Das Rauschen in den Baumkronen am Kanalufer ist fast verschwunden, die Brandung an den Molen, die Schaumkronen weiter draußen. Nach dem Sturm kann Nieuwpoort wieder das sein, was es ist: ein Seebad an der Nordsee, ein Ferienort im Frühsommer. Solche Tage gehören hier ohnehin immer dazu. Und ein bisschen Zuckersand auf dem Zitroneneis hat schließlich noch niemandem den Strandurlaub verdorben.
Wir sind im Norden Belgiens. Kuststreek nennen die Flämisch, oder Vlaams, sprechenden Bewohner die Region, „Küstenstreifen“. Der misst rund siebzig Kilometer von der niederländischen bis zur französischen Grenze, Nieuwpoort ist sein westlichster Hafen. Gestern waren wir selbst noch auf dem Zeedijk, der Strandpromenade, die an der Mündung der Yser beim Lotsenturm beginnt. Doch selbst wenn der einwöchige Chartertörn, der vor uns liegt, so nah am Meer beginnt, er wird ins Binnenland führen, über die Wasserwege Flanderns zu seinen glanzvollen Metropolen: Brügge und Gent.
Motor an! Die Tropfen auf den Handläufen unserer weißen Horizon beginnen zu zittern. Noch ist der Himmel von Flandern mit dunklen Wolken vollgepackt. Wir verlassen die Westhoek Marina mit der Charterbasis von Le Boat, die Start und Ziel sein wird, und beginnen unsere Reise auf den Kanaal Plassendale-Nieuwpoort. Sofort melden wir uns telefonisch bei der ersten Brücke, der Rattevallebrug. Der Mitarbeiter ist nett, möchte aber trotzdem, dass wir erst mal näher rankommen. Okay, bedankt!
Die ersten Kilometer zeigen, wie es die nächsten Stunden werden wird: Gerade zieht der Kanal dahin, parallel zur etwa drei Kilometer entfernten Nordsee, eingefasst mit Spundplatten aus Beton. Rechts verläuft die Straße, links ein Radweg. Dahinter Weiden, Wiesen und Felder. Ein geordnetes Fleckchen Erde. An der Brücke wartet schon ein anderes Charterboot.
Nach zwanzig Minuten springt die Ampel auf Rot-Grün. Die Klingel rasselt, die Straßenschranken schließen. Dann öffnet die erste von vielen Brücken auf diesem Törn. Wir können passieren, nun schon zu viert: Eine weitere Horizon hat aufgeschlossen, dahinter ein privates Kajütboot. Seewärts zieht sich die Strandbebauung von Middelkerke entlang, ein Tsunami aus Beton, zehnstöckig erstarrt. Ansonsten ist das Land flach; viel höher als auf der Flybridge unserer Horizon kann man hier nicht hinauskommen. So geht es ganz gemächlich weiter, noch gemächlicher als an Land: Viele Radler sind unterwegs. Ein Rennsportteam in Einheitskleidung überholt uns, dann ein Pärchen Best Ager – auf E-Bikes.
Nach der Zandvoordebrug in Oudenburg naht das Ende des Kanaal Plassendale-Nieuwpoort. Zwanzig Kilometer liegen hinter uns, als wir in die Plassendalesluis einlaufen. Die Kammer ist ausladend, eher ein Becken, unser Konvoi aus inzwischen fünf Booten verliert sich fast darin. Gerade jetzt setzt harter, kalter Regen ein. Mit aufgespanntem Knirps steht René auf dem Vorschiff, die triefende Leine in der Hand, bis zur Ausfahrt auf den Kanaal Gent-Oostende. Jetzt biegen wir nach rechts in Richtung Brügge ab, landeinwärts. Links kämen wir nach Oostende – und zurück zur Nordsee.
Der Kanal ist eine schöne Überraschung: Wo ich eine einbetonierte Wasserautobahn erwartet hatte, windet er sich wie ein Fluss durch die hübsche Landschaft von Flandern, eingerahmt von hohen Bäumen. Noch ein Schauer, dann kommt die Sonne heraus – wie angekündigt. Vom unteren Fahrstand wechseln wir noch einmal nach oben auf die Flybridge, zum Glück bietet unser Boot diese Möglichkeit. Der Sommer hat uns wieder! Nach knapp fünf Stunden sind die urbanen Ausläufer Brügges erreicht.
Den Auftakt macht die Scheepsdalebrug. Die moderne Konstruktion ist als Wippbrücke ausgeführt, bei der man im geöffneten Zustand unter der nun ausreichend angehobenen, dafür dramatisch zum Wasser geneigten Fahrbahn hindurchfährt. Am Kolenkaai dahinter reihen sich imposante Hausboote aneinander, aufwendig umgebaute Binnenschiffe, zum Teil sehr nobel: schwimmende Lofts mit großen, in die Bordwände geschnittenen Fenstern. Ein Laderaum als Wohnzimmer, eine Frachtluke mit Whirlpool? Nicht schlecht.
Durch die beschauliche Vorstadt kommen wir zur fast kreisrunden Dammeportsluis, in der es an der Mauer ordentlich strömt. Während die letzte Schleuse fast nur eine Niveauschleuse war, geht es jetzt gut anderthalb Meter nach oben. So erreichen wir die Ringvaart um die Stadt. An Steuerbord ehemalige Wallanlagen, heute ein Park mit Joggern, Spaziergängern und vier majestätischen Windmühlen – alle mit Namen: De Coelewey, De Nieuwe Papegaai, Sint-Janshuismolen und Bonne-Chière.
Per Telefon melden wir uns beim Passantenhaven Coupure an, sodass die Fußgängerbrücke über der Einfahrt am rechten Ufer bereits angehoben ist, als unser kleiner Konvoi um die Ecke biegt und in den Hafen einfährt. Hübsch hier! Yachten liegen längsseits an der Mauer, mit Sonnen- statt Regenschirmen, flankiert von mächtigen Kastanien und Backsteinfassaden. Wir werden ganz nach hinten durchgewunken, drehen und legen beim alten Schleusentor an. Die Frau des Hafenmeisters koordiniert die Aktion, mit den anderen Booten unseres Konvois hat sie einiges zu tun. Wir bezahlen und verabschieden uns zum Landgang.
Die Geschichte Brügges ist glanzvolles Beispiel einer mittelalterlichen Erfolgsgeschichte in Flandern – und für die kleinen Zufälle, die von Zeit zu Zeit dabei helfen. Im Jahr 1134 trieb eine schwere Sturmflut die Mündung des Flusses Zwin weit ins Binnenland hinein, beinah bis vor die Tore Brügges. Fast über Nacht kam man so ganz unverhofft zu einem direkten Zugang zur Nordsee und die heimischen Kaufleute ließen sich nicht lang bitten. Schnell wuchs ein Umschlagplatz heran für den Handel mit Wolle, Tuch und anderen Waren aus ganz Europa – von Pelzen aus Karelien bis zu norditalienischem Brokat.
Dieser stetige Strom steigerte die Bedeutung der flämischen Stadt und spülte klingendes Gold in die Kassen der Beteiligten. Der Bund der Hanse trug zusätzlich dazu bei, Bedeutung und Wohlstand weiter zu mehren. Die prächtigen Kaufmannshäuser und Kontore mit ihren Treppengiebeln und gotischen Bögen, nicht zuletzt das opulent verzierte Stadhuis von 1400, zeugen davon.
Doch als das Zwin im 16. Jahrhundert wieder zu versanden begann, verlor Brügge seinen lebenswichtigen Anschluss; ein allmählicher Niedergang setzte ein. Der darauf folgende Dornröschenschlaf der Stadt trug jedoch dazu bei, den mittelalterlichen Charakter zu bewahren. Und so wurde das historische Zentrum von Brügge im Jahr 2000 in die Liste des UNESCO-Weltkulturerbes aufgenommen, als Anerkennung für sein Ensemble aus einzigartiger Architektur und bedeutsamer Geschichte.
Davon sehen wir schon jede Menge auf unserem Fußweg vom Hafen zum Grote Markt, dem zentralen Platz Brügges. Durch den Koningin Astridpark kommen wir bei Sonnenschein zum Rozenhoedkaai und schließlich zur Wollestraat. Die Flut der Touristen reißt uns mit. Wer dem Strom entkommen will, rettet sich in eine der zahlreichen Konditoreien, Chocolaterien und Kneipen. Denn dort warten die anderen Kulturgüter von Flandern darauf, entdeckt zu werden: Waffeln, Pralinen und Bier – gerne auch kombiniert.
Auf dem Platz schauen wir zum Belfort auf, dem ikonischen Glockenturm aus dem 13. Jahrhundert, der noch heute weithin sichtbar vom einstigen Ruhm der Stadt kündet, probieren heiß und fettig ein weiteres belgisches Nationalgericht (Pommes frites) und löschen schließlich unseren Durst im schattigen Innenhof der Brauerei Bourgogne des Flandres in der Kartuizerinnenstraat, keine fünf Minuten vom Trubel auf dem Grote Markt entfernt. Denn wie ringsumher gibt es auch hier echte Schätze zu entdecken: Blond, Roodbruin und Fruit Lambiek funkeln vor uns um die Wette.
Nach unserer Zeitreise ins Mittelalter kehren wir in den Hochsommer zurück; auf der Ringvaart am nächsten Morgen brennt bereits die Sonne auf uns herab. Wir passieren das Gentpoort aus dem 14. Jahrhundert, eine Yogagruppe auf der Uferwiese und kurz darauf den Wasserturm. Der wurde zwar erst 1925 errichtet, kopiert den mittelalterlichen Stil aber so gut, dass er sich selbst als Fake perfekt ins Stadtbild einfügt.
Dass der Kanaal Gent-Oostende auch eine Großschifffahrtsstraße ist, wird uns kurz darauf am südlichen Ausgang Brügges bewusst: Völlig überraschend kommt uns an einer unschuldig wirkenden Stelle ein ausgewachsenes Motortankschiff entgegen. Zum Glück passen wir auf und können rechts ran, bevor es richtig eng wird – denn beiderseits der „Birgit Deymann“ bleiben nur ein paar Meter. Ab jetzt checken wir Vessel Tracker auf dem Smartphone, um vor weiteren Überraschungen verschont zu bleiben.
Allerdings durchfahren wir kurz darauf die Steenbruggebrug und sind zurück im Grünen. Der Kanal wird deutlich breiter und nur noch von Radwegen begleitet. Vogelgezwitscher klingt über das Wasser, auf den Weiden grasen Kühe. Baumreihen und Felder säumen die Ufer, deren Steinschüttungen hinter Schilf und Buschwerk verschwinden und die künstliche, regulierte Wasserstraße nur noch erahnen lassen. Nur hin und wieder überspannen Brücken den Kanal und verbinden kleine Ortschaften am Ufer. Etwa Beernem mit der Sint-Joriskerk am Wasser oder Buntelaare, das aus einer Reihe von Häusern auf dem Deich besteht. Kaum ein Hauch geht noch, die Sonne brennt und die Nordsee scheint hier, mitten in Flandern, nun sehr weit weg.
Etwa viereinhalb Stunden nach dem Start in Brügge wird es hinter Lovendegem urbaner. Wir nähern uns der zweiten Metropole dieser Reise: Gent. Zunächst erreichen wir um kurz vor 14 Uhr das Wasserstraßenkreuz im Nordwesten der Stadt – denn im Gegensatz zu Brügge verfügt Gent über einen großen Seehafen und dementsprechend mehr Zubringerverkehr. Der Zeekanaal verbindet Flandern mit der Westerschelde im niederländischen Terneuzen.
Für uns geht es aber auf die Genter Ringvaart, die im wahrsten Sinne den Mittelstreifen einer mehrspurigen Schnellstraße bildet. Rechts und links Verkehr, wir mittendrin. Die Geräuschkulisse entsprechend. Zum Glück können wir bald in die Leie abbiegen, einen schmalen Fluss, der mitten ins Zentrum von Gent führt. Die Route führt unter einer Eisenbahnbrücke hindurch, an hohen Wohnblocks vorbei und schließlich in dichte Bebauung, eine zum Teil edle Verbindung von altem Mauerwerk und modernen, bodentiefen Fenstern direkt am Wasser. Kurz darauf machen wir in der sanft strömenden Leie mit dem Heck am Steg des Passantenhaven Lindenlei fest, gleich gegenüber dem Justizpalast.
Der große Unterschied zwischen Brügge und Gent liegt nicht in der Größe (mit einer Viertelmillion Menschen hat Gent etwa doppelt so viele Einwohner) oder in der historischen Bausubstanz. In diesem Bereich liegt Brügge klar vorn, auch wenn sich Gent nicht zu verstecken braucht: Die schon vom Boot aus sichtbare Sint-Michielskerk, die Sint-Baafskathedraal und nicht zuletzt die mittelalterliche Wasserburg Gravensteen, Sitz der Grafen von Flandern, sprechen für sich.
Der Kontrast besteht in der Selbstwahrnehmung. Während Brügge das Vergangene in Flandern möglichst pur zu bewahren strebt, lebt Gent in der Gegenwart. Nirgendwo sonst könne man so schnell zwischen dem 14. und dem 21. Jahrhundert hin- und herwechseln. Kein Wunder bei einer internationalen Universität, die Verbindungen in alle Welt pflegt. Rund 50.000 Studenten sind hier eingeschrieben und füllen Plätze, Parks und Kneipen. Das sorgt für buntes Leben – manchmal im wahrsten Sinn. Eine Streetart-Künstlerin in der Graffitistraatje bringt es auf den Punkt, als sie mitten im Herzen der Stadt auf die bunt besprühten Wände der Gasse zeigt: „Das“, sagt sie lachend, „würde man in Brügge nie erlauben.“
Hat man jemals genug Zeit, eine Stadt richtig kennenzulernen? Für uns heißt es am nächsten Morgen schon wieder Abschied nehmen, die zweite flämische Metropole liegt hinter uns. Was noch folgt, ist die lange Rückreise nach Nieuwpoort. Die Strecke wird dabei im weiteren Verlauf die gleiche wie auf dem Hinweg sein, mit einem zweiten Stopp in Brügge und einem letzten Halt in Oudenburg am Kanaal Plassendale-Nieuwpoort, von wo aus wir mit den Bordfahrrädern nach Oostende radeln werden. Noch mal der Kuststreek mit Nordsee-Feeling. Ein schöner Ausflug, man könnte den Tag aber stattdessen auch für einen längeren Aufenthalt in Gent nutzen.
Vorher schlagen wir aber noch einen Haken: Denn es geht nicht sofort zurück auf die Ringvaart Richtung Brügge, sondern darüber hinaus, quer über den Kanal und geradeaus weiter auf der Leie. Denn der nun folgende Abschnitt des Flusses bis zur kleinen Stadt Deinze (wo wir noch eine Nacht verbringen werden) gilt als das schönste Binnengewässer Belgiens. Kaum reguliert zieht die Leie nun Schleife um Schleife durch die Landschaft, entlang der Ufer – manchmal hinter Weiden verborgen, manchmal auf manikürten Rasenflächen zur Schau gestellt – moderne Villen und herrschaftliche Häuser als Ausdruck individuellen Erfolgs und Wohlstands in Flandern. Ein kleines Brügge im Grünen. Doch wie viel davon in 500 Jahren noch zu sehen sein wird, muss die Zukunft zeigen.