Unbekannt
· 15.11.2019
Zwei Motorboote und zweitausend Seemeilen auf den Spuren der Wikinger. Ein modernes Abenteuer – und der Traum eines Mannes
Bernard Deguys gegerbtes Gesicht ist voller Geschichten. Mit klarem Blick erzählt es von Stürmen, Eis und der sengenden Sonne auf hoher See. Und wenn es schweigt, ist es ein wissendes Schweigen, begleitet von einem Lächeln. Doch es gibt viel zu erzählen: Von der ersten Whitbread-Regatta um die Welt etwa, bei der Bernard 1973 zur Crew seines Landsmannes, des Ausnahmeseglers, Éric Tabarly gehörte – und die mit einem Mastbruch endete.
Oder von seinem zweiten Versuch, diesmal auf seiner eigenen Rennyacht "Neptune", bei dem er als achtbarer achter von fünfzehn Startern nach 130 Tagen und 27 000 Seemeilen ins Ziel kam.
Mehr als dreißig Mal hat der gebürtige Bretone bislang den Atlantik überquert, lange als Kapitän für den legendären Meeresforscher und Filmemacher Jacques-Yves Cousteau gearbeitet und danach für Paul Watson, den kanadischen Umweltaktivisten, dessen Organisation "Sea Shepherd" sich mit dem kompromisslosen Kampf gegen den Walfang einen Namen gemacht hat. Jahrzehnte lang, ein ganzes Leben lang hat Bernard Deguy gemacht, wovon andere Menschen nur träumen. Doch einen großen Traum hat auch er noch – und der wird gerade Wirklichkeit.
Lerwick, das Zentrum Shetlands, ist eine Stadt aus grauem Stein. Auf einer felsigen Landspitze ragt sie in den schmalen Sund hinaus, der sie von der gegenüberliegenden Insel Brassey trennt. Kahle, windgeschliffene Hänge rahmen den Sichtkreis ein. Das kurze Grün krallt sich am Boden fest. Was hier wächst, kommt selten aus der Deckung. Für die wandernden Wettersysteme des Nordatlantiks ist Shetland noch nicht einmal ein Stolperstein. Man kann sich nur zu gut vorstellen, wie es hier aussieht, wenn der Himmel im Winter wie eine rissige Betondecke über den Inseln hängt und jeden Augenblick einzustürzen droht. Und doch ist jetzt alles anders:
Es ist Mitte Mai und die Einheimischen müssen lange überlegen, bis ihnen ein Jahr einfällt, in dem sich ein Sommer ähnlich strahlend angekündigt hat: Seit Wochen schon scheint die Sonne über der Inselgruppe.
Die Passagiere des Kreuzfahrtschiffes draußen auf dem Sund posieren zwischen den alten Kanonen von Fort Charlotte für Selfies und halten am Strand hinter dem "Queen’s Hotel" die Zehen ins Wasser. Eine Sattelrobbe, die es aus kälteren Gefilden hierher verschlagen hat, sonnt sich auf der gepflasterten Slipbahn an der Victoria Pier. Beste Bedingungen für "Seefahrer" jeder Art.
Der kommunale Gästesteg gleich daneben ist zur Hälfte belegt. Zwischen einigen norwegischen Segelyachten sorgen zwei ungewöhnliche, nur knapp zehn Meter lange Motorboote im Päckchen für Aufmerksamkeit. Ihre flache Keilform mit dem breiten, geraden Heckspiegel und dem niedrigen Deckshaus erinnert nämlich eher an moderne Segelyachten, an schnelle Performance Cruiser, die auf Leistung und Funktionalität statt auf Komfort getrimmt sind.
Nur, dass jemand vergessen zu haben scheint, Masten und Rigg aufzustellen. "Dromy" und "Lipsi" heißt das Duo mit der französischen Trikolore am Heck.
Verglichen mit dem robusten Seenotrettungsboot an seiner seegrasbewachsenen Muring, den rostgezeichneten Trawlern vor der Fischfabrik oder selbst den hochbordigen Seglern mit dem trocknenden Ölzeug über der Reling, wirken die zwei Franzosen puristisch, leicht und kaum für die raue Witterung und die kalten Gewässer dieser Breiten geschaffen. Und dennoch strahlt der Entwurf eine versteckte Athletik aus. Eine Fitness für besondere Herausforderungen.
Diese Vermutung hat auch ein bärtiger Kerl, kaum dreißig Jahre alt, von einer Ketsch aus Ålesund ganz vorne am Steg. Er kommt vorbei, um sich die beiden baugleichen Motorboote genauer anzusehen, die so gar nicht hierher zu passen scheinen. "Loxo 32" liest er am scharfen Bug. Fünf Personen, eine Frau und vier Männer, alle im besten Alter, sitzen mit dampfenden Kaffeebechern im Cockpit des innenliegenden Bootes. In ihrer Mitte: Bernard Deguy.
Der blonde Segler staunt nicht schlecht, als er erfährt, dass die kaum zehn Meter langen Boote wie seine eigene Crew vom Fjordland herüber gekommen sind, genauer gesagt aus Bergen, ein Schlag von immerhin 180 Seemeilen. Man habe ein Wetterfenster abgepasst, erklärt Bernard.
Kaum Windsee, nur eine alte Dünung aus Nordwesten. Einen Tag und eine Nacht sei man unterwegs gewesen.
Dem jungen Norweger scheint die abenteuerliche Geschichte zu gefallen. Mit Blick auf den flachen Rumpf fragt er: "Up and down the swell! More like a surfboard, yes?" Die Franzosen lachen. So ungefähr, auf dem Schwell statt durch ihn hindurch. Der Stegnachbar wird an Bord gebeten und sieht sich auch unter Deck um, wo die Kabine etwa soviel Platz bietet wie ein Campingbus – mit ähnlichem Ambiente. Gerade Linien und glänzende Oberflächen, viel Kunststoff.
Aufgeräumte Funktionalität par excellence. Teak und Messing sucht man vergebens. Die klare Aufteilung mit den Polsterbänken entlang der Rumpfseiten und die offene Schlupfkoje im Vorschiff erinnern den Norweger ebenfalls eher an einen sportlichen Jollenkreuzer.Dass das kein Zufall ist, liegt an der Herkunft des Bootstyps.
Denn die Loxo 32 stammt aus einer Familie von Seglern. Bei Pogo Structures in Sainte-Marine in der südlichen Bretagne scheint man gerne ungewöhnliche Ideen zu verfolgen. Das hat dem noch jungen Unternehmen bereits Preise eingebracht – unter anderem den begehrten Titel einer "European Yacht of the Year", jährlich vergeben von den großen Segelmagazinen Europas.
Warum sollte man diese Erfahrung nicht auch in den Entwurf eines innovativen Motorbootes einfließen lassen? Wichtig war dabei allerdings nicht nur die Form, sondern auch die "Ausdauer". Kaum zwei Tonnen bringt die Loxo 32 leer auf die Waage. Bei einem solchen Leichtgewicht genügen dann schon 75 PS für eine Reisegeschwindigkeit von etwa elf Knoten – bei einem Verbrauch von gerade einem halben Liter pro Seemeile.
Das ermöglicht eine Reichweite von immerhin 300 Seemeilen, eine Grundvoraussetzung für Etappen, die einmal über die ganze Nordsee führen – und dafür, dass Bernard seinen lange gehegten Traum verwirklichen kann. Was dahinter steckt, erzählt er schließlich am Abend.
In der Bar des Lerwick Boating Clubs trifft man sich wie- der. Vereinsstander dekorieren die Decke. Die Tische sind blankgescheuert und die Gläser randvoll. Bei jedem Anstoßen hinterlassen sie glänzende Ringe auf dem Holz. Draußen fällt die tiefstehende Sonne auf den leeren Sund. Der Kreuzfahrtkoloss ist längst ankerauf gegangen und dampft mit seinen dreitausend Passagieren neuen Ufern entgegen.
Auf Bernards linker Seite sitzt seine Frau Florence, zierlich und hellwach. Rechts lehnt sich Pierre zufrieden lächelnd zurück. Er ist der Bruder des Skippers und der dritte aus dem Kreis der Familie. Lange leitete er ein Hotel auf Korsika und seine entspannte Art, so typisch für des Süden, wirkt auch auf Shetland ansteckend. Komplettiert wird die Crew durch Gilles von Volvo Penta aus Paris. Deren Diesel stecken auch in der Loxo 32.
Es war es nur naheliegend, dass bei einem solch abenteuerlichen Törn auch jemand vom Motorenhersteller an Bord ist. Da musste Gilles nicht lange überlegen. Mit Leslie, den die Franzosen kurz nach ihrer Ankunft in Lerwick zufällig kennengelernt haben, unterhält er sich über das Programm des nächsten Tages. Wenn man schon einmal auf Shetland ist, muss auch Sightseeing sein – wenn man die lohnenden Ziele kennt. Und da kommt Leslie ins Spiel.
Selbst begeisterter Bootsfahrer, steuert er als Bauunternehmer inzwischen gemächlich auf den Ruhestand zu und verfügt damit nicht nur über die Ortskenntnis, sondern auch die nötige Freizeit, um den Gästen als "Lotse" die grandiose Natur seiner Küste aus nächster Nähe zu zeigen.
Die Seeseite der Insel Noss zum Beispiel, die über mehrere hundert Meter lotrecht vom Himmel herabzufallen scheint, und deren vom Wind zernarbter Sandstein jetzt während der Brutzeit Heimat hunderttausender Seevögel ist. Oder die Felsbrücken und Höhlen im Süden von Bressay, die man nur auf dem Wasser erreicht. Oder die einsame Schönheit der abgelegenen Out Skerries mit der glasklaren Bucht von Böd Voe. Ein Programm, an das man sich lange erinnern wird.
Später am Abend kommt der Norweger vom Hafen und bringt zwei Freunde mit. Man rückt zusammen und erweitert die Runde. Skål! Schnell kommt das Gespräch auf die Reise: "Die Fahrten der Wikinger haben mich schon immer fasziniert, das waren großartige Seefahrer", erzählt Bernard. "Ich selbst war als Kind auch rastlos und dauernd unterwegs". Weite Strecken zurückzulegen, in großen und kleinen Etappen, auf einfache Weise, ohne Eile. Im Schutz der Küste, so oft es geht, und über offene See, wenn es sein muss. Sich nach dem Wetter zu richten, Chancen abzuwarten und zu nutzen.
"Das ist echte Freiheit".
Bernard Deguys Leidenschaft ist offensichtlich. Als er vom Entwurf der Loxo 32 erfahren habe, der Seglern so ähnlich sei, aber durch die höhere Geschwindigkeit bei gleichzeitig großer Reichweite noch flexibler, habe er geahnt, dass er mit diesem Boot seinen Traum würde verwirklichen können, sagt er. Die Route würde den Lang- schiffen vor 1000 Jahren folgen, Reisen, die in Versen verewigt wurden: Von Skandinavien hinüber zu den britischen Inseln, durch die Irische See und weiter in die Normandie, deren Name von den Nordmännern stammt.
"Ich werde bald achtzig Jahre alt", lacht Bernard und zuckt mit den Schultern. "Da hieß es jetzt oder nie!"
Der erste große Schritt ist jetzt gemacht. Am Ende wird er sein Ziel erreichen, im Kielwasser der Wikinger. Was für eine Saga.