Die gute Nachricht des Tages lautet: der Meltemi macht eine Pause! Und diese Unterbrechung des gefürchteten ägäischen Starkwindes der Monate Juli bis September eröffnet uns die Möglichkeit, die Inselgruppe der Nördlichen Sporaden anzupeilen. Zu dieser Inselgruppe in der nördlichen Ägäis gehören insgesamt über 100 Inseln und Inselchen. Die größten vier Inseln Skyros, Alonnisos, Skopelos und Skiathos sind auch die bekanntesten und touristisch sehr gut erschlossen. Von Lavrion südwestlich von Athen laufen wir bei völlig ruhigem Wetter aus, um in einem längeren Schlag die südlichste Insel Skyros zu erreichen. Wir lassen die Insel Andros an Steuerbord liegen, umrunden die Südspitze von Euböa – nach Kreta die zweitgrößte griechische Insel - und nehmen dann Kurs auf Skyros.
Lange Zeit fahren wir parallel zur Ostküste Euböas, die in diesem Bereich mit ihren steilen Felsen und Bergen eher unwirtlich wirkt und keine Häfen aufweist. Wir erreichen Skyros am späten Nachmittag und wie immer endet ein Fahrtag mit der Suche nach einem geeigneten Liegeplatz.
Auf der westlichen Seite von Skyros liegt in einer großen geschützten Bucht der kleine Ort Linaria, von dem aus eine Verbindung nach Kymi auf Euböa besteht. Die große Fähre "Achilleas" dominiert den Hafen, der ansonsten von kleinen lokalen Booten belegt ist und nur wenige Gastliegeplätze aufweist, die im Übrigen alle belegt sind. Nach einigen Minuten des Herumkreisens kommt plötzlich ein Schlauchboot auf uns zu. Es ist der Hafenmeister, der uns einen wunderbaren Liegeplatz an der Stirnseite des Piers zuweist - noch dazu längsseits. Durch die exponierte Lage haben wir nach drei Seiten einen unverstellten Blick auf die Bucht und die umgebenden Berge und Inseln. Auf der Landseite geht unser Blick hinauf zu einer über dem Hafen liegenden griechisch-orthodoxen Kirche, die weiß im warmen Licht des vergehenden Tages strahlt. Kann man irgendwo schöner liegen?
„Den Liegeplatz halten wir für große Yachten vor“ erklärt er mir, als wir angelegt haben. Vorher reinigt noch ein Mitarbeiter die Pier mit einer Reinigungsmaschine, obwohl das aus unserer Sicht gar nicht nötig wäre. Die Pier ist so sauber und gepflegt, dass man vom Fußboden essen könnte. Das haben wir in über zwanzig Jahren Wassersport noch nicht erlebt. Aber damit nicht genug: wir bekommen eine Mappe mit Informationen zum Hafen und zur Insel – und zwar auf Deutsch!
Außerdem erklärt er uns die Benutzung der Hafeneinrichtungen, zu deren verrückten Highlights eine „Diskodusche“ gehört. Wir sind für solche Späße nicht mehr zu haben, aber andere jüngere Hafengäste lieben dieses Angebot offenbar.
Und dann reiben wir uns die Augen erneut: der Hafen hat ein Mülltrennungssystem, das wir in dieser Perfektion noch nirgendwo gesehen haben. Der Hafenmeister fährt mit einem elektrischen Dreirad durch sein kleines Reich und unterstützt, wo er kann. Selten haben wir uns so willkommen und gut betreut gefühlt wie hier. Natürlich lassen auch Strom- und Wasseranschluss keine Wünsche offen. Alles funktioniert, alles ist perfekt in Schuss – und gleichzeitig spielen hier entspannt die Kinder und die omnipräsenten Angler versuchen von der Mole aus, dem Meer eine fette Beute zu entreißen. Eine Tankstelle ist ebenfalls vorhanden und für das Hafenkino ist die große Fähre zuständig. Das Anlegemanöver an der kleinen Pier verdient Respekt – und als die Motoren endlich schweigen, herrscht wieder Ruhe in Linaria.
Eigentlich sind für den Abend Gewitter angesagt, aber das war auf dieser Reise schon oft der Fall, ohne dass etwas passiert ist. Als wir zum Abendessen gehen, verdunkelt sich der Himmel allerdings merklich.
In der Taverne bestellen wir die Getränke und eine Vorspeise, als die ersten Böen durch das Hafenbecken pfeifen. Die Bedienung beginnt, alles was herumfliegen kann, einzusammeln und der Wirt fährt die nagelneue Jalousie lieber ein. Wir zahlen hastig und sausen zum Schiff, um zusätzliche Leinen und Fender auszulegen. Inzwischen ist es dunkel geworden und es beginnt ein unglaubliches Spektakel. Auf 360° um uns herum leuchten ununterbrochen Blitze und das entfernte Grollen des Donners kommt zunehmen näher. Als das Gewitter über uns ist, wird aus dem Grollen ein Krachen, aber der Wind lässt nach und es beginnt zu regnen – zum ersten Mal seit zwei Monaten. Nach einer guten Stunde zieht das Gewitter ab und der Regen hört auf. Wir holen uns noch etwas zu essen an Bord und genießen nach langer Zeit mal wieder so etwas wie klare und kühle Luft.
Der Hauptort von Skyros – Chora – liegt etwa zwanzig Minuten mit dem Auto von Linaria entfernt. Im Hafen sind zehn Telefonnummern für Mietwagen angeschlagen, aber wegen des heutigen Feiertags Mariä Himmelfahrt sind fast alle ausgebucht. Schließlich bekommen wir doch noch einen von Multiunternehmer Taris. Er besitzt auch ein Hotel mit Bungalows in einer nahegelegenen Bucht und betreibt außerdem Busse, mit denen er seine Gäste auf die Insel holt. Auf dem Wege zur Nordostküste von Skyros statten wir einer großen und noch gar nicht so alten „Marina“ einen Besuch ab, die in unserem Hafenführer wie folgt beschrieben wird: „Bedauerlicherweise wird die Einfahrt nicht nur von Felsen und Riffen gesäumt, sondern ist auch so ausgerichtet, dass der Meltemi genau hineinsteht. Bei Winden aus nördlichen Richtungen entsteht vor der Einfahrt eine fürchterlich schwere See. Es gibt Tiefen von fünf Meter in der Einfahrt, die aber schnell auf einen Meter abflachen. Das Innere des Hafens droht zu versanden. Bei Windstille kann man die Ansteuerung versuchen, nicht aber bei Meltemi.“
Der optische Eindruck vor Ort bestätigt den vernichtenden Kommentar – ein wirklich trostloser Ort, in dem lediglich ein paar Seelenverkäufer herumdümpeln, gesäumt von am Ufer liegenden ausgeschlachteten Bootsrümpfen.
In krassem Gegensatz dazu steht das wunderschön gestaltete Restaurant „Anemomulos“, das in und um den Rundturm einer ehemaligen Windmühle gebaut ist. Zwei kleine Inselchen und mehrere, zum Teil in Fels gehauene Kapellen umrahmen die sehr griechisch anmutende Szenerie. Wer maritime Romantik liebt, kommt auch im kleinen Fischerhafen Molos Skyros auf seine Kosten. Hier wird noch in Handarbeit mit dem Küchenmesser der gefangene Fisch präpariert. Dominiert wird die „Chora“ allerdings von der weißgetünchten Altstadt, die sich an den Hang eines gewaltigen Felsklotzes schmiegt. Auf der Spitze des Felsmassivs thront neben einer Burgruine die Kapelle San Nicolas und das Kloster Agios Georgios. Wer hier oben bei 35° im Schatten ankommt, weiß, was er getan hat. Unterhalb des Felsens auf einem pittoresken Marktplatz gleichen wir den Flüssigkeitsverlust mit einem Kaltgetränk wieder aus.
Auf der Rückfahrt schlagen wir einen großen Bogen am Flughafen vorbei zur Westküste und entdecken das Kleinod Atsitsa. Dieser heute zum Träumen einladende Ort war früher eine Verladestelle für auf der Insel abgebautes Erz – von einer deutschen Firma betrieben, wie man uns im Bistro erzählt.
Die Reste eines früheren Viadukts aus Naturstein lassen die industrielle Vergangenheit noch erahnen. Auf der Suche nach einem Supermarkt, die aber wegen des Feiertags alle geschlossen haben, entdecken wir hinter einer ebenfalls geschlossenen Winzerei zufällig eine offene Lagerhalle, wo in Hochregalen große Mengen an Getränken lagern. An zu Tischen aufgetürmten Holzpaletten sitzen Menschen, trinken Bier und genießen offenbar ihren Feierabend. Als wir fragen, ob man denn noch etwas Wasser kaufen kann, werden wir spontan zu Bier und griechischem Salat eingeladen. Es entspannt sich eine rege Diskussion über die Themen dieser Welt – zum Abschluss schenkt man uns noch ein paar Dosen Bier und auch das Wasser, das wir eigentlich kaufen wollten. Diese Form der griechischen Gastfreundschaft – in Deutschland eher undenkbar - macht uns sprachlos und beschäftigt uns noch lange.