Bodo Mueller
· 16.02.2022
Das süße Blut der Magyaren: Ungarns Flüsse Bodrog und Theiss bilden Europas neuestes Charterrevier. Der Wein der Könige ist hier daheim
Ruhig schnurrt unser Hausboot bergauf. Zu beiden Ufern säumen alte, hohe Laubbäume den trägen Strom. Dichtes Grün reicht bis ans Wasser. Auf schwimmenden Inseln aus abgestorbenen Baumriesen blühen Sumpfblumen. Eine Schlange lässt sich ins Wasser gleiten und nimmt Reißaus, Vögel suchen schon aus großer Entfernung das Weite. Es scheint nicht selbstverständlich, dass Menschen mit großen Booten in dieses abgelegene Paradies eindringen. Wir sind völlig allein auf dem bis zu hundert Meter breiten Fluss, eine Schleife folgt der nächsten. Stundenlang schippern wir durch einen grünen Korridor. Wo stecken wir überhaupt? In den unendlichen Weiten Südamerikas, auf einem Nebenarm des Amazonas vielleicht?
Weit gefehlt! Wir sind auf dem Bodrog unterwegs, nur zwölf Kilometer entfernt vom geometrischen Zentrum Europas. Dieses liegt nicht in Paris oder Wien, sondern im Dorf Tállya im Nordosten Ungarns. Bekannter ist die Gegend als Weinbaugebiet von Tokaj. Hier gedeiht der berühmteste und teuerste Rebensaft der Welt. „König der Weine und Wein der Könige“ wird der Tokajer auch genannt. Nicht nur im russischen Zarenpalast, sondern auch am Hof des französischen Sonnenkönigs Ludwig XIV. wurde er eingeführt. Da halfen auch die lauten Proteste der französischen Winzer nichts: Monarchen trinken Tokajer. Noch heute ist der Adel Europas Stammkunde.
Eine Flussreise auf dem Bodrog ist also immer eine Reise zu den Winzern, die diesen einzigartigen Wein produzieren. Dabei ist der Bodrog mit etwa einhundert Kilometer Länge ein kurzer Fluss. Er entsteht durch die Vereinigung der aus der Slowakei kommenden Ondava mit der in der Ukraine entspringenden Latorica. Am Fuß des Weinbergs von Tokaj mündet der Bodrog in die Theiß. Jene fließt parallel zur Donau nach Süden und mündet nach knapp 1000 Kilometern beim serbischen Novi Sad als längster ein. Theiß und Bodrog waren schon immer schiffbar. Dass wir hier heute so komfortabel fahren können, verdanken wir dem Hausboot-Vercharterer Nicols, der im Jahr 2020 in der Weinmetropole Tokaj eine ganze Bootsflotte stationiert hat. Sie liegt am Bodrog, etwa zwei Kilometer nördlich von dessen Mündung in die Theiß. Es sind Fahrten auf beiden Flüssen möglich. Auf Empfehlung des ungarischen Basisleiters entscheiden wir uns für den Bodrog, weil der Fluss durch das Tokajer Weinbaugebiet führt.
Nachdem wir unser neues Schiffchen des Typs Estivale Quattro übernommen und den Proviant gestaut haben, geht es zunächst in die Altstadt von Tokaj. Das ist ein Muss. Auf dem Hauptplatz neben der römisch-katholischen Kirche steht die Bacchus-Statue, dahinter liegt der Eingang in den Rákóczi-Weinkeller, den größten und bekanntesten des Weinbaugebiets. Hier lagern in kilometerlangen unterirdischen Stollen bis zu 20 000 Hektoliter Tokajer. Der rechte Ort, um zu erfahren, warum dieser Wein so sündhaft süß und teuer ist. „Tokajer gibt es nur in diesem Weinbaugebiet,“ erklärte die junge Önologin Kathryn Aronsohn. „Aus den drei Rebsorten Furmint, Gelber Muskateller und Lindenblättriger produzieren wir trockene, halbtrockene, halbsüße und süße Weine.“ Sie gießt von jedem eine winzige Kostprobe ein und zeigt auf die entsprechenden Flaschen im Verkaufsregal. Plötzlich wird mir schwindlig – aber nicht vom Alkohol, sondern vom Preisschild: Den süßen Tokaj Eszencia des Jahrgangs 1999 gibt es ab 160 000 Forint für eine Halbliterflasche, das sind schlappe 440 Euro.
Das Verfahren zur Herstellung des süßen Tokajers ist arbeitsintensiv und risikoreich. Geerntet werden am Ende des Sommers nicht die prallen Trauben, sondern erst viel später die rosinenartig geschrumpften Beeren – aber nur solche, die vom Schimmel befallen sind. Die Edelfäule am Rebstock ist eine natürliche Mostkonzentration, die von vielen äußeren Bedingungen abhängt. In herausragenden Jahren entstehen dabei Unikate, die zu den besten der Welt zählen. Während der Tropfen der Zunge schmeichelt, fügt Kathryn mit geschlossenen Augen hinzu: „Das ist das süße Blut der Magyaren.“
Zurück an Bord, starten wir mit Tokaji Furmint im Kühlschrank, allerdings nicht mit den süßen für 440 Euro, sondern den trockenen für vier Euro pro Flasche. Die Navigation ist einfach. Fahrwassertonnen gibt es nur wenige. Wie überall sollte man bei stark mäandernden Flüssen in den Außenradien fahren. Einzig die Seilfähren sind gewöhnungsbedürftig. Aber die Kommunikation ist simpel. Liegt die Fähre am Ufer und zeigt eine große weiße Flagge zum Fluss hin, dann ist das Seil abgesenkt und die Schifffahrt darf passieren. Sieben Kilometer nördlich öffnet sich an Backbord der grüne Korridor und gibt den Blick frei auf ein Dorf mit einstöckigen Einfamilienhäusern und großen Gemüsegärten. Es heißt Bodrogkisfalud. Wir entdecken einen neuen, sehr soliden Schwimmponton und legen an. Kein Hafenmeister verlangt eine Gebühr.
Ohne es zu ahnen, betreten wir historisches Terrain und gehen wenige Schritte zum Dereszla Weinkeller. Ursprünglicher Eigentümer war König Sigismund (1368–1437) von Ungarn und Kroatien, seit 1419 auch König von Böhmen und von 1433 bis zu seinem Tod römisch-deutscher Kaiser. Die drei Stollen des Kaiser-Kellers werden noch heute bewirtschaftet. Unmittelbar neben dem Anleger kann man im modernen Dereszla Bistró einkehren. Von der Bezeichnung sollte man sich nicht abschrecken lassen. Es ist ein edles Restaurant mit hervorragenden Dereszla-Weinen. Lediglich die Preise erinnern an ein Bistro (www.dereszla.com).www.dereszla.com).
Unsere Estivale Quattro bringt uns weiter stromaufwärts. Nach 23 Kilometern Einsamkeit stoppen wir in Bodrogolaszi, was so viel heißt wie „Italien am Bodrog“. Es gibt eine Dorfkirche aus dem 15. Jahrhundert zu sehen sowie ein Schloss, das aber renoviert wird und darum nicht zugänglich ist. Eine weitere Stunde später erreichen wir am Abend die Kleinstadt Sárospatak. Wenige Kilometer weiter nördlich beginnt die Slowakei, im Osten liegt die Grenze zur Ukraine. Bekannt ist die Stadt durch die Festung des ungarischen Adligen Georg Rákóczi (1593–1648), des Fürsten von Siebenbürgen, welches damals zu Ungarn gehörte. Fürst Rákóczi wird noch heute verehrt, weil er die Glaubensfreiheit in Ungarn durchsetzte. Unter seiner Herrschaft kamen verfolgte Protestanten aus Österreich und Schwaben. In Sárospatak gibt es, wie in allen anderen Orten, in denen wir angelegt haben, einen neuen, solide gebauten und komfortabel ausgestatteten Schwimmsteg. Es ist Platz genug, dass zwei Charterboote hintereinander längsseits gehen können. Auf dem Steg gibt es Strom und Wasser, das Tor kann per Zahlenkombination geöffnet werden. Die Anleger wurden extra gebaut, damit die Charterboote sicher liegen können.
Kaum haben wir festgemacht, werden wir erwartet. Ein junger Mann begrüßt uns in fließendem Deutsch: „Ich bin Winzer Stefan Götz. Steigen Sie ein, wir fahren nur drei Kilometer weit, und ich zeige Ihnen etwas, was Sie noch nie gesehen haben.“ In der Gemeinde Hercegkút, deren deutscher Name Trautsondorf ist, parken wir vor der Kirche. Ringsum lese ich deutschsprachige Beschriftungen: Kindergarten, Grundschule, Kulturhaus.
„Um 1750 kamen Schwaben hierher und gründeten drei Dörfer. Sie lernten von den Ungarn den Weinanbau, die meisten wurden Winzer. Es wird noch heute Deutsch gesprochen,“ erklärt er. Mit ihren Nachbarn lebten sie lange in bester Harmonie. Zwar wurde 1945 alles Deutsche verboten, seit der politischen Wende 1990 kehrte die Sprache jedoch wieder zurück.„Und jetzt zeige ich euch unser UNESCO-Weltkulturerbe“, sagt Stefan stolz: Etwa einhundert niedrige Häuser schmiegen sich an einen Weinberg und führen unter Grasdächern in sein Inneres– wie eine Fantasiewelt aus dem „Herr der Ringe“.
Stefans Haus trägt seinen Familiennamen. „Als unsere Vorfahren hier ankamen, durften sie einen Wohnraum in den Kalksandstein meißeln und davor eine Fassade mit Tür und Fenster bauen. Erst wenn sie ein Stück Wald gerodet hatten und Getreide oder Wein anbauten, durften sie sich ein richtiges Haus errichten“, erklärt er. Später wurden die Höhlenhäuser zu Weinkellern, indem die Familien tiefe Stollen in den Berg trieben. Die Kellerei der Familie Götz gilt heute als größter Weinbaubetrieb hier (www.gotzpinceszet.hu/de). www.gotzpinceszet.hu/de). Um in Sárospatak noch etwas zu essen, ist es jetzt bereits zu spät. Doch Stefan geht in den Keller und bringt eine Kiste Tokajer. Aus einem Vorratsschrank nimmt er ein Weißbrot und eine große Seite Speck, von der er einen Streifen abschneidet, der so lang ist wie ein Husarensäbel. „Das sind hier die Grundnahrungsmittel. Macht euch einen schönen Abend!“
Morgens stehen wir vor der Entscheidung, entweder noch 13 Kilometer bergauf zu fahren bis zur slowakischen Grenze oder zurück nach Tokaj und noch etwas weiter auf der Theiß. Wir entscheiden uns für die Talfahrt, auch um den anderen Fluss noch kennenzulernen. Bergab sind die 35 Kilometer bis Tokaj in drei Stunden zu schaffen. Doch unerwartet werden wir auf etwa halbem Wege aufgehalten: In einer Kurve bei Kilometer 20,5 winkt uns ein freundlicher Mann heran und sagt, dass wir ihm die Leinen zuwerfen sollen. Der Anleger ist selbst gebastelt und sehr wackelig. Doch der Mann schafft es, unser Charterboot zu sichern. Er heißt László Kvaszinger und ist Besitzer des Kvaszinger Weinbergs. Auch Familie Kvaszinger war aus Deutschland eingewandert. Der Urgroßvater arbeitete als Gutsverwalter auf dem Weingut eines ungarischen Barons, der in einer durchzechten Nacht sein ganzes Bargeld beim Kartenspiel verprasste. Um wieder flüssig zu werden, verkaufte er vier Hektar seines Weinberges an die deutsche Familie. Die Kvaszinger-Weine gehören heute zu den besten der Region (www.kvaszinger.hu).www.kvaszinger.hu).
Nach einem Zwischenstopp an unserer Charterbasis in Tokaj starten wir zum Törn auf die Theiß. Nur zwei Kilometer bergab, dann sehen wir bereits den größten Nebenfluss der Donau. Weil sie stromaufwärts interessanter aussieht, entscheiden wir uns, zu Berg nach Nordosten in Richtung Ukraine zu fahren. Bis dahin sind es allerdings noch 82 Kilometer, was wir in den verbleibenden zwei Tagen nicht schaffen werden. Nach fünf Kilometern stromauf sehen wir beim Dorf Timar direkt am Wasser ein sehr schönes Fischrestaurant, leider hat es geschlossen. Wir navigieren also weiter stromauf durch die einsame Landschaft und erreichen nach weiteren zweieinhalb Stunden Fahrt die kleine Siedlung Tiszabercel. Vor dem Restaurant Bettlerhafen legen wir an. Der Kellner hilft beim Festmachen. Das Lokal hat den Charme eines Imbisses, aber man sitzt sehr schön unter alten Bäumen am Ufer.
Der junge Kellner empfiehlt uns eine scharfe ungarische Fischsuppe, dazu trockenen Tokajer. Was will man mehr? Damit die Rückreise zur Charterbasis nicht zu stressig wird, motoren wir nach dem Essen noch so lange stromab in Richtung Tokaj, wie wir sehen können. Im letzten Licht legen wir dann in Timar vor dem geschlossenen Fischrestaurant an. Am nächsten Tag bleibt uns dann nur noch das letzte Stück nach Tokaj und auf dem Bodrog zur Charterbasis. Schon am Abend startet unser Flieger. Doch Ungarn wird in süßer Erinnerung bleiben – den Tokajer vergisst man nicht.
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