Text: Michael Junker
Ankunft in Inari, Lappland, 260 Kilometer nördlich des Polarkreises. Etwa 450 Einwohner hat der Ort, Finnen und Samen. Wir fahren gleich zum Hafen am Seeufer, die Gegebenheiten dort kennen wir nur von Google Maps und vom Foto eines Freundes. Vom offenen Inarijärvi und seiner weiten Wasserfläche sieht man nichts. Es liegen zu viele Inseln vor der Bucht.
Wir fragen nach dem Hafenmeister, Fehlanzeige. Man kommt mit seinem Trailer, ganz entspannt, es wird ja nicht dunkel, schiebt das Boot ins Wasser und schippert los – da braucht man nicht zu fragen. Also auf ins Abenteuer! Der Tegernsee daheim am Fuß der Alpen hat acht Quadratkilometer und eine Insel, der Inarijärvi 1100 Quadratkilometer und 3000 Inseln.
Der erste Eindruck: eisig, mit Gegenwind und Schaumkronen. Die Wassertemperatur liegt bei 15 Grad. Mitseglerin Mia hat schlauerweise schon das Ölzeug an. Doch unser Trimaran schneidet gut durch die Wellen, vier bis fünf Knoten können wir halten, und so erreichen wir nach einigen Stunden unser erstes Tagesziel, Pielpavuono.
Ich bin erledigt. Nach der langen Anreise mit VW-Bus und Trimaran auf dem Trailer von Bad Tölz nach Travemünde, dann per Fähre nach Helsinki, und anschließend noch einmal zwei Tage nordwärts bis hier hinauf, fällt die ganze Anspannung nun mir ab. So oft hatte ich mich gefragt, ob ich es jemals schaffen würde, mit dem eigenem Boot über den Polarkreis zu gelangen. Einmal im Leben die Mitternachtssonne sehen! Jetzt sind wir hier. Zugegeben wir haben getrailert, aber der Tri ist auch nicht für Seereviere gedacht.
Am Anleger kommen mit einem Einheimischen ins Gespräch. Er weist auf die Tücken des Sees hin: Ankern sei meist unmöglich, zu viele große Felsen und Steine gäbe es am Grund. Windrichtung und -stärke könnten schlagartig wechseln und der Wetterbericht sei maximal für einen Tag brauchbar, erklärt er. Am besten wären noch die Daten von YR aus Norwegen.
Auf der Insel Ukko gibt es entgegen Karte und Google Earth keinen Anleger mehr. Das ist auch gut so, wenn den Samen die Insel heilig ist, wie wir von ihm erfahren, dann müssen wir Touristen nicht auch noch darauf rumtrampeln. Es gibt ja noch 2999 andere Inseln.
Wir ankern stattdessen vor Hautuumaasaari, eine der wenigen Inseln mit Sandstrand, und paddeln ans Ufer. Der Sand ist warm, die Luft klar und die Farben leuchten intensiv. Im Wald ist es so still, dass man nur das Rauschen in den eigenen Ohren hört. Der Waldboden duftet nach Kiefernharz und Birken. Da stehen wir plötzlich vor ausgeblichenen Holzkreuzen – Hautuumaasaari ist eine von zwei Friedhofsinseln auf dem Inarijärvi. Es liegt am Sandboden. Andernorts besteht alles aus Felsen und großen Steinen mit nur einer dünnen Schicht aus Moos und Flechten darauf. Das letzte Begräbnis hier fand 1904 statt.
Weiter geht’s. Mia ist die beste Steuerfrau der Welt, Ich kümmere mich um die Segel und die Navigation. Einen Plotter haben wir nicht. Ich mache alles mit dem Finger auf der Karte, dem Fernglas in der Hand und einem Auge auf dem Tiefenmesser! Das Inselgewirr ist schon sehr anspruchsvoll. Ein Felsen mit fünf Bäumen drauf hat auf der Karte einen Millimeter Durchmesser. Zum Glück gibt es ab und zu ein Seezeichen. Gegen 18 Uhr erreichen wir den Anleger auf Suovasaaret, kochen Abendessen und legen uns glücklich in unsere Minikajüte. Das war mit Abstand der bislang schönste Segeltag meines Lebens!
Von einer Insel zur nächsten: Die nächste Nacht verbringen wir auf Kahkusaari, nach einem verregneten Tag scheint wieder die Sonne, als wäre nichts gewesen, und der Wind weht schwach aus Ost – ideal. Wir fahren eine Viertelstunde mit Motor, dann folgen wir einem gewundenen Fahrwasser unter Segeln und als wir es zwischen zwei Inseln verlassen, sehen wir zum ersten Mal den offenen Inarijärvi vor uns! Faszinierend – du kommst aus dem Wald und siehst auf einmal vor dir kein Land mehr!
Wir gleiten fast lautlos über das Wasser und segeln bis zum anderen Ufer. Dann schaue ich, ob ich irgendwo ein Seezeichen sehe. Es gibt ab und zu große weiße Schilder mit einem schwarzen Buchstaben drauf. Das ist sehr praktisch. Sonst schaue ich auf dem Handy, noch ist ein wenig Empfang. Es dauert dann immer ein wenig, die Umrisse der Inseln auf dem Bildschirm mit der Karte abzugleichen.
Wir landen auf der Insel Pikku Kahkusaari, am nächsten Tag ankern wir an einer Hüttenansammlung, die genau wie die anderen ausschaut – aber auf unserer Seekarte nicht rot eingezeichnet ist. Wir sind noch nicht richtig fest, da kommt ein bärtiger Hüne und ruft in gebrochenem Englisch: „Go away, it‘s private!“ Okay, okay, also wieder Anker auf! Leider hat er sich verkeilt. Wir versuchen es mit Motor und ein wenig Schwung. Es klappt! Merke: Nur rot eingezeichnete Anleger anlaufen und eine Tripleine am Anker ist auch nicht verkehrt! Es gilt zwar das Jedermannsrecht, aber privat ist tabu!
Ausweichziel ist eine kleine Bucht vor dem Ort Käyräniemi. Wir finden sie zufällig, als die Seezeichen in der Karte nicht so recht mit der Ansteuerung in Natura zusammenpassen wollen. Wir fahren vorsichtig hinein. Wassertiefe 1,5 bis zwei Meter. Der Untergrund schaut moorig aus, ideal! Die Bucht ist nach Norden offen und es soll klar bleiben. Ich stelle den Wecker auf Mitternacht – denn heute können wir endlich die Mitternachtssonne sehen. Alle anderen Anlegestellen lagen bislang nach Süden, im Norden Stand der Wald im Weg.
Wir nehmen Kurs auf die zweite große offene Wasserfläche im Norden des Inarijärvi. Ab jetzt hat das Handy keinen Empfang mehr. Wir suchen unseren Anleger, während Mia langsam am Ufer entlang steuert – immer mit einem Auge auf dem Tiefenmesser. Wir sind schon fast vorbei, dann sehen wir den Steg in einer winzigen Bucht, eine kleine Insel mitten in der Einfahrt. Wir liegen bestens geschützt, das Boot können wir hier nur mit der Hand drehen, so eng ist es. Vielleicht die schönste Anlegestelle bisher. Der Ort heißt Pisteriniemi, mit 69° 11´ Nord ist er gleichzeitig unser nördlichster Punkt.
Als wir am nächsten Morgen zurück auf den offenen See kommen, weht nur ein lauer Wind. Doch plötzlich ruft Mia: „Schau mal, der dunkle Streifen voraus auf dem Wasser!“ Ich nehme mir dem Fernglas. Schaumkronen! Da geht es auch schon los. Wir versuchen es noch eine halbe Stunde, dann werden die Wellen zu hoch und wir kehren um. Aber wo ist die Einfahrt zum Anleger? Der Uferwald wirkt wie eine grüne Wand. Wir sind doch erst vor anderthalb Stunden da rausgefahren!
Große Erleichterung, als wir sie entdecken. Wir verkriechen uns und machen erst einmal Brotzeit. Später paddeln wir zum Eingang des Fjords und schauen, ob wir einen Wetterbericht aufs Handy bekommen. Der weite See ist spiegelglatt. Vor vier Stunden hat das Wasser noch gekocht! Am Strand beginnt der Bewuchs erst zwei Meter über der Wasserlinie – kein Wunder. Zwei Tage später erreichen wir unseren östlichsten Punkt: Speinniemi. Von hier ist die russische Grenze nur noch zehn Kilometer entfernt. Weiter fahren wir nicht, wir wollen keine Probleme.
Nun geht es wieder nach Westen. Der Wind schiebt schwach, das mag der Tri gar nicht. Dazu müssen uns genau an das Fahrwasser halten. Wir probieren Schmetterling, Großsegel und Code Zero, mit leidlichem Erfolg. Nach zwei Stunden können wir nach Süden abbiegen, doch der Wind dreht mit. Das Groß kommt runter, mit Code Zero allein geht viel besser! So rauschen wir durch die Engstellen zwischen den Inseln immer der Sonnenspur nach. Das Wasser des Inarijärvi glitzert und funkelt, so ein Licht hat man nur im hohen Norden.
Um halb vier legen wir an einen sehr kurzen Steg in Korkia-Maura an. Hier soll es eine besondere Höhle geben. Mia findet den Eingang. Eine kleine abenteuerliche Holztreppe führt nach unten, dann steht man auf blankem Eis. Es verschwindet selbst im Sommer nicht. Uns wurde erzählt, dass Jäger diesen Umstand früher nutzten, um Jagdbeute zu lagern.
Später auf Iso Jääsaari nehmen wir den westlichen Anleger. Da kommt ein kleines offenes Motorboot mit einem Finnen. Ich helfe beim Anlegen und leihe ihm eine Leine. Er drückt mir aus Dank in die Hand. Wir freuen uns sehr. Leider haben wir keine Ahnung, wie man den frischen Fang ausnimmt! Die Verständigung ist mit Worten nicht möglich – er spricht nur Finnisch. Aber mit Händen und Füßen klappt es, und er zeigt uns, wie es geht. Wir braten den Fisch, dazu gibt es Reis, Erbsen und Champignons aus der Dose. Köstlich.
Vom Anleger am Inarijärvi aus kann man einen etwa 100 Meter hohen Felsengipfel sehen. Wege gibt es nicht nur ab und zu kleine Trampelpfade oder Spuren, die sich verlieren. Ich habe keine Probleme mich im Wald zu orientieren – das mache ich zu Hause seit meiner Kindheit. Nach einer halben Stunde bin ich oben. Ich versuche, ein Foto vom Trimaran zwischen den Bäumen hindurchzumachen, doch die Mücken sind einfach überall. Wenn man in Bewegung bleibt, geht es, aber wehe man bleibt stehen, dann fallen sie über dich her und man wird man sie nur sehr schwer wieder los.
Es wird kälter, Regen setzt ein. Wir ziehen in die kleine Hütte, heizen den Ofen ein und genießen die Wärme. Die Sicht wird immer schlechter, wir sehen nicht mehr zu den gegenüberliegenden Inseln, die nur ein paar hundert Meter entfernt sind. Unsere Behausung ist die bisher älteste, die wir sehen, aber sehr gepflegt und sauber. Wir lesen, hören Radio oder lauschen den Regentropfen auf dem Dach. Hier kann man es aushalten, und da es weiter regnet, bleiben wir gleich noch eine zweite Nacht.
Der Wind bleibt. Eine Insel weiter auf Kaamassaari drücken uns die Böen so heftig an den Steg, dass wir weitermüssen. Dieser Platz ist völlig ungeschützt und die nächsten Tage soll es noch ungemütlicher werden. Nach dem Ablegen setzen wir die Fock und rauschen mit sieben Knoten Richtung Südwesten. Wir queren eine Winddüse und müssen das Segel runternehmen, doch nach einer Viertelstunde unter Motor sind wir erneut in der Abdeckung der Inseln und wir können in Ruhe weiter nach Hoikka Petäjäsaari.
Anscheinend ein beliebter Ort! Hier sieht man Motorboote und private Hütten am Ufer, auch größere. Während wir die Umgebung beobachten, fällt meine Lesebrille ins Wasser. Durch die Wolken ist es schon zu dunkel zum Tauchen, ich warte bis zum Morgen. Zum Glück ist es nicht Tief und ich finde die Brille beim ersten Versuch. Nach wenigen Stunden ist sie bereits mit einem feinen Belag überzogen. Leicht zu beseitigen, denke ich. Von wegen! Selbst mit Spülmittel bekomme ich nur die Gläser sauber. Interessant.
Im Süden sehen wir in einem Kilometer Entfernung höhere Felswände aufragen. Unsere Wanderung führt weglos über Stock und Stein. Beidseits Felsen, Flechten, Moose und verkrüppelte Bäume, darüber blauer Himmel und weiße Wolken. Doch zum zweiten Mal an diesem Tag stellt sich heraus, wie hartnäckig die Natur hier oben ist – denn die Mücken lassen sich selbst vom Wind nicht vertreiben und nutzen jede Unaufmerksamkeit gnadenlos aus.
Da freut man sich schon fast, dass Sturm angesagt ist! Unser Kreis schließt sich ohnehin langsam, und da wir für das angekündigte schwere Wetter einen sicheren Platz benötigen, wählen wir einen Ort, den wir schon von unseren ersten Tagen auf dem Inarijärvi kennen: Suovasaaret. Wie beim ersten Besuch legen wir uns hinter den Kopfsteg, mit dem Bug in Richtung des vorhergesagten Windes. Wir bringen extra viele Leinen aus und gehen beruhigt in die Koje.
Gegen Mitternacht fängt es zu hacken an und das Boot zerrt stärker an den Leinen als erhofft: Die Wellen laufen ungebremst unter dem Steg durch. Am Morgen verziehen wir uns todmüde in die Hütte an Land und machen ein Feuer. Kalt ist es nicht, aber die Wärme tut gut und wir können Schlaf nachholen. Mittags bauen wir mit einem alten Baumstamm dann einen schwimmenden Wellenbrecher für den Tri. Das Schiff liegt jetzt viel ruhiger.
Am nächsten Tag legt der Wind immer mehr zu. Gut, dass wir in der Hütte geblieben sind. Schaumstreifen wehen in die Bucht. Aber es ein grandioses Wetterschauspiel! Die Sonne wechselt sich immer wieder mit Wolken und Regenschauern ab. Mia geht in den offenen Shelter und fängt groß zu kochen an, wir können eh nicht weiter. Sie ist begeistert von der Aussicht und sagt, es sei die schönste Küche der Welt. Ein großes Fenster, ein Tisch mit Bänken, ein Eimer und unser Raketenofen. Luxus ist relativ.
Es wird noch besser: Ab 17 Uhr soll es schlagartig nur noch zwei Windstärken und Sonne geben – und das Wunder geschieht tatsächlich: Wie auf Knopfdruck flaut es ab, die Wolken reißen auf. Unter Motor verlassen wir das Inselgewirr nach Nordwesten. Auf dem offenen See dreht die Brise von Süd auf Nordost. Perfekt! Wir können Segel setzen, voraus ein dramatischer Himmel mit tiefliegender Sonne. Ich schalte das Radio ein, einen Klassiksender, Klänge von Wagner. Passender könnte die Untermalung kaum sein.
Später sind wir in Pielpaniemi. Es gibt Nudelsuppe mit Tee, dazu ein Stück Schokolade. Mia geht schlafen, aber ich bin noch total aufgedreht. Während sich die letzten Wolken in Wohlgefallen auflösen und der Wind fast einschläft, denke ich daran, dass ich einmal um Mitternacht bei Sonnenschein segeln wollte. Wenn nicht jetzt, wann dann? Mia bleibt in der Koje, also lege ich allein ab, setze die Segel und fahre etwa drei Kilometer nach Süden, bis die Bäume klein genug sind. Jetzt um Mitternacht steht die Sonne schon sehr tief, ist aber noch vollständig zu sehen. Dass ich das erleben darf.
Wir hätten zwar noch ein paar Tage, aber schon für morgen ist erneut Regen angesagt. Da fällt die Entscheidung leicht: Weil man immer dann aufhören soll, wenn es am schönsten ist, segeln wir bei strahlendem Sonnenschein zurück nach Inari, zum Ausgangspunkt unseres Abenteuers nördlich des Polarkreises.
Nach drei traumhaften Wochen slippen wir den Trimaran aus dem Wasser und bauen ab. Doch etwas Zeit bleibt ja noch: Also verbringen wir die eine Nacht im VW-Bus auf dem Campingplatz, lassen dann den Trailer stehen und fahren zum Nordkapp. Es sind nur 380 Straßenkilometer. Eine Kleinigkeit, wenn man schon mal hier oben ist!