BohuslänSchwedens “Wilder Westen” am Skagerrak

Christian Tiedt

 · 05.05.2024

Unterwegs in den Schären nördlich von Lysekil
Foto: Christian Tiedt
Mit der Motoryacht vom Cruising Club der Schweiz erkunden wir den “Wilden Westen” Schwedens - die Schärenküste der Region Bohuslän von Göteborg hinauf bis zur norwegischen Grenze. Teil 1: Im Sturm auf Nordkurs.

Leinen los in Lilla Bommen, dem Gasthafen von Göteborg. Unter dem Bugspriet der Viermastbark „Viking“ hindurch, hinaus auf den Fluss und hinab Richtung Meer. Unser Sommertörn mit dem Cruising Club der Schweiz hat begonnen, einmal mehr an Bord der „Rolling Swiss 2“. Zwei Wochen liegen vor uns - und ein außergewöhnliches Revier: die Schärenküste der historischen Region Bohuslän. Bis zur norwegischen Grenze prägt karger Fels das Panorama. Doch dass nicht nur die raue Optik dafür verantwortlich ist, dass diese 80 Seemeilen auch als Schwedens „Wilder Westen“ bekannt sind, glauben wir beim Blick aufs Barometer (und die moderne Wettervorhersage) sofort: Alle Zeichen stehen auf Sturm...

So liegt der Göta älv grau und leer vor uns, die Flaggen am Ufer knallen. Wind und Wolken drängen uns entgegen, und es beginnt zu regnen”

Vorbei am Gas- und Containerterminal und an den Fahrwasserbaken mit ihren Radarauslegern auf den Rivö fjorden. Hinter der „12“ biegen wir nach Norden ab, hinein in die Durchfahrt zwischen den Honö und Grotö. Das Tagesziel ist schnell erreicht; nur elf Seemeilen legen wir entlang der Küste von Bohuslän zurück, bis wir in den Hafen von Öckerö einfahren. Rechts die Werft mit einer voll aufgeriggten Bark auf der Slip, einem Nordmeertrawler und einer ganzen Reihe kleinerer Fahrzeuge der Försvarsmakten, der Armee, in ihrem braun-grauen Tarnschema.

Meistgelesene Artikel

1

2

3

Öckerö: unser erstes Tagesziel

Wir machen längsseits direkt vor dem Servicegebäude fest, neben einer Princess aus Norwegen. An Land windgepeitschte Blumenkübel, einige unvermeidliche Wohnmobile und Pfützen, in denen die Böen spielen. Sonst ist der Hafen wie ausgestorben. Hier ist nichts. Abgesehen von der (geschlossenen) Pizzeria mit der 1,5-Sterne-Bewertung, dem (geöffneten) Minishop, der aber nur Süßigkeiten und Sonnenbrillen verkauft, und dem skurrilen Holzschuppen mit Herrenfriseur. Ich drehe ein Runde, an der Werft vorbei, bis der Weg an einem Zaun endet. Auch an der Bucht komme ich nicht weiter. Ferienhäuser, die sich im Nichts verlieren.

Letzte Option ist der Naturstieg auf den Felsen. Ein Kiesweg mit Bänken, der in drei Minuten bewältigt ist. Nicht hoch hier, und dennoch ist die Rundumsicht der erste Höhepunkt der Reise – im wahrsten Sinne. Eine geschmiedete Kompassrose auf dem Boden zeigt die Himmelsrichtungen an: Von Nord nach Süd verläuft der Stora Kalvsund, einige Segler sind zu sehen. Für einen schönen Augenblick bricht die Sonne durch über der Küste von Bohuslän.

Von Schären geschützt nach Marstrand

Erstes Aufwachen an Bord, das Satellitenbild der Küste von Bohuslän bei Windy ist leider unmissverständlich. Nach Öckerö steht mit Marstrand aber nun zumindest ein echter touristischer Hotspot auf dem Programm. Gut, dass die Distanz mit knapp 24 Seemeilen auch heute überschaubar ist. Um 12 Uhr legen wir ab. Die Gashebel werden nach vorn geschoben, Kurs Nord. 8,5 Knoten zeigt das Display.

An Steuerbord haben wir die größere Insel Björkö. Das Wasser ist auch hier unruhig, vereinzelte Schaumkronen springen auf, über uns zieht Stratokumulus vor dem Wind mit beeindruckender Geschwindigkeit nach Osten. Immer wieder kreuzen ihre großflächigen Schatten das Fahrwasser und ziehen die Farben aus der Umgebung. Der Källöfjorden ist schon wesentlich offener, und auch der anschließende Sälöfjorden ähnelt eher einer weiten Lagune.

An ihrem westlichem Rand, einer lückenhaften Barriere aus Felsen, stieben immer wieder weiß die Brecher auf.”

Draußen auf dem Kattegat haben wir schon sieben Windstärken, mindestens. Es wird noch heftiger werden. Selbst hier peitscht der Wind die kurzen Wellen zu einem Flickenteppich aus fliegender Gischt auf. Dann liegt Marstrandsö voraus mit der Festung Carlsten, dem weithin sichtbaren Wahrzeichen Marstrands. Erst im Windschatten der Bebauung und des Burgbergs beruhigt sich das Wasser einigermaßen. Wir lassen die voll besetzte Fußgängerseilfähre passieren und gehen dann mit dem Bug an den Betonschwimmsteg.

Hier herrscht konsequente Sommerstimmung. Auch wenn Windbreaker vorherrschen und die aufgehängten Sommerkleider vor den schicken Butiken im Wind schwanken und die Servietten an der Fischbude nur auf Nachfrage ausgegeben werden. Da wieder Wolken im Anmarsch sind und Bewegung heute kaum stattgefunden hat, schultere ich gleich den Fotorucksack, klettere die Bugleiter hinunter und mache mich entlang der Hospitalsgatan bergauf auf den Weg zur Festung.

Marstrand: Schmuckkästchen aus Holz

Marstrand ist ein Schmuckkästchen der Holzarchitektur, errichtet von wohlhabenden Menschen, so viel ist klar. Kapitäne, sicherlich, aber wohl ebenso betuchte Göteborger, mit genügend Mitteln, woher auch immer. Erker, Türme, Wintergärten, in makellosem Weiß und dezent Pastelltönen. Gärten und kleine Hinterhöfe, aus denen Stimmen dringen. Autos gibt es hier nicht, all das erinnert etwas an Helgoland. An der Kirche vorbei, wo der Pastor wohlstimmend für drei alte Damen singt.

Dann bin ich am Fuß der Festung, Mauern und mehr Mauern, siebzehntes Jahrhundert, ein ineinander geschachtelter Komplex kriegerischer Konzepte am Rand des Meeres. Ein paar der alten Hinterlader stehen noch auf einer Bastion, der Stadt zugewandt. Ich trete dem Wind entgegen und komme auf das Plateau westlich der Festung. Hier ist der Blick frei auf die Küste mit den wenigen vorgelagerten Schären. Am unruhigen Horizont der eine oder andere Leuchtturm. Das Meer vor Bohuslän ist in Aufruhr.

Ist das wirklich die Ostsee? An Riffen und Uferfelsen explodiert die Brandung. Viel wilder wirkt dieses Panorama”.

Im Schatten der Wolken ist es kalt, doch die Sonne kommt immer wieder kurz hervor – zumindest noch. Ich gehe schließlich zum Hafen zurück, wo die Fähre nach wie vor pendelt. In Marstrands Wärdshus bekommen wir einen Tisch am Fenster, weit genug entfernt vom Geburtstagsgegröhle der gut situierten Jugend auf der Terrasse. Pripps Blå und frischer Dorsch für uns alle drei. Draußen eilen die Urlauber durch den Regen.

Hinter den Inseln weiter nach Norden

Am nächsten Morgen ist der Sturm da. Nach einer Sintflut in der Nacht – wie wir später erfahren werden, wurde halb Oslo überflutet – fährt der Wind noch steifer durch die Riggs der Segelyachten als am gestrigen Abend. Vor der Pier steht ein ordentlicher Querstrom vom hereingedrückten Wasser. Wie gestern beschlossen, werden wir aufgrund des Wetters die innere Route wählen, hinter den großen Inseln Tjörn und Orust nach Norden. Statt Mollösund an der Außenküste wird nun Uddevalla unser Tagesziel sein, tief im Landesinneren von Bohuslän, fast schon ein Binnenhafen. Rund 37 Seemeilen liegen vor uns, vergleichsweise geschützt.

Unser schwedischer Stegnachbar kennt sich aus und warnt uns dennoch vor dem Älgofjorden, den wir überqueren müssen.”

Wie recht er hat: Nachdem wir die Landabschirmung verlassen haben, erreichen wir den Fjord. Obwohl Schären ihn zum Kattegat hin abschirmen, genügen dem stürmischen Nordwest drei Seemeilen Anlauf, um die Masse des hereindrängenden Wassers zu einer beeindruckenden Windsee aufzutürmen. Die Wellen sind steil, die Frequenz ist kurz. Der Blick aus dem Salon voraus ist wie in D der Waschstraße, die Sicht null. Gischt hüllt uns ein. Die Fotos aus der Seitentür kosten mich fast mein Smartphone – denn nicht nur meine Stiefel laufen voll Salzwasser. Eine bange Viertelstunde folgt. Großes Durchatmen, als es doch wieder zum Leben erwacht.

Weiter geht die Reise, ruhiger jetzt, auf dem knapp zwei Seemeilen breiten Hakefjorden, der Tjörn vom Festland trennt. Hohe felsige Küste als dunkle Silhouette über seltsam sturmgrünem Wasser. Hinter der Tjörnbron verengt sich der Sund schließlich, doch die See bleibt wie leergefegt. Eine gute Stunde geht das so, ohne dass wir auch nur einen Mast sehen. Schließlich treffen wir auf den Havstensfjorden, der von der offenen See kommend bis Uddevalla führt.

Uddevalla: schon fast im Binnenland

Hier wird es noch mal lebendig, allerdings mit dem Wind von achtern, sodass unsere Trader nun surft anstatt zu rollen. Unter der hohen Autobahnbrücke hindurch lassen wir den Wirtschaftshafen Uddevallas links liegen und laufen stattdessen an hohen Silos vorbei und in den Fluss Bäveån ein. Kurz oberhalb der schiffbaren Mündung liegt der Sportboothafen der Stadt. Das Wasser ist schon da, Treppen und Stege sind überflutet. An unserem Steg ist tatsächlich ein laminiertes Schild mit dem Bootsnamen für die Reservierung befestigt.

Keine fünf Minuten später liegen wir fest am ächzenden Schwimmsteg. Es ist zehn vor fünf. Die neuen Bänke am Uferpark tragen blaue Markierungen in Form von Wellenlinien: Im Jahr 2070 wird der Meeresspiegel durch den Klimawandel bis zur Brust der Sitzenden reichen, am Ende des Jahrhunderts dann bis zum Hals – mindestens.

Uddevalla am Morgen: Regennass glänzt der Holzsteg an der Promenade. Doch der Wind hat nicht mehr den gleichen Biss, und das Hochwasser ist zurückgegangen. Gestern war nur noch eine Reihe Granitblöcke sichtbar. Es gibt Kaffee, dann mache ich mich auf zum Bohuslän Museum gegenüber. Freier Eintritt. Aber von innen ist das Gebäude auch eher Gemeindezentrum als Ausstellung. Ein Fotoprojekt dokumentiert vom Aussterben bedrohte mythische Wesen des Nordens.

Da sind Klassiker dabei wie die Meerjungfrau, der Troll oder die Elfen. Aber auch weniger bekannte Vertreter: die geheimnisvolle Askefro zum Beispiel, die unheimliche Sjörå oder der irrlichternde Irrbloss. Die Bilder dazu sehen aus, wie mit künstlicher Intelligenz generiert, scheinen aber echte Fotografien zu sein. Ziemlich aufwendig, etwas lebendig ein zufangen, das es überhaupt nicht gibt.

Der lange Weg zurück zur Außenküste

Nachdem ein weiterer Schauer durchgezogen ist, werfen wir die Leinen los. Ein Blick zurück auf die Zementspeicher, über den Byfjorden, unter der Brücke hindurch und auf dem Havstensfjord diesmal weiter geradeaus Richtung Westen. Auf dem Vorschiff ist es im Fahrtwind frostig wie eh und je, doch bald wird das Fahrwasser schmaler und gewundener. Im Süden haben wir noch immer Orust, im Norden jetzt die Halbinsel Bokenäset. Das Wasser ist jetzt wie eine Aneinanderreihung von Binnenseen, getrennt durch Inseln.

Am Koljöfjorden schließlich zweigen wir nach Nordwesten ab, in die sehr schmale Passage, die das Festland von Bohuslän von der Insel Flatön trennt. Ein paar Mal kann man die Felsen fast berühren; die auf der anderen Seite von roten Schwimmstangen begrenzte Rinne hat kaum mehr als die dreifache Bootsbreite. Da warten wir lieber für eine größere Sunseeker auf Gegenkurs, deren Skipper sich von der Flybridge bedankt. Jetzt wird es spannend:

Nach zwei Tagen „Binnenfahrt“ treffen wir wieder aufs offene Meer – allerdings immer noch mit Schären als Wellenbrecher.”

Wir kommen auf einen langgezogenen Fjord, gehen auf Südwestkurs und haben die Stadt Lysekil gegenüber. Der Wind kommt mit 5 bis 6 Stärken jetzt von voraus, doch die zuvor gebrochene See kann die „Rolling Swiss“ gut stemmen. Noch zwei Seemeilen, dann laufen wir in den geschützten Hafen von Grundsund ein. Für uns ist genau ein Platz längsseits frei, gleich vorn links an der Pier mit den weißen Reifen. Leinen über, Motor aus, wir sind nach unserem Umweg zurück an der Küste! Die junge Hafenmeisterin erzählt uns, wie überrascht sie ist, heute überhaupt noch eine neue Yacht im Empfang zu nehmen. Denn die übrigen Liegeplätze seien auch deshalb belegt, weil in den vergangenen zwei Tagen wegen des Sturms niemand ausgelaufen sei.

Grundsund: endlich ein Sonnenuntergang

Grundsund hat Charme. Unter wolkenverhangenem Himmel, mit der Brandung an den dunklen Felsen und dem insgesamt wilden Panorama, wirkt es so, als würde der Ort nich in Bohuslän liegen, sondern eintausend Kilometer weiter nördlich liegen, auf den Lofoten vielleicht. Oder gleich auf Island. Zum Essen gehen wir zu Krögens Fisk & Krog am Lönndalswegen, gleich bei der Brücke über den Kanal, eingerichtet wie im eigenen Wohnzimmer, mit tollem Fisch. Und dann kommt das Beste: Nach vier langen Tagen zeigt der Himmel endlich Gnade und lässt es aufklaren.

Selten war ich dankbarer für einen Sonnenuntergang, besonders über stürmischer See. Wir sind eine knappe halbe Stunde unterwegs auf dem schön angelegten Holzwandersteg über die Küstenfelsen, während die Gischt um die Badeleitern brandet. Wir können uns gar nicht sattsehen an den Farben, als wären sie tatsächlich ein gutes Vorzeichen. Ebenso entscheidend für den Abschluss dieses Tages: Wir kommen bei Hugos Bu Bar vorbei, ein Holzschuppen gleich neben dem Meer. Drinnen brennt Licht, ausgelassene Stimmen dringen nach draußen:

In die Höhle müssen wir rein“, beschließt der Skipper.

Wollene Wärme umfängt uns. Unter den tief hängenden Deckenbohlen bekommen wir bei den beiden Jungs am Tresen ein Tail of a Whale frisch vom Fass, dazu finden wir einen Stehtisch am Fenster. Besser geht’s kaum, während draußen die erste helle, wolkenfreie nordische Nacht anbricht.

Der Sturm ist vorüber, Strömstad das Ziel

Segel überall: Alle nutzen die Gelegenheit, nach drei Tagen schwerem Wetter endlich wieder Strecke zu machen. Dazu begegnen uns viele norwegische Motoryachten mit hoher Bugwelle auf Südkurs. Die Sonne soll zwar nur bis mittags scheinen, aber immerhin! Zwischen Lysekil und Smögen geht es hinein in die Schären von Bohuslän: Die rundgewaschenen und völlig kahlen Felsen formen ein Labyrinth aus rötlichem Granit, das den Blick auf den Horizont immer wieder verstellt. Wie leicht man sich hier verlieren könnte.

Smögen, das auch auf dem Törnplan steht, lassen wir erst einmal links liegen: Pünktlich zum Wochenende ist Hochsommer angesagt.”

Da er aber nur drei Tage dauern soll, wollen wir ihn für die vorgelagerten Inseln nutzen, für Koster und die Väderöarna. Auf den Weg zurück nach Süden werden wir dann wieder Zeit haben – wenn auch bei grauem Himmel. So passieren wir den knapp drei Seemeilen langen Sotekanalen, der nördlich von Kungshamn beginnt und den etwas weiteren Weg um die Halbinsel Sotenäs spart, und kommen am späten Nachmittag bei leichtem Nieseln in Hunnebostrand an.

Auch Hamburgsund am nächsten Tag sehen wir nur im Regen. Hütten und Häuser, rot am Wasser, weiß in zweiter Reihe, alle mit Steg, fast alle mit Boot, davor kalte Grills, leere Bänke und Liegestühle. Wie Vorhänge geben die Schauer den Blick frei oder verhüllen, wenn ihnen danach ist. Doch unsere Vorfreude steigt, denn am Freitagabend in Strömstad, dem letzten Hafen von Bohuslän - und Schwedens - in einem Hafen voller Norweger, erreicht uns blauer Himmel. Der Sommer ist da!

Meistgelesen in der Rubrik Reisen