Spieglein, Spieglein an der Wand, wer ist die Schönste im ganzen Land? Der Streit zwischen Magdeburg und Halle um das Zepter der kulturell attraktiveren, lebens- und liebenswerteren, bauhistorisch aparteren und, und, und... Stadt ist mindestens (!) so alt wie Martin Luthers 95 Thesen am Portal der Wittenberger Schlosskirche. Diesen Dauerbrenner in Sachen Neid und Eifersucht zwischen den beiden größten Städten Sachsen-Anhalts lassen wir unkommentiert. Uns interessiert dagegen, wo wir in Halle am besten anlegen und die Highlights der Stadt auf kürzestem Weg erkunden können. “Wie wär‘s“, deutet Gaby auf die Flusskarte, “mit dem Stadthafen?“ “Klingt gut“, antworte ich, und gebe Gas.
Wald, sanfte Hügel und Wiesen mit Fleckvieh und Schafen rücken ins Bild. Ab und zu duselt ein Lilliput-Örtchen beschaulich vor sich hin und bei Flusskilometer 83 schließlich zeugen die eher schroffen als schwindelerregend hohen Felsformationen der Brachwitzer Alpen von vulkanischen Urzeitaktiviäten. Eine Dreiviertelstunde „hinter“ dem Feuerspucker-Vermächtnis liftet uns die Schleuse Halle-Trotha Richtung Stadtzentrum. Während sich Burg Giebichenstein als ältester Fürstensitz an den Ufern der Saale im Heckwasser verabschiedet und die rund 240.000-Einwohner-Stadt ihrem Ruf als Grünflächen-größte Großstadt Deutschlands alle Ehre macht, daddelt sich Gaby durch den Internetauftritt der städtischen Tourist-Information. “Das ist cool“, verkündet sie, „hier gibt‘s ein großes Straßenbahnmuseum. Die Oldies kann man sich nicht nur anschauen. Sondern mit ihnen auch Stadtrundfahrten machen. Die nächste Tour startet morgen um 11 Uhr.“
20 Minuten später liegt unsere Tarpon neben der Replika eines historischen Kaffekahns im Stadthafen Halle. Von der Steganlage sind es nur wenige Bike-Minuten bis ins historische Zentrum. Wir radeln los, überqueren Saale und Mühlengraben, werfen einen Blick auf die bronzene Stadtprominenz am Göbelbrunnen und erreichen dann mit dem Marktplatz quasi das Epizentrum der einstigen Hansestadt. Architektonisches Wahrzeichen ist die spätgotische Marktkirche. Mit ihren vier Türmen wollte und sollte sie ein katholisches Manifest gegen Martin Luthers vermeintliches Ketzertum sein. In trauter Nachbarschaft geben sich das Marktschlösschen, der Rote Turm, der Goldsolebrunnen als Signet des vormals wohl gefüllten Stadtsäckels und „querab“ das Denkmal Friedrich Händels die Ehre. Apropos Friedrich Händel: Der neben Johann Sebastian Bach wohl berühmteste Barockkomponist erblickte am 23. Februar 1685 unweit der Marktkirche das Licht der Welt. Wir nehmen sein Geburtshaus in Augenschein, stärken uns im hauseigenen Café mit Kaffee und Kuchen und radeln dann weiter zum Landesmuseum für Frühgeschichte.
Diese vom Namen her etwas angestaubt klingende Institution zählt - man höre und staune - zu den Top-Ten-Adressen der mitteleuropäischen Museen. Die ältesten Exponate blicken auf rund 420.000 Jahre Erdgeschichte zurück, das jüngste ist eine Alchemistenküche aus dem 16. Jahrhundert. Nonplusultra der musealen Schätze jedoch ist die Himmelsscheibe von Nebra. Auf der tellergroßen, rund zwei Kilogramm schweren Bronzescheibe scheint eine goldene Himmelsbarke durch die sternenübersäten Weiten des Kosmos zu gleiten. Welche Bedeutung diese - geschätzt - 3600 Jahre alte, mehrfach überarbeitete Pretiose für das Sein und Werden der Menschen damals hatte, ob sie eine Art Himmelslandkarte, ein heiliger Gral oder „nur“ so etwas wie das Reichsapfel-Derivat eines Stammesfürsten war, ist bis heute nicht mit letzter Sicherheit geklärt. Ihr Weg ins Museum allerdings war ein wahrer Krimi. Zwei dubiose Amateurschatzsucher fanden sie 1999 etwa 20 Kilometer südwestlich vom Geiseltalsee. Glück und Reichtum brachte ihnen die Scheibe nicht. Im Gegenteil: Beim Versuch, sie zu versilbern, klickten auf der Toilette eines Basler Nobelhotels die Handschellen. Das Duo landete vor dem Richter. Und die archäologische Sensation dort, wo sie vom museumspädagogischen Selbstverständnis der Altertumsforschung auch hingehört: in einer diebstahlsicheren Ausstellungsvitrine. 2013 adelte die UNESCO das Fundstück übrigens zum Weltdokumentenerbe.
”Jetzt wird’s sportlich“, orakelt Gaby, „bis Merseburg ist es noch weit. Ob wir das heute noch schaffen?“ Um es kurz zu machen: Es ist 15 Uhr, wir hatten gestern Abend im Studentenviertel der Altstadt prima gegessen, die Stadtrundfahrt heute in einer über 50 Jahre alten Straßenbahn durch Halle war klasse, der Besuch des Straßenbahnmuseums auch, nun aber läuft uns die Zeit davon. Zwar haben wir die Schleusen Gimritz und Halle-Stadt bereits passiert, aber zwischen der 130 Jahre alten Hafenbahnbrücke jetzt vor dem Bug unserer Tarpon und unserem Tagesziel liegen noch 20 Flusskilometer sowie drei Schiffshebewerke. Im ersten, der Schleuse Böllberg an der Rabeninsel, ist - Neptun sei Dank - das Untertor offen und wir - zack - im Nullkommanix im Oberwasser. Auch ist der Schleusenwärter von der Spezies Gutmensch. Er hört sich unser Problem an, nickt und greift zum Telefon: “Schöne Grüße aus Merseburg“, sagt er, „mein Kollege dort ist bis 19 Uhr im Dienst. Das schafft ihr!“
Großbritannien ist das Mutterland des Rudersports. Mit dem Startschuss zum ersten Achter-Rennen zwischen den Universitäten Oxford und Cambridge wurde der „Rowing Sport“ bei den wettfreudigen Briten gesellschaftsfähig und die Regatten zum glamourösen Treffpunkt der High Society. Sieben Jahre später schwappte die Wasseraktivität über den Ärmelkanal nach Hamburg. 1874 wurde der Ruderclub Nelson in Halle aus der Taufe gehoben. Damit waren die Weichen für eine Sportart gestellt, die den Ruderverbänden in Sachsen-Anhalt nicht nur 18 olympische Goldmedaillen und 24 Weltmeistertitel bescherte, sondern sie ganz im Sinne von Friedrich Schiller’s “Früh übt sich” auch kräftig die Werbetrommel für den Nachwuchs schlagen lässt. Und so tummeln sich ein paar Zündtakte hinter dem Obertor der Schleuse Böllberg ein gutes Dutzend Jungtalente. Wir stoppen auf, der Trainer im Motorboot delegiert die Kids in Richtung Ufer, wir grüßen freundlich und geben Gas. “Ahoi“, wünscht er uns ... und viel Spaß auf der Saale.
Den haben wir in der Schleuse Planena nur bedingt. Zwar sind wir noch gut in der Zeit, doch irgendwie will die fernbediente Apparatur nicht so, wie wir es gern hätten. Ein Telefonat mit dem Schleusenwärter in Merseburg löst das Problem. „Toll“, deutet Gaby bei der Ausfahrt auf den Fluss, „das Wasser ist super klar. Man kann bis auf den Grund sehen.“ Das war freilich nicht immer so. In den 1960ern forcierte Ulbrichts propagierte Überlegenheit des Sozialismus über den Klassenfeind eine Chemieindustrie, die in den Folgejahren (nicht nur) in Bitterfeld, Leuna und Schkopau zu apokalyptischen Umweltkatastrophen führte. Böse Zungen behaupt(et)en gar, man hätte nur einen belichteten Analogfilm in die Saale tauchen müssen und er hätte sich wie von Zauberhand selbst entwickelt.
Punkt 8 Uhr anderntags wecken uns die Glocken des Merseburger Kaiserdoms. Der Himmel ist wolkenlos. Das Bordthermometer zeigt 17° C. Wir frühstücken und machen uns auf den Weg über die Treppen der kleinen Dompropstei hinauf ins mittelalterliche Herz der Stadt. Stolz und selbstbewusst rollt uns die - wie sie sich gerne nennt - Mutter aller mitteldeutschen Städte den roten Teppich zu ihrem gotischen Prachtdom, ihrem Renaissanceschloss, den Parkanlagen sowie dem historischen Parlamentsgebäude aus.
Nach gebührender Inaugenscheinnahme der architektonischen Kleinode sitzen wir auf der Terrasse des Cafés “Eisheimisch” und füllen unsere Kalorienspeicher mit Kirschstreusel und schwedischer Apfeltorte. “Wie wär‘s mit einem Ausflug zum Geiseltalsee?“, fragt Gaby. Wir nicken, hieven - inzwischen sind wir darin Profis - unsere Bikes von Bord und kurbeln die Alte Heerstraße entlang Richtung Nebra. Nach 14 Kilometern flankiert von Wiesen und Feldern schweift der Blick über die Rebhänge (!) des größten mitteldeutschen Sees.
300 Jahre lang haben Schaufeln und später Bagger die gigantischen Braunkohlevorkommen im Geiseltal abgebaut. Und die Region in eine trostlose Mondlandschaft verwandelt. Mit der Wende kam das Aus für die Kohle. Gut 65 Millionen Kubikmeter Sanierungsabraum wurden im Zuge der Renaturierung bewegt, 700 Hektar der unappetitlichen Tagebaufolgen begrünt, 100 Kilometer Gleisanlagen rückgebaut und das Terrain schließlich acht (!) Jahre lang mit Saalewasser geflutet. Das Ergebnis ist der Geiseltalsee, 18,4 Quadratkilometer „groß“, mit Playas, Bootsvermietern, Surfschulen, zwei Marinas und der Straußenwirtschaft „Goldener Steiger“.
”Nehmt Platz“, begrüßt uns Rolf Reifert und deutet auf einen der freien Holztische. Wir setzen uns, studieren die Weinkarte des Winzers, ordern Riesling, dazu Zwiebelkuchen und Käseplatte. ”Prost“, hebe ich das Glas. ”Worauf trinken wir?“, fragt Gaby. ”Auf unseren Saale-Törn?“ ”Na klar!“ ”Und“, grinst sie, ”auf Till“. Sagt‘s, kramt in ihrem Daypack und befördert - nein, nein, liebe Leserinnen und Leser, ich nehme Sie jetzt nicht auf den Arm - ein schwarz-gelb lackiertes Eulenspiegel-Räuchermännchen heraus. „In Bernburg erstanden. Als Mitbringsel für meine Nachbarn. Weil die ja immer so nett auf meine Katze aufpassen“ Oh, Gaby - schießt es mir durch den Kopf - ob der gute Till das verdient hat...