PolenGeniale Idee – der Oberländische Kanal

Christian Tiedt

 · 12.10.2025

Über fünf Rollberge überwindet der Kanal die 100 Meter Höhenunterschied zwischen Ostseeküste und Oberland. Hier ist unser Charterboot auf dem Weg nach oben.. | Gerald Penzl
Mit dem Charterboot ins Oberland, Teil 1: Zu Beginn unserer Reise von Elbląg nach Iława steht ein technisches Wunderwerk auf dem Programm - die Rollberge am Oberländischen Kanal.

Teil 2 der Reportage finden Sie hier!

D​ie Autos rollen weiter über die Hubbrücke in Rybina. Es ist kurz vor 15 Uhr, eigentlich müsste sie sich für die Schifffahrt öffnen, doch vom Brückenwärter fehlt jede Spur. Dafür ist die Wiese nebenan schwarz vor Menschen: Unter großem Applaus liefern sich muskelbepackte Recken ein wildes Show-Gefecht. Das Ganze ist eine Hommage an den polnischen König Kazimierz IV. Auf den Tag genau vor 561 Jahren hatte er in heiliger Allianz mit dem preußischen Städtebund die Flotte der Deutschritter im Frischen Haff zu den Fischen geschickt. Und damit das Ende der machtgierigen Ordensritter im Nordosten Polens eingeläutet.

Start auf der Szkarpawa

Punkt 15 Uhr: Der Brückenwärter erlöst uns per Knopfdruck von allen Zweifeln. Jochen am Steuer unserer Vistula Cruiser 30 S gibt Gas in Richtung Frisches Haff. Der „Kampflärm“ im Heckwasser verstummt langsam. Vor uns erhebt sich eine Polderlandschaft, die den Farbkästen eines Vincent van Gogh oder Jan van Goyen alle Ehre machen würde. Fehlen nur noch die Windmühlen, denke ich mir, gehe zum Bug und genieße die dahinplätschernde Szkarpawa (auf Deutsch: Elbinger Weichsel) mit ihr en dichten Schilfufern und horizontlosen Feuchtwiesen.

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„Wenn ihr frischen Fisch kaufen wollt“, hatte uns Łukasz bei der Bootübernahme in Rybina empfohlen, „dann legt bei der Tawerna Cicha Przystań an. Und fragt nach Zybigniew. Er ist Fischer und fährt fast jeden Tag aufs Haff hinaus.“

„Dzień dobry, guten Tag“, begrüßt uns der 70-Jährige und fragt, was wir denn haben wollen. Es gebe Lachs, Aal, Zander, Flunder und Hecht. „Alles“, versichert er, „gestern gefangen.“ Wir entscheiden uns für Zander … Eigentlich ein Süßwasserfisch, aber der marginale Salzgehalt des Frischen Haffs ist für den Schuppengesellen kein Problem. Wir probieren noch Zybigniews Fischsuppe, dann heißt es Tschüs. Wir wollen vor Einbruch der Dunkelheit in Elbląg (Elbing) sein.

Seerosen auf der Nogat

Zwanzig Minuten später gluckert die Nogat unterm Kiel. Mit jedem Kilometer flussaufwärts werden die Seerosenteppiche auf dem Wasser größer. „Hoffentlich kommt davon nichts in die Schraube. Oder ins Kühlsystem“, unkt Jochen. Über diese Sorge hätten die Deutschritter vor 750 Jahren wohl nur müde gelacht.

Rund 30 Kilometer unterhalb des Kanał Jagielloński (Jagiellonenkanal) stampften sie in Rekordzeit die heute flächenmäßig größte Burg der Welt aus dem sumpfigen Boden. Der gewaltige Festungskoloss erhielt den Namen ihrer Schutzpatronin: Marienburg (polnisch: Malbork) und wurde 1997 von der UNESCO zum Weltkulturerbe geadelt.

Nur wenig Zeit in Elbląg

19 Uhr: Der Kanał Jagielloński liegt im Achterwasser, wir haben den Elbląg (Elbing) unterm Bug, das Industrieviertel der gleichnamigen 110.000-Einwohner- Stadt passiert und mit dem letzten Büchsenlicht ein Plätzchen am Altstadt-Kai der einstigen Hansestadt ergattert. Ich hole beim Brückenwärter noch schnell den Schlüssel für den Landstromkasten. Dann sitzen wir auch schon im Restauracja Tutti Santi und lassen uns die Expertise des italopolnischen Küchenteams munden.

Viel Zeit bleibt anderntags für Elbląg nicht. Ein kurzer Spaziergang durch die hübsch restaurierte Altstadt, ein Frühstück in einem herzallerliebsten Café gleich neben dem Rathaus, dann ruft auch schon der rund zehn Kilometer lange und bis zu zwei Kilometer breite Jezioro Drużno (Drausensee).

Hundert Meter Höhenunterschied

Wie es Neptun und alle Schuppenbewohner dieses Naturschutzidylls wollen, verfahren wir uns in dem Schilfgewusel. Unser schwimmendes Ferienappartement hat keinen Kartenplotter, also Tablet raus, Navi-App aufgerufen und das Boot auf dem viel zitierten Teller gedreht. Nach knapp einer Stunde kommt uns der Ausflugsdampfer „Ostróda“ entgegen. Was ist das denn?“, fragt Jochen stirnrunzelnd und deutet auf die Schiffsmaß-Zahlen am Steuerstand der weißen Dame. „25 Meter lang. 3,20 Meter breit. Ein ziemlich ungewöhnliches Verhältnis.“

Am Anlegesteg in Całuny empfängt uns Łukasz: „Cześć! Hallo!“ Er will uns auf dem Weg hinauf ins sogenannte Oberland und damit in das Fahrgebiet der Eylauer Seenplatte (polnisch: Pojezierze Iławskie) mit Rat und Tat zur Seite stehen. „Die Seen“, deutet er auf die Karte, „liegen auf rund 100 Meter Höhe.“ Während Teile des Weichseldeltas unter dem Meeresspiegel liegen, hat die letzte Eiszeit 20 Kilometer südöstlich von Elbląg eine sanft gewellte, mit dichten Wäldern, glitzernden Wasserperlen und frucht baren Ackerböden durchwirkte Hügellandschaft modelliert.

Kiefernstämme zur Ostseeküste

Für die Buchhalter der Preußenkönige war dieser Teil des Baltischen Landrückens eine Art agrarwirtschaftliche Gelddruckmaschine. Besonders profitabel waren die Kiefern im Umfeld des Dörfchens Tabórz. Ihre langen, gerade gewachsenen, äußerst kräftigen und obendrein flexiblen Stämme hatten sich beim Bau von Segelschiffmasten in ganz Europa einen Namen gemacht.

Aber wie sollten diese bis zu 40 Meter hohen Kassenschlager kostengünstig und effizient an den Mann respektive die Schiffswerften an Atlantik oder Mittelmeer gebracht werden? Je nach Wasserstand der Flüsse Drwęca und Weichsel (polnisch: Wisła) dauerte der Transport zum Danziger Hafen ein bis drei Monate. Auch machten Stromschnellen, Riffe und Untiefen aus der kostbaren Fracht nicht selten Kleinholz.

Der Oberländische Kanal

Kurzum: Das Oberland brauchte eine schiffbare Frachtstraße zur Ostsee. Da 100 Höhenmeter nach dem Stand der damaligen Technik rund 30 Kammerschleusen bedingt hätten – was den gekrönten Häuptern in Berlin im Bau zu teuer war –, kam der preußische Ingenieur und Wasserbaubeamte Georg Jakob Steenke auf eine geniale Idee.

Statt einer nahezu endlosen Kette von Schleusenkammern reihte er auf einer Strecke von zehn Kilometern fünf zwischen 350 und 550 Meter lange und 13 bis 24,5 Meter hohe Rampen aneinander, sogenannte Rollberge, legte oberund unterhalb eines jeden Rollbergs ein Wasserbassin an und verband diese mit Eisenbahnschienen. Je nach Fahrtrichtung dampften die Schiffe entweder im Ober- oder Unterbassin in eine Art offenen Güterwaggon, den Rollwagen, ein und wurden dann quasi huckepack per Seilwinde den Berg heraufgezogen oder hinabgelassen. Einmal angekommen, setzten die Schiffe ihre Reise bis zum nächsten Rollberg unter eigener Kraft fort.

Unser erster Rollberg

Nach 16 Jahren Bauzeit wurde das Wunderwerk 1860 mit zunächst vier Rollbergen und einer Schleuse in Betrieb genommen, 1873 war der fünfte Rollberg fertig und damit der Transport der Segelmast- Kiefern hinunter zur Ostsee nur noch eine Frage von zwei bis drei Tagen.

„Klar zum Slippen“, verkündet Łukasz. Unsere Vistula Cruiser liegt festgezurrt im Rollwagen. Ich betätige eine kleine Glocke als Signal an die Bergstation, dass wir startbereit sind. Gewaltige Umlenkräder greifen, das stählerne Zugseil spannt sich, unser Boot wird aus dem Unterbassin gezogen, hat alsbald trockenes Land unterm Kiel und taucht nach wenigen Minuten Fahrt 14 Meter höher wieder in sein angestammtes Element ein.

Buczyniec: oben angekommen

Drei Stunden später ist mit dem kleinen Kanalmuseum in Buczyniec die fünfte und damit letzte „Schleusung“ absolviert. „Und“, fragt Łukasz, „was haltet ihr davon?“ – „Top!“, antworten wir. Łukasz grinst. „Nicht umsonst“, weiß er, hätten Leser der Tageszeitung „Rzeczpospolita“ die Rollberge zu einem der sieben Weltwunder Polens gekürt. Sagt’s, empfiehlt uns den Schiffsanleger von Buczyniec als Übernachtungslocation und verabschiedet sich.

Punkt 8 Uhr erwacht der Kai zum Leben. Die Crews der Ausflugsdampfer bringen ihre Schiffe auf Vordermann. In gut einer Stunde kommen die ersten Fahrgäste, entern das Sonnendeck und bannen das Rollberg-Spektakel hinunter nach Elbląg begeistert auf Foto. Wir starten nach einem schnellen Kaffee in die entgegengesetzte Richtung.

Das Oberland liegt vor uns

Nach rund 15 Kilometern über schmale, von Wiesen und dichten Wäldern flankierte Kanäle sitzen wir jetzt auf der Terrasse des Hotels Folwark Karczemka und frühstücken mit Blick auf den 440 Hektar großen Jezioro Piniewo. Das Hotel war früher ein Bauernhof, der – so macht uns der Kellner glauben – gelegentlich auch einen gewissen Immanuel Kant verköstigt haben soll.

Ob es stimmt? Kant wurde zwar „nur“ 100 Kilometer von hier in Königsberg (heute Kaliningrad) geboren. Auch war er im Nachbardorf als Hauslehrer tätig. Dort vermittelte er den Söhnen des preußischen Oberst Friedrich von Hülsen standesgemäße Bildungsinhalte. Der, wie man ihn nannte, größte Philosoph der Neuzeit starb am 12. Februar 1804. Aber ob dieses Gehöft zu seinen Lebzeiten überhaupt schon existierte? „Kto wie“, würden die Polen sagen, „wer weiß!“

Teil 2 der Reportage finden Sie hier!

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