiespeicher setzt sich aus sechs Orca-Batteriebänken von Corvus mit einer Gesamtkapazität von 640 Kilowattstunden zusammen. „Wir können etwa 15 Minuten lang mit acht Knoten fahren oder decken den Hotelbetrieb für zwölf Stunden ab. Obwohl die Generatoren ohnehin so leise sind, dass man den Unterschied gar nicht merkt“, lacht Hinke. Flüsterleise dringt der „Kismet“-Kapitän in ökologisch sensible Gebiete vor oder nimmt spontane Positionskorrekturen vor, ohne das Hauptantriebssystem hochfahren zu müssen.
Als die neue „Kismet“ wird man die 122 Meter in weiter Entfernung ausmachen. Dan Lenard: „Yachten werden normalerweise immer technischer, je weiter man nach oben kommt. Hier kaschiert der Mast nicht nur Generator und Navigationsgeräte. Er ist das Hauptdesignerlebnis für Personen an Bord.“ Darin in Grau enthalten: Arm und Bogen des ‚K‘-Logos. Zudem bedecken hochglanzpolierte Edelstahlstangen die Lüftungsschlitze. Zum Speiseplatz im Innern der Haube führt eine zweiläufige Treppe, wie sie sonst exponierten Beachclubs vorbehalten ist. Davor steht ein Whirlpool mit Flachwasserbereich für Kinder, und auf dem runden Überhang dahinter baut die Crew ein DJ-Pult auf. Auch wenn von dieser Art Kanzel kaum Orgelklänge kommen werden, passt es ebenso in das Bild einer schwimmenden Kathedrale wie der skulpturale Mast.
Nahtlos knüpft die neue an den Charter-Erfolg der alten „Kismet“ an, Gäste schätzen die äußere Wirkmacht und innere Vielschichtigkeit. Im ersten Sommer nach der Ablieferung im Mai gingen bei Cecil Wright Buchungen für insgesamt sechs Wochen ein. Zur Popularität trägt auch die 37-köpfige Crew bei. Die Besatzung speist und verweilt in einer lichtdurchfluteten Messe, die alle Beteiligten im Hinblick auf Komfort und Gestaltung als nie da gewesen bezeichnen.