Am Steg steht eine Frau und winkt. Das ist merkwürdig, eigentlich erwartet mich hier niemand. Ich folge dem Handzeichen und erlebe dänische Gastfreundschaft: Eva vom Sejlklubben Jegindøv lotst mich zu einem freien Liegeplatz „Damit du nicht lange suchen musst“, ruft sie mir auf Englisch zu und nimmt die Vorleine entgegen, um sie am Steg zu belegen. Das ist ein netter Empfang, zumal ich als Einhandsegler stets helfende Hände beim Anleger zu schätzen weiß.
Allerdings: So richtig einladend sieht es im Jegindø Havn auf den ersten Blick nicht aus. Abgenutzte Betonpiere und zerfaserte Holzstege fallen ins Auge. Handwerker arbeiten mit dröhnenden Maschinen und holen den alten Hafenkiosk aus dem Dornröschenschlaf. Eva sieht offenbar meinen skeptischen Blick und erklärt: „Es ist hier in der Tat nicht mehr so, wie es sein sollte. Lange wurde nichts für den Erhalt des Hafens getan. Nun aber haben wir tolle Pläne, die Anlage zu sanieren. Bald schon soll es hier wieder ganz anders aussehen.“
Das ist typisch Limfjord: Eben kommst du aus einer modernen Marina, segelst an märchenhaften Kliffufern entlang und landest einige Meilen später in einem Fischernest, das so aussieht, als sei seit 70 Jahren die Zeit stehen geblieben. Das hat seinen Charme und eine Ehrlichkeit, die erst auf den zweiten Blick ersichtlich wird – und die es so nicht mehr oft zu finden gibt.
Eva versichert mir unterdessen: „Wir werden den Hafen behutsam modernisieren, sodass unsere Identität als Fischer auf jeden Fall erhalten bleibt. Schließlich sind das unsere Wurzeln.“ Tatsächlich war Jegindø in den 1950er Jahren der zweitbedeutendste Fischereihafen am gesamten Limfjord. Eine kleine Ausstellung im „Æ Fywehus“ direkt am Hafen hält die Erinnerung wach. Gezeigt werden Fanggeräte und Boote, daneben ist das harte Leben der Fischer mit Bildern und anderen Zeitzeugnissen dokumentiert.
Die Realität der einfachen, beschaulichen und auch mal vom Zahn der Zeit gezeichneten Häfen und Anleger ist das eine. Daneben findet sich am Limfjord das, was viele farbenfrohe Werbebroschüren versprechen: komfortable Gasthäfen sowie einzigartige Küsten, die geprägt sind von blühenden Heidelandschaften, sanft geschwungenen Hügeln und Steilufern. Der Fjord selbst ist untergliedert in viele große, miteinander verbundene Wasserflächen. Sie sind ideal für fast jede Form von Wassersport und selbstverständlich auch für ausgiebigen Badespaß in ausgedehnten Flachwasserbereichen.
Meine Limfjord-Affäre beginnt hingegen erst einmal ziemlich unromantisch, und zwar an dessen östlicher Einfahrt beim alten Fischerei- und Lotsenhafen von Hals. Die Küste am Kattegat war noch herrlich mit Strand und Sandbänken gesegnet, dann geht es plötzlich wie auf einem künstlichen Kanal in großen Schwüngen Kurs West.
Neben Freizeitbooten sind Frachter und Feederschiffe unterwegs nach Aalborg, der viertgrößten Stadt Dänemarks. Handel und Industrie bescheren der Region einigen Wohlstand. Das strategisch günstig an der Wasserstraße liegende Aalborg spielt lange schon eine gewichtige Rolle für den Warenverkehr von und nach Skandinavien. Darüber hinaus profitierte die Stadt von den fischreichen Gründen des Fjords, insbesondere vom Heringsfang, der von hier aus nach ganz Nordeuropa verkauft wurde. So gelangte Aalborg zu Ansehen und Macht.
Städtebaulich lässt sich das heute noch erahnen. Historische Backsteinbauten sowie alte Werft- und Lagerhallen gehen einher mit modernen Büro- und Wohnkomplexen. Aalborg ist eine kulturell lebendige Metropole mit guter Gastronomie und gemütlichen Cafés. In einem von mehreren Yachthäfen findet sich zudem immer ein Platz für einen Zwischenstopp.
Bis hierher ist die Reise durchs nördliche Jütland weder landschaftlich noch in nautischer Hinsicht besonders spektakulär. Leise Zweifel kommen auf, ob diese ganzen Lobeshymnen und Erzählungen vom dänischen Traumrevier nicht eher einem geschickten Tourismusmarketing denn der Wirklichkeit geschuldet sind. Daran soll sich auch weitere 22 Seemeilen lang nichts ändern. Bis sich hinter der Brücke von Aggersund ein völlig neues Landschaftsbild öffnet.
„Das Herz des Limfjords fängt erst westlich des Aggersunds bei der Løgstør Bredning an zu schlagen“, berichtet Peer. Der Sport- und Segellehrer vom Ranum Efterskole College trainiert mit seinen Schülern auf Einheitsjollen vorm Fjordufer bei Rønbjerg Pynt. „Wenn der Wind passt, geht’s anschließend mit allen noch mal hinüber nach Livø zum Baden am Strand und Chillen im Hafen.“
Die Gewässer vor der kleinen Insel Livø mit ihrer kilometerlangen Sandbank sind für die dänischen Schüler das Heimatrevier, für die weit gesegelten Crews aus Deutschland hingegen ein Sehnsuchtsort. Livø gilt als einer der schönsten Plätze im Fjord. Neben dem kleinen Inselhafen gibt es viele gute Ankergründe, beim Landgang lohnt eine Pause am Strand südlich des Hafens wie auch eine Wanderung in der Hügellandschaft im Inselnorden. In der Karte des „Livø Kro & Købmandscafé“ stehen leckere Gerichte, zubereitet mit Zutaten aus der Region. Hier werde ich nicht nur satt, sondern auch glücklich!
Nachdem Livøs gefährlicher Südhaken sicher umschifft ist, liegt an Steuerbord erst die große Bucht der Insel Fur, später tauchen die Kliffe und die Hügellandschaft von Junget auf. Es folgt die flache Vogelinsel Rotholmene und kurz darauf die imposante Sandbank bei Hvalpsund, die fast die gesamte Durchfahrt in den südlich dahinter liegenden gleichnamigen Sund versperrt. Auch das ist typisch Limfjord: eine schier unglaublich variantenreiche Landschaft auf wenigen Seemeilen Distanz.
Geschaffen wurde sie am Ende der letzten Eiszeit. Als es auf dem nordskandinavischen Rücken zu tauen begann, bildeten sich große Seen mit Schmelzwasser. Das abfließende Wasser schuf über Jahrtausende die einzigartige Landschaft. Strömung, Gezeiten, Stürme und Erosionen modellierten sie weiter. Noch immer ist der Gestaltungsprozess im Gange – was Berufs- und Freizeitskippern mitunter Überraschungen beschert.
Wie im südöstlichen Teil des Limfjords, in der Lovns Bredning. Hoch ragt dort bei Knudshoved die Steilküste in den Himmel empor. Ich kürze den Kurs nur um ein paar Grad ab und halte auf eine rote Fahrwassertonne zu. Plötzlich ist die Fahrt raus, das Lot zeigt null Meter unterm Kiel. Das ist ziemlich wenig, vor allem wenn die Seekarte mindestens drei Meter verspricht! Der bisherige Halbwind-Kurs endet mit einem ungewollten, auf der Langkielachse gedrehten Aufschießer. Segel runter, Motor an, durchatmen, Lage checken.
Wenigstens besteht der Grund aus Lehm und Sand. Vielleicht klappt es mit Hilfe der Maschine, das Boot zurück in tieferes Wasser zu manövrieren. Nach einigem erfolglosen Probieren höre ich mich schon via Funk Schlepphilfe anfordern. Doch zuvor ziehe ich alle Register: Tücher wieder hoch, Genua back, Groß weit raus, Pinne auf Kurs gelascht, Maschine Vollgas und der Kapitän angeleint raus auf den Baum bis zur Nock. Es ist ein im Wortsinn bewegender Moment, als die Yacht freikommt und ins tiefe Wasser driftet. Meine Limfjord-Liebe ist infolge der Grundberührung nur wenig getrübt. Heiter segel ich weiter südwärts, ein Auge nun allerdings mit dem Lot verheiratet.
„Das Revier ist gleichermaßen bekannt für seine Schönheit und für seine navigatorischen Herausforderungen. Die Sandbänke hier können binnen kurzer Zeiträume ihre Lage verändern“, erklärt Sabina vom Danske Tursejlere, einer Organisation, die sich um die Belange der Fahrtensegler in Dänemark kümmert. Nach meinem Missgeschick möchte ich von ihr wissen, ob der Limfjord weitere Tücken aufzuweisen hat. Sie beruhigt: „Wenn du den ausgelegten Tonnen folgst, kann nichts passieren.“
Tage später erlebe ich eine andere typisch dänische Eigenart hautnah mit: die berühmt-berüchtigte Feierlaune unserer nordischen Nachbarn. Auf Mors, der größten Insel im Fjord, lande ich in Nykøbing im rappelvollen Yachthafen. An Land sind Bühnen aufgebaut, Live-Musik schallt übers Wasser. Hunderte Besucher sind auf den alten Kaianlagen versammelt, wiegen sich vergnügt im Takt der Musik oder halten sich an Bierbechern fest. Ebenso viele Menschen sitzen an langen Tischen, vor sich kiloweise Krabben, Muscheln und Hummer.
Zelebriert wird hier jedes Jahr Anfang Juni der Saisonstart der Austern- und Muschelfischerei. Das Schalentierfestival ist bei Besuchern aus ganz Europa beliebt, Limfjord-Austern und -Miesmuscheln zählen zu den besten der Welt. „Diese Delikatessen sind in unserem Land jedermann frei zugänglich. Es gibt ein Gesetz, dass uns Bürgern erlaubt, so viel aus dem Meer zu ernten, wie wir essen können. Nur der Weiterverkauf ist Privatleuten nicht erlaubt“, erklärt Jens Nielsen.
Der Fachmann für Krustentiere arbeitet im Aquarium von Thyborøn und zeigt Besuchern die sensible Ökologie der Meeresbewohner. „Der Bestand der heimischen europäischen Auster ist infolge eines Parasiten in den letzten Jahren extrem gesunken. Die Fischereibetriebe haben daher auf die Pazifische Auster und Hummer umgestellt“, erläutert Nielsen. Für die Fischer ist das nichts Neues. Seit Jahrhunderten müssen sie im Limfjord immer mal wieder flexibel auf Naturereignisse reagieren.
So wie nach der Sturmflut 1825, als die Nordsee die westliche Landbarriere zum Fjord durchbrach und eine Verbindung zwischen beiden Meeresteilen herstellte. Der Salzgehalt stieg rasant und brachte die einträgliche Heringsfischerei sowie den Handel mit Pökelfisch gänzlich zum Erliegen. Als sich Miesmuschel, Auster und Hummer ansiedelten, stellten die Fischer sich auf die neue Eiweiß- und Einnahmequelle ein; heute werden zunehmend Flächen mit Aquakulturen bewirtschaftet.
Heutzutage ist der Limfjord auch für Segler attraktiv. Lässt sich so doch die Passage übers launige Skagerrak vermeiden. „Wir sparen ein paar Meilen und erleben zudem ein spannendes und perfekt geschütztes Revier“, erzählt Claudia von der „Seeschwalbe“. Mit ihrem Freund Boris segelte sie von Stockholm via Götakanal und weiter übers Kattegat in den Limfjord. „Wir hatten nicht viel Zeit für den Fjord eingeplant“, bedauert Boris. „Jetzt sind wir überrascht von der Schönheit und der abwechslungsreichen Region.“
Im Hafen von Thyborøn, ganz im Westen des Limfjords, wird Tage später proviantiert, gebunkert und ein wenig repariert. Dann geht es weiter nach Schottland. Eben noch sanftes Binnenrevier mit Ostseeflair, dann klopft schon die Nordsee an die Bordwand. Noch einmal typisch Limfjord: vielseitig bis zum Schluss.