Thomas Kittel
· 07.05.2015
Auf eigenem Kiel zum Kreml? Mit ihrer Trawleryacht haben sich die Kittels im vergangenen Sommer auf den weiten Weg in die russische Metropole gemacht
Nach eineinhalb Jahren Planung und Vorbereitung, zahlreichen Hürden und einem vierwöchigen Törn von Rostock aus entlang der Ostseeküste bei wechselhaftem Maiwetter liegen wir nun glücklich in St. Petersburg und warten darauf, dass es endlich weitergeht. Unser großes Ziel heißt Moskau, und außer der deutschen Seglerlegende Rollo Gebhard kennen wir niemanden, der diese Reise schon einmal unternommen hat. Unser russischer Begleiter Boris beantragt die nächtliche Durchfahrt durch die dann aufgeklappten Brücken der Newa, zu deren beiden Seiten die Zarenstadt liegt. Wir bekommen einen Lotsen zugeteilt und die Zeit genannt, zu der wir uns an der ersten Brücke einfinden müssen. Von hier startet der tägliche Konvoi die Newa aufwärts – die Platzziffer im Konvoi wird kurz vorher mitgeteilt.
Einen spektakuläreren Beginn für unser russisches Abenteuer kann man sich kaum vorstellen. Die bevorstehenden "Weißen Nächte" sorgen für eine helle Nacht, die Silhouette der Stadt ist auf beiden Seiten festlich beleuchtet, und die zahlreichen Touristen zu Fuß, in Bussen oder auf den Ausflugsdampfern sorgen für eine volks-festartige Stimmung. Zwar schickt uns der Wettergott rechtzeitig zur Durchfahrt herbstliches Wetter mit starkem Gegenwind und kalten Temperaturen, sodass wir dem Lotsen sogar eine unserer Wetterjacken leihen müssen. Aber unsere Begeisterung überwiegt allen Unbill, und wir genießen dieses einmalige nächtliche Erlebnis. Jetzt sind wir wirklich drin!
Vor uns liegen etwa 1 800 Meilen auf russischen Binnengewässern, bevor wir in gut sechs Wochen wieder hier sein werden. Die Route führt durch ein System von Flüssen, Kanälen, gewaltigen natürlichen Seen und künst-lichen Stauseen mit zahlreichen Großschleusen. Da der "Wolga-Ostsee-Wasserweg" fast ausschließlich von russischen Flusskreuzfahrern, Tankern, Frachtern und Schubverbänden befahren wird, ist er breit ausgebaut und gut betonnt. Außerhalb der Metropolen St. Petersburg und Moskau sind Sportboote allerdings praktisch kaum zu finden – und solche unter ausländischer Flagge schon gar nicht.
Das ist vermutlich auch der Grund dafür, dass es auf der ganzen Strecke – von wenigen Ausnahmen abgesehen – kaum Ansätze einer maritimen Infrastruktur gibt. Wenn wir morgens starten, ist regelmäßig unklar, wo wir abends festmachen können. Auch für unseren russischen Begleiter Boris stellt der größte Teil der Strecke eine unbekannte Welt dar – von dort ist also wenig Hilfe zu erwarten. Bereits in der ersten Nacht machen wir die Erfahrung, dass ein frei scheinender Liegeplatz nicht unbedingt auch die ganze Nacht als frei gelten kann. So müssen wir nach nur drei Stunden Schlaf todmüde die Motoren wieder anwerfen und unser Schiff einige Meilen verholen. Es wird nicht unsere letzte Erfahrung dieser Art bleiben.
Die Newa kommt uns mit starker Strömung entgegen, die an einer Engstelle über fünf Knoten erreicht. Bis zur Einfahrt in den Ladogasee bei Schlisselburg begleitet uns die Zivilisation, dann wird es spürbar einsamer. Der Ladogasee ist ein riesiger und bis zu 225 m tiefer Süßwassersee – übrigens der größte See Europas. Seine Wasserfläche beträgt 17 700 km², die weit über 500 Inseln bedecken noch mal 687 km² und damit mehr als die Wasserfläche des Bodensees (536 km²). Der See erstreckt sich in Nord-Süd-Richtung über knapp 220 km und misst an seiner breitesten Stelle in West-Ost-Richtung 120 km.
Wir bleiben auf der Hinfahrt im südlichen Bereich und verlassen den See bei Sviritsa, um dann den Fluss Swir stromaufwärts zu fahren. Hier heißt es in einem Nebenfluss zu ankern, da nicht die Spur einer Anlegemöglichkeit existiert. Aufgrund eines starken, ungünstigen Windes brauchen wir eine ganze Zeit, bis der Anker unsere 60-Tonnen-Yacht hält. Als wir ihn am nächsten Morgen wieder bergen, haben wir einige überraschende Hinterlassenschaften am Haken, deren Beseitigung uns nur mühsam gelingt.
Der Swir verläuft durch wenig besiedeltes Gebiet und schlängelt sich durch endlos scheinende Nadelwälder. Er verbindet den Ladogasee mit dem Onegasee, dem zweitgrößten See in Europa. Mit seiner Fläche von knapp 10 000 km² ist er "nur" achtzehnmal so groß wie der Bodensee. Im See befinden sich zahlreiche Inseln, darunter die Insel Kischi mit ihren berühmten, als UNESCO-Weltkulturerbe anerkannten Kirchen. Hier wollen wir auf der Rückfahrt Station machen.
Zunächst machen wir aber Bekanntschaft mit der ersten von über zwanzig zu durchfahrenden Großschleusen (Länge bis zu 290 m, Breite 18 bis 30 m, Hubhöhe 6 bis 16 m). Die Schleusen sind für die Berufsschifffahrt gebaut und der Prozess exakt festgelegt. Spätestens hier versteht auch jeder Zweifler sofort, warum die zwingend vorgeschriebene russische Begleitperson mit Bootsführerschein absolut sinnvoll und unentbehrlich ist. Allein die laufende Kommunikation über Funk mit dem Schleusenpersonal, aber mit auch mit anderen Offiziellen, erfordert ihre Anwesenheit.
In der Regel werden wir mit anderen Schiffen zusammen geschleust. Die Kapitäne der Berufsschifffahrt beäugen uns "Exoten" interessiert und winken oft freundlich herüber. Ab und an fragt auch schon mal jemand per Funk nach, welches Land unsere Flagge denn repräsentiere. Das Schleusen geht trotz der großen Hubhöhen relativ schnell mit entsprechenden Turbulenzen im Becken. Trotz größtmöglicher Sorgfalt leiden unsere großen Kugelfender sehr. Am Ende der Reise geht zweien endgültig die Puste aus, und die Schutzhüllen erinnern mit ihren herunterhängenden Fetzen an verwundete Boxer.
Nach den sommerlichen Temperaturen Ende Mai ist das Wetter im Juni völlig umgeschlagen: kühl, regnerisch und zum Teil sehr windig. Wir fühlen uns fast wie zu Hause, hätten es aber lieber etwas wärmer. In dieser Atmosphäre erreichen wir Wytegra – die erste russische Kleinstadt, in der wir einen Gang an Land machen. Es beginnt mit dem Liegeplatz an einer alten, vergammelten Betonpier mit ein paar rostigen Pollern – ansonsten kein Wasser, kein Strom, keine Infrastruktur – nichts.
Kaum haben wir angelegt, steht schon eine aufgetakelte Dame da und bedeutet uns, dass dieser Liegeplatz 4000 Rubel kostet (etwa 90 €). Das ist natürlich ein durch nichts gerechtfertigter Wucherpreis, aber es kommt noch besser: Der Preis gilt nur für 12 Stunden – macht 180 € für die ganze Nacht. Wir machen der Dame klar, dass wir die 4000 Rubel zähneknirschend bezahlen, aber keine Kopeke mehr – ansonsten würden wir sofort ablegen. Nach endlosen Telefonaten kommt die Dame zurück und erklärt sich einverstanden. Allerdings müssten wir das Schiff dafür an die benachbarte, noch vergammeltere Pier legen – zur Strafe sozusagen. Immerhin bekommen wir für unser Geld nun ein Formular in dreifacher Ausfertigung mit zig Details, Unterschriften und Stempeln. Und man wünscht uns mit einem Lächeln einen schönen Aufenthalt in Wytegra – na bitte.
Der Ort entpuppt sich als ein völlig charmfreies, zusammengewürfeltes Sammelsurium von Gebäuden unterschiedlichsten Alters und Bauart. Außer den Hauptstraßen gibt es keine befestigten Verkehrswege. Wir stapfen durch Löcher und Pfützen und suchen schließlich in einem "Café" vor dem Regen Zuflucht. Das "Café" liegt im Keller eines Hauses und wirkt wie ein mit Möbeln vom Sperrmüll möblierter Hobbykeller. Aber Kaffee und Kuchen schmecken ausgesprochen gut. Wir werden noch öfter die Erfahrung machen, dass man sich von der Optik nicht täuschen lassen sollte. Viele Cafés und Restaurants – oft auch Läden – haben eine sehr gute Qualität, versteckt in unansehnlichem und lieblos aufgemachtem Ambiente. Es bleibt offen, ob es am Geld oder an der Einstellung mangelt – oder an beidem.
Nach Durchfahren des Wytegrakanals und der Kowscha erreichen wir den fast kreisrunden Weißen See – übrigens nicht zu verwechseln mit dem Weißen See in Ostsibirien oder dem Weißen Meer bei Archangelsk. Aufgrund seiner Entstehung während der Eiszeit weist er eine unglaublich konstante "Tiefe" um die 5 m auf – wir denken zunächst, unser Tiefenmesser ist stehen geblieben.
Es wird spürbar wärmer, und nach mehreren Gewittern klart das Wetter auf. Der See mit seinen Hügelketten am nördlichen Ufer macht einen einladenden Eindruck. Unser Ziel ist Belosersk am Südufer – eine kleine Stadt mit großer Geschichte. Früher gab es hier mal elf (!) Kirchen, von denen einige erhalten geblieben sind. Eine der am schönsten restaurierten steht in der sehenswerten Burg (=Kreml), umgeben von einem riesigen, deichartigen Erdwall.
Belosersk entpuppt sich als Glücksgriff und stellt in jeder Beziehung das Kontrastprogramm zu Wytegra dar: Eine gepflegte Silhouette ohne Industrieanlagen und Hochhäuser begrüßt uns schon von Weitem. Die Pontonbrücke an der Zufahrt zum Hafen wird freundlich geöffnet und ein Liegeplatz "vor dem grünen Haus" empfohlen. Der am alten Marienkanalsystem – dem zaristischen Versuch eines Wolga-Ostsee-Wasserweges – liegende Hafen und seine Kaikante wirken wie neu und sind gut gepflegt. Eine etwa zwei Kilometer lange, befestigte Promenade mit schmiedeeisernen Gittern und einer Art-Deco-Uhr laden zum Bummeln ein.
Das "grüne Haus" entpuppt sich als kleines Hotel, dessen Besitzer Andrej uns beim Anlegen mit den Leinen hilft und uns freundlich begrüßt. Über mehrere Verlängerungsschläuche bekommen wir Wasser aus seinem Hotel, wir dürfen seine "Banja" (Sauna) kostenlos benutzen – und als wir nach dem warmherzigen Empfang beschließen, noch eine zweite Nacht zu bleiben, lädt uns Andrej zum Fischessen am nächsten Abend ein. Bei selbst gekochter Fischsuppe ("Ucha"), einem selbst geräucherten Riesenzander ("Sudak") aus dem Weißen See und dem obligatorischen Begleitgetränk Wodka erleben wir in Belosersk einen der schönsten und russischsten Abende der ganzen Reise.
Als wir uns an den Kosten beteiligen wollen – wir haben weder für Wasser, Essen, Sauna oder Liegeplatz irgendetwas bezahlt – lernen wir eine weitere Lektion über die sprichwörtliche russische Gastfreundschaft: Wird man nicht nach Geld gefragt, gilt man als eingeladen. Dann sollte man auch tunlichst kein Geld anbieten – das könnte als Beleidigung empfunden werden.
Auf der größtenteils naturbelassenen Scheksna erreichen wir die Industriestadt Tscherepowez. Weder der sozialistisch inspirierte Ort, noch der gammelige Yachthafen mit dem hochtrabenden Namen "Admiral’s Club" laden zu längerem Verweilen ein. Auf dem Rybinsker Stausee öffnet sich nun das Panorama, und man hat das Gefühl, wieder auf See zu sein. Das "Rybinsker Meer" erreicht mit fast 5000 km² etwa die Hälfte des Onegasees und ist damit der zweitgrößte Stausee Europas.
Der See wurde, wie viele andere Stücke des Wolga-Ostsee-Wasserweges, bereits unter Stalin angelegt. Unter dem Wasser von vier Flüssen – darunter Wolga und Scheksna – verschwanden zwei Städte, etwa 700 ländliche Gemeinden und Dörfer mit 26 000 Höfen, 40 Kirchen, drei Klöster, Dutzende ehemalige Gutshöfe, nicht zu reden von den Wäldern, Wiesen und Feldern. Wir brauchen einen ganzen Tag, um nach Rybinsk am südlichen Ende des "Sees" zu gelangen.
Je näher wir Moskau kommen, desto wärmer und angenehmer wird das Wetter. Wir folgen jetzt der breit mäandernden Wolga bis Uglitsch, das mit seinen zahlreichen, wunderbar restaurierten Kirchen eine der beliebtesten Stationen der Flusskreuzfahrer darstellt. Da es auch hier keine Liegeplätze für Sportboote gibt, treffen wir ein "Gentlemen’s Agreement" mit der Fahrgastschifffahrt: Wir können die ausgezeichnete Anlegestelle der zum Teil in Päckchen liegenden Flussdampfer benutzen, sobald diese abgelegt haben – nachts wird ja überwiegend gefahren. Kosten: 9000 Rubel mit Quittung, 5000 ohne – wir einigen uns rasch und ohne große Formalitäten.
Bevor wir die Wolga verlassen und in den Moskau-Kanal abbiegen, machen wir in Kimry fest. Offenbar will man uns noch vor Erreichen der Millionenmetropole beweisen, dass Russland doch über so etwas wie Yachthäfen verfügt: eine wunderbar gepflegte, parkartige Anlage am hier steilen Ufer der Wolga, mit Hafenmeister, Büro, Strom, Wasser, Infrastruktur, WLAN, Grillplatz und Restaurant zu einem angemessenen Preis nach Bootslänge von 2258 Rubel (etwa 50 €) gegen Quittung. Auch wenn Kimry als Ort alles andere schuldig bleibt: Hier im "Two Captain’s Club" haben wir uns sauwohl und sehr gut behandelt gefühlt – im Prinzip wie zu Hause. "Two Captains" könnte übrigens auch die Überschrift über einem anderen Kapitel unserer Reise sein – das teilweise schwierige Verhältnis zwischen mir und unserem russischen "Captain". Aber das ist eine andere Geschichte ...
Nun trennen uns nur noch zwei Tagesreisen von unserem großen Ziel Moskau. Vor uns liegen etwa 80 Meilen, aber es sind sechs Großschleusen mit ihrem eigenen unkalkulierbaren Rhythmus zu durchfahren. So planen wir noch einen Zwischenstopp unterwegs ein und legen uns am Abend an eine verlassene Pier zwischen den Schleusen. Leider haben wir die Rechnung ohne den Wirt gemacht. Als wir es uns nach dem Abendessen an Bord gerade gemütlich machen wollen, werden wir über Funk aufgescheucht. Der Schleusenobrigkeit ist aufgefallen, dass wir an der nächsten Schleuse nicht wie erwartet angekommen sind.
Man erklärt uns unmissverständlich, dass das Festmachen zwischen den Schleusen nicht gestattet sei. Obwohl die Schleusen mehrere Kilometer voneinander entfernt sind, wir niemanden behindern und es bereits nach 20 Uhr ist, müssen wir wieder ablegen und uns einem langsam fahrenden Schubverband anschließen. Vor uns liegen noch vier der sechs Schleusen, es wird langsam dunkel, und einen Liegeplatz am Ende der Tour haben wir auch noch nicht ausgespäht. Mir ist zum ersten Mal etwas mulmig zumute, zumal ich keine Erfahrung mit Nachtfahrten habe.
Bald bricht die Dunkelheit herein und bringt zusätzliche Kälte mit sich. Müde und leicht angekühlt verlassen wir nach weiteren sechs Stunden Fahrt die Schleuse No. 6 gegen 2 Uhr morgens. Nach der strahlend hellen Beleuchtung in der Schleusenkammer umfängt uns jetzt übergangslos die totale Dunkelheit. Lediglich hier und da sind ein rotes oder grünes Feuer sowie weiß leuchtende Fenster zu erkennen, deren Zuordnung mir ohne Übung schwerfällt. Hier springt glücklicherweise Boris mit seiner ganzen Erfahrung in die Bresche. Auf der Karte haben wir eine mögliche Anlegestelle ausgemacht. Mit unserem erstmalig eingesetzten Suchscheinwerfer finden wir die Stelle und nähern uns der Pier, die entgegen unserer Erwartung sehr gepflegt daherkommt – fast zu schön, um wahr zu sein.
Als wir angelegt haben, tauchen aus dem Dunkel der Büsche auf einmal zwei junge Burschen mit Bierdosen in den Händen auf. Boris spricht ruhig mit Ihnen, und nach ein paar Minuten verschwinden die beiden wieder im Dunkel der Nacht. Am nächsten Morgen – wir können noch nicht lange geschlafen haben, aber es wird schon hell – werde ich durch das Quäken eines Außenlautsprechers wach. Zunächst beziehe ich das Geräusch nicht auf uns, gehe aber vorsichtshalber mal nachschauen.
Was ich sehe, lässt mich in einer Millisekunde hellwach werden: Wir liegen treibend in der Mitte der stark befahrenen Binnenwasserstraße vor dem Bug eines aufgestoppten, mit Kies beladenen Schubverbands. Der Kapitän hat uns offenbar rechtzeitig gesehen, angehalten und versucht nun, uns über seinen Lautsprecher aus der Fahrrinne zu vertreiben. Obwohl wir einigermaßen geschockt sind, funktionieren wir wie die Automaten, werfen die Motoren an und verlassen die Fahrrinne. Offenbar hat man uns – warum, werden wir wohl nie erfahren – nachts losgebunden und abtreiben lassen. Die Leinen liegen fein säuberlich über unserer Reling – beschädigt oder geklaut ist nichts.
Nur mehreren glücklichen Umständen – geringe Strömung, beginnende Helligkeit, geringe Geschwindigkeit der Berufsschifffahrt an dieser Stelle – ist es zu verdanken, dass wir unsere Reise mit unversehrtem Schiff und unverletzt fortsetzen können. Offenbar wollte der liebe Gott noch nicht, dass ausgerechnet an unserem dreißigsten Hochzeitstag alles vorbei ist ...
Mit diesem Erlebnis in den Knochen erreichen wir müde und ungeduscht den "Royal Yacht Club" in Moskau. Eigentlich ist es gar kein Verein im herkömmlichen Sinne, sondern der Name einer wunderschön gelegenen Marina im Herzen der Moskauer Hauptstadt. Beim Bau des Moskau-Kanals, der die Wolga mit der Moskwa verbindet, ist seinerzeit im Norden Moskaus eine Seenlandschaft entstanden – am ehesten mit Berlin vergleichbar. An einem dieser Seen, wo auch die Flusskreuzfahrer ihre Fahrt nach St. Petersburg beginnen, liegt der RYC. Sein sehr ungewöhnlich erscheinendes Hauptgebäude, das auch ein Spitzenrestaurant beherbergt, wurde in eine ehemalige Tribüne hineingebaut, die hier vor Jahrzehnten für Sportwettkämpfe errichtet wurde, zu kommunistischer Zeit aber dem Verfall preisgegeben war.
Langsam erwachen unsere Lebensgeister wieder. Der RYC bietet alles, was man von einer Marina erwartet, wird professionell geführt – und der Preis ist mit 60 € pro Tag für unsere Schiffsgröße nach unseren bisherigen Erfahrungen eher als bescheiden anzusehen. Hier hatten wir in der Hauptstadt des russischen "Big Business" ganz andere Konditionen erwartet. Aber so ist Russland eben – für uns ein Land der Extreme, wo viel Geld für nichts und viel Leistung zum Nulltarif in friedlicher Koexistenz
direkt Tür an Tür wohnen.
Die Moskauer City ist mit der Metro gut zu erreichen – ansonsten blickt man vom Liegeplatz auf Wasser, viel Grün und einige entfernte Hochhäuser, von denen nur die oberen Etagen die Kronen der großen alten Bäume überragen. Der gute Gesamteindruck wird komplettiert vom jetzt hervorragenden Sommerwetter mit Temperaturen von teilweise über 30 °C. Ein Jahrhunderthoch hat ganz Europa im Griff und wird uns in den nächsten sechs Wochen einen unvergesslichen Sommer bescheren. Wenn man sich auf der Flybridge barfuß, in kurzen Hosen und mit einem Glas in der Hand umschaut, glaubt man gar nicht in Moskau, sondern irgendwo am Mittelmeer zu sein. "Côte de Moscow" witzeln wir – und da ist mehr als ein großes Körnchen Wahrheit drin.
Der absolute Höhepunkt unserer Reise steht uns aber noch bevor: Wir wollen mit unserer "Azura" bis vor den Kreml fahren und als "Trophäe" einige Bilder von unserem Schiff vor der weltberühmten Silhouette mit ihren roten Mauern, Türmen und goldenen Kirchturmkuppeln machen lassen. Dazu müssen wir von unserem Liegeplatz weitere fünf Schleusen zur Moskwa hinunter und dann noch 17 Meilen die Moskwa hinab. Moskau mit seinen etwa 10 Millionen Einwohnern, davon rund zwei Millionen illegal, präsentiert sich als Boomtown – es wird gebaut, was das Zeug hält.
Neben dem alten klassischen Stadtkern und den zahlreichen gesichtslosen Vororten entsteht ein modernes Businessviertel, bei dem nicht nur die Höhe der Gebäude, sondern auch die Architektur an das neuzeitliche Shanghai erinnert. Ein Freund von Boris macht hervorragende Aufnahmen von uns und unserer "Azura" – hier an dieser Stelle werden wir mit unserem Schiff wahrscheinlich nur einmal in unserem Leben sein. Trotz einer leichten Grundberührung auf der recht flachen Moskwa machen wir uns glücklich und zufrieden auf den ebenso langen Weg zurück