Was ist das: achtzehn Meter lang und gerade mal gut zwei Meter breit? Kennt man sonst nur von U-Booten oder Straßenbahnen. Dieses extreme Längen- und Breitenverhältnis irritiert. Wie massive Mikadostäbchen formieren sich die zahlreichen Narrowboote um eine Insel der Marina Barby in den britischen Midlands nahe Birmingham. Sozusagen der Wiege dieser ehemalige Arbeitsschiffe.
Die „Walkabout“ ist so anders als alles, was ich bisher gesehen, betreten und gefahren habe. Es sieht so aus, als hätte das Boot gefastet und es dabei etwas übertrieben. Doch es hat Gründe – gute Gründe, wenn man beim Anblick an Anorexie denkt. Gemäß der Design-Maxime „Form follows function“. Die Schiffe müssen so schlank sein, sie haben sich ihrem natürlichen Habitat angepasst. Wobei sie alles andere als klapprig oder fragil sind. Im Gegenteil. „Du musst wissen, Narrowboat-Fahren ist eine Kontaktsportart“, sagt Eigner Andi, der mich auf eine Schnuppertour auf sein Boot eingeladen hat. Was genau er meint, werde ich noch früh und oft genug gewahr werden. Insbesondere in den engen Schleusen.
Anfänglich hat Andi nur gechartert. Mittlerweile ist er das, was man als einen Narrowboat Native bezeichnen könnte. Er besitzt gleich zwei Schiffe. Da ist zum einen ein Widebeam, sozusagen sein Base Camp in London. Die Widebeams gelten wegen ihres breiteren Rumpfs als SUV unter den Narrowbooten. Sie sind im Reiseradius limitiert und so gesehen etwas „behindert“. Dieser Schiffstyp ist schlicht zu plump und prall um die Hüften. Sie passen nicht in die ältesten und meisten Schleusen des Vereinigten Königreichs und werden bevorzugt als Hausboote zum Wohnen genutzt.
Andis zweites Schiff ist die „Walkabout“, die schlanke, reinrassige Version fürs Rumreisen, wie der Name schon sagt. Dieser Bootstyp wird etwa seit dem Jahre 1750 auf den Kanälen von England und Wales genutzt. Diese Fahrwasserwege wurden damals in schwerster Handarbeit von den Kanalbauern mit Schaufel und Schubkarre gebaut. Gerade mal so breit und tief wie nötig, dass sich zwei Schiffe unterwegs passieren konnten. Und das tut man ziemlich oft. Die bunt dekorierten Freizeitschiffe sind mittlerweile so beliebt, dass heute mehr Narrowboote auf den Kanälen unterwegs sind als zur Blütezeit des Gütertransports. Und die Restaurierung der Kanäle und Schleusen geht im gleichen Tempo vor sich wie einst ihr Bau vor 200 Jahren.
„Eigner bezahlen eine jährliche Steuer, mit der Kanäle und Schleusen instand gehalten werden. Dafür darf man dann fast überall für bestimmte Zeitintervalle liegen“, erzählt Andi. Man geht in der freien Wildbahn, irgendwo im Nirgendwo, längsseits an den Treidelpfad.
„Nach zwei Wochen muss man mindestens zwei Meilen weiterziehen“, meint Andi. Das wird auch kontrolliert. Dauerlieger gibt es nicht. Nur in den Marinas. Und davon offenbar reichlich. Mitte November qualmen etliche Schornsteine in der Marina. Geheizt wird hier noch – nicht gerade klimaneutral – mit Kohle. In jedem Fall scheint mir der Schiffsname „Fernweh“, den ich in der Marina entdecke, etwas übertrieben. Ein Euphemismus.
„Oh doch!“, meint Andi und zeigt mir eine Karte mit sämtlichen Kanälen der Insel. Auf über 3.000 Kanalkilometern lässt es sich durch einige der malerischsten unberührten Landschaften Großbritanniens reisen. Allemal genug für Narrowboat-Nomaden. Wie ein Geflecht aus Adern durchziehen die Kanäle das Vereinigte Königreich, wobei der Grand Union Canal so was wie die Aorta ist. Und dass eine Blutwäsche mal ganz guttäte, denke ich mit Blick auf die Wasserfarbe, die an alte Elefantenhaut erinnert. Obgleich die Schiffe alle Chemietoiletten an Bord haben und der Canal & River Trust dafür sorgt, dass sie überall entsorgt werden können. Es handelt sich um ein sehr stehendes, geschlossenes und zudem befahrenes und bewohntes Gewässer. Selbst im Sommer schwimmt hier niemand – aus gutem Grund.
Wir verlassen die Marina durch die schmalste Hafeneinfahrt der Welt und biegen – bei genau zwei Möglichkeiten – scharf links ab. Rechts ginge es nach Oxford und weiter auf die Themse. Wir aber wollen in die entgegengesetzte Richtung – Kurs Birmingham.
„Mal sehen, wie weit wir in einer Woche kommen“, sagt Andi. Meint übersetzt: Der Weg ist das Ziel. Manch Vercharterer wirbt deshalb mit dem schönen Spruch, Narrowboat-Fahren sei „the fastest way to slow down“. Ich kann das schon auf den ersten Meilen bestätigen. Zwangsläufig. Andis Boot hat für 18 Tonnen 38 PS Schubkraft. Das ist immer noch 37-mal mehr als früher, als nur ein Pferd gezogen hat. Dennoch sind die Schiffe nicht gerade überpowert. Man reist gemütlich, in Schrittgeschwindigkeit. Buchstäblich. 6,4 Stundenkilometer sind die erlaubte Höchstgeschwindigkeit. Auch wenn man unterwegs keine Blitzer oder Wasserschutzpolizei trifft, die anderen passen auf: Schwell und Sog, der bei erhöhter Geschwindigkeit auf den schmalen Kanälen entsteht, beschert einem von den vielen Kanal-Anrainern unterwegs schnell böse Blicke. Bis hin zum Stinkefinger.
Ansonsten trifft man unterwegs eher entspannte und freundliche Menschen. Alles Angehörige einer Parallelgesellschaft. Nachdem die Schiffe ihrer ursprünglichen Bestimmung – des Lastentransports – durch die Eisenbahn beraubt wurden, hat sich ihre Funktion im Laufe der Jahrhunderte komplett verändert. Sie werden fast ausschließlich als Wohn- und Freizeitboote benutzt. Die bunt dekorierten Schiffe sind mittlerweile so beliebt, dass heute mehr Narrowboote auf den Kanälen unterwegs sind als zur Blütezeit des Gütertransports. Und die Restaurierung der Kanäle und Schleusen geht im gleichen Tempo vor sich wie einst ihr Bau vor 200 Jahren!
Apropos Tempo. Der vielleicht natürlichste Feind aller Eile beim Narrowboat-Fahren ist gar nicht mal die erlaubte Höchstgeschwindigkeit – es sind die numinosen und manuell betriebenen Schleusen unterwegs.
Schleusen satt sozusagen. Bis der Bizeps brennt. Für uns am heftigsten an den Hatton Locks bei Warwickshire, auch Hatton Flight genannt. Stolze 21 Schleusen, die sich über 3,2 Kilometer erstrecken und an deren Ende man das Boot gerade mal 45 Meter hoch- oder runtergekurbelt hat. Uff! Fühlt sich trotzdem gut an, als hätte man gerade eine Pyramide gebaut. Jeder ehrenamtliche und freiwillige Helfer vom Canal & River Trust ist da willkommen. Kurbelnde Engel und Helfer, die teils aus Fitness-, teils aus Folkloregründen mithelfen. Man erkennt sie an den farbigen Schwimmwesten. Nett plaudernd kapiert man dabei ziemlich schnell, warum Andi zum Narrowboat Native wurde. Und was er mit der Kontaktsportart meint: Es bezieht sich offenbar nicht nur auf das rustikale Rangieren und Ein- und Ausparken in den Schleusen. Es ist auch dieses solidarische Schleusen. Das Miteinander unterwegs. Übrigens ohne Trinkgeld zu erwarten. Und am Ende der ganzen Kurbelei erwartet einen oft Kaffee und Carrot Cake im Schleusenkaffee.
Doch. Das hat was. Sehr, sehr Uriges. Gelebtes Kulturerbe. Aus der einstigen Funktion ist eher FUNction (von Fun) geworden. Narrowboat-Enthusiasten haben manch alte Tradition wiederbelebt, und regelmäßig stattfindende Festivals bringen die Wasserstraßen einer breiten Öffentlichkeit näher.
Noch so eine Besonderheit: Wem das ganze Gekurbel mit den Schleusenschlüsseln als sportliche Ertüchtigung nicht langt und wer zwischendurch den Beinen was Gutes tun möchte, kann das jederzeit. Entweder man springt einfach während der Fahrt ab, am besten unter einer der zahlreichen Bogenbrücken, unter die sich auch der Treidelpfad zwängt. Oder man geht von Schleuse zu Schleuse, die nie wirklich weit entfernt ist. Auch das eine völlig neue Erfahrung: jederzeit neben dem Boot herlaufen zu können. Daher wohl auch der Schiffsname: „Walkabout“. Und „Talkabout“ funktioniert dabei auch problemlos. Bei niedrig drehendem Motor.
In Warwick machen wir einen Zwischenstopp in der Marina, die in einem Sackgassen-Kanal liegt. Unter der Brücke müssen wir den Kopf einziehen, und kurz darauf wähnt man sich auf einem Rangierbahnhof für Güterzüge, so dicht wie die Schiffe hintereinanderliegen. Teilweise im Päckchen. Es gibt Wasser, Landstrom, warme Duschen und fußläufig jede Menge Pubs. Unser persönliches Halloween erlebe ich tags drauf im Shrewley Tunnel. 1799 eröffnet. Vor der Einfahrt macht Andi den Scheinwerfer vorne am Schiff an. Kurz darauf verschwinden Schiff und Mannschaft in einer Art Tropfsteinhöhle – 400 Meter lang. Die Pferde wurden hier früher abgeschirrt. Für die Passage gibt es einen kleineren, zweiten Tunnel, der oberhalb verläuft. Das Treideln wurde durch das sogenannte Legging ersetzt. Entweder von der Crew selbst oder von „Leggern“. Diese Männer lagen entweder auf der Ladung und spazierten mit ihren Beinen die Tunneldecke ab. Oder sie legten sich seitlich auf quer liegende Bretter und gingen die Wände ab.
Das war ein richtiger Beruf. Und nicht ungefährlich. Manch einer soll dabei über Bord gegangen und von den schweren Schiffen zerquetscht worden sein, meint Andi. Glaube ich sofort. Entsprechend gruselig fühlt sich die Passage an. Ein Hauch von Geisterbahn. Gut, dass man das Licht am Ende des Tunnels bereits sieht.
Erst unter, dann über die Erde. Ähnlich aufregend ist tags drauf die Passage über einen Aquädukt. Hoch über dem River Avon. Man kann wirklich nicht sagen, dass einem langweilig wird. Wenn Entschleunigung und Ausstieg, dann vielleicht so, denke ich schon nach wenigen Tagen. Der Puls passt sich dem Tuckern des niedertourigen Motors an. Die Landschaft zieht in Slow Motion vorbei. Die Seele seufzt und streckt sich. Und wer sich die Beine vertreten will, steigt bei der nächstbesten Schleuse aus und bereitet die übernächste schon mal vor. Nebenbei lernt man Land und Leute kennen. Wenn einem danach ist. Wenn nicht, zieht man einfach weiter. Mindestens zwei Meilen. So gesehen sind 3.000 Kilometer mehr als genug. Für knapp 1.000 Pfund Kanalgebühr pro Jahr. Mehr Freiheit für weniger Geld geht kaum. Wie sagt man: „Froh zu sein bedarf es wenig“ – und mit eigenem Narrowboat wird selbst ein Knecht zum König.