Unbekannt
· 12.03.2011
Eisige Winde und Tage, die nicht enden: Zu Mittsommer auf dem Hardanger – mit dem Schlauchboot auf Entdeckungstörn in Norwegens Fjordland.
Dunkel fassen die steilen, felsigen Flanken den Fjord ein. Hoch oben leuchten die Schneefelder im blauen Zwielicht, und der Himmel über dem nördlichen Horizontbogen glüht in kraftvollem, fast unnatürlichem Türkis. In Gleitfahrt jagt unser kleines Schlauchboot übers Wasser, weit fliegt die Gischt zu beiden Seiten. Die Sicht ist gut in dieser Nacht, die keine ist.
Denn es ist Mitte Juni, kurz vor Mittsommer. Selbst hier, für norwegische Verhältnisse „weit im Süden“ des Landes, hat sich die völlige Dunkelheit für wenige kurze Wochen in die tiefsten Felsspalten des Fjordlandes verkrochen. Das ist mehr als genug Zeit für einige außergewöhnliche Naturerlebnisse: Mit unserem nur 3,40 m langen Zodiac Cadet 340 sind wir deshalb vor der monumentalen Kulisse des Hardangers auf Entdeckungstour gegangen.
„Hardanger“ und „Hardangerfjord“ sind Sammelbegriffe für ein fein verästeltes System aus Fjorden und Sunden, das sich auf einer Länge von rund 200 km von der Westküste Norwegens in das gebirgige Landesinnere zieht. Dort liegt auch der Ausgangspunkt für unser Abenteuer: die Ortschaft Eidfjord am östlichen Ende des gleichnamigen Fjordarmes.
Die kleine Gemeinde hat sich hübsch zurechtgemacht für Abertausende von Kreuzfahrtpassagieren, die die „Nordlandroute“ hinauf zum Nordkapp jedes Jahr durch die Straßen spült. In bunten Körben unter geschnitzten Giebeln warten Trolle aus Stoff und gestrickte Mützen und Pullover mit Rentiermotiven auf Souvenirjäger.
Unser Boot bauen wir im Sportboothafen auf, der auf der Südseite der Bucht liegt. Campingausrüstung, Ersatzkanister und Proviant werden verstaut, unser treuer 15-PS-Zweitakter von Yamaha vom Steg gehievt und am Spiegel angeschraubt. Unser VW-Sharan, der uns von Hamburg hierher gebracht hat, wird uns erst in einer Woche wiedersehen.
Frisch weht der Wind den Fjord hinauf, und das Wasser ist nervös, als wir die Schutzmole runden und auf die „Aurora“ zuhalten, die an der Stadtpier liegt – eines von drei Kreuzfahrtschiffen an diesem Tag in der Bucht. Den 270-m-Koloss kann die Kabbelsee kaum beeindrucken. Immer höher ragen seine blendend weißen Bordwände über uns auf.
Vom Promenadendeck, vierzehn Etagen über uns, winkt man herunter. Wofür man uns wohl hält …
Unsere „ersten Schritte“ führen uns in den kurzen Simadalsfjord, eigenlich nur eine lang gestreckte Bucht im Norden von Eidfjord. Von den lotrechten und über hundert Meter hohen Fellsklippen an ihrem Nordufer hallen helle metallische Schläge im Gleichtakt wider: Kettenglieder, die durch eine Ankerklüse rasseln. Es ist früher Nachmittag, und der erste der Kreuzfahrer in der Bucht läuft bereits wieder aus.
In der breiten Schaumspur seines Kielwassers folgen wir ihm ein Stück in westlicher Richtung. Aus gebührendem Abstand wirkt das schwimmende Hotel, das noch vor kurzer Zeit ganz Eidfjord im wahrsten Sinne in den Schatten stellte, nun selbst zwergenhaft vor dem gewaltigen Panorama aus schroffen, schneegekrönten Bergrücken.
Nach knapp zehn Kilometern lassen wir unseren „Wegbereiter“ ziehen, runden die Felsnase bei Kvernauga und steuern nach Norden in den Osafjord, der gegen den hartnäckigen Nordwest wesentlich besser geschützt ist. Sofort beruhigt sich das Wasser, und wir können die tropfenden Kapuzen abstreifen. Unsere Suche nach einem Biwakplatz kann beginnen.
Doch ganz so einfach wie erhofft wird es nicht. Einerseits verrät unsere norwegische Seekarte zwar alle nautischen Geheimnisse des „Indre Hardangerfjorden“, über die Beschaf- fenheit der Ufer bewahrt sie jedoch Stillschweigen. So laufen wir hoffnungsvoll mehrere Stellen an, die leider nur von Weitem brauchbar erscheinen. Die flechtenbewachsenen Felsen fallen fast überall so glatt und steil ab, dass Hände und Füße kaum Halt finden.
Endlich sehen wir eine fast waagerechte Steinplatte in Wasserhöhe, allemal groß genug für ein Zelt und von den dichten Bärten alter Fichten abgeschirmt. Doch offenbar gehört dieser Platz schon jemand anderem: Überall liegen ausgebleichte Tierknochen verteilt, einige davon frisch abgenagt. Ein langer Blick auf das knackende Unterholz genügt, und wir sitzen wieder im Boot.
In Gleitfahrt geht es einmal quer über den Fjord, wo sich zu Füßen eines donnernden Wasserfalls eine kleine Au ausbreitet. Direkt neben dem kristallklaren Wasserlauf steht eine verlassene Hütte aus blassen Holzlatten, die Tür hängt schief und offen in den verrosteten Scharnieren. Farne und Gräser haben schon den Weg über die Schwelle gefunden, und in der Ecke liegt – zusammengesunken wie ein erschöpfter Wanderer – eine vergammelte Matratze. Ein wildromantischer Flecken, aber leider auch ohrenbetäubend …
Doch unser Glück wartet diesmal gleich um die Ecke: Drei Kilometer vor dem Ende des Osafjords entdecken wir auf dem Ostufer eine alte Geröllhalde, längst wieder mit Gras und Moos überwachsen, die sich bis zum Ufer zieht und einen guten Landeplatz bietet. Auf der Karte ist der Ort mit „Mjølstølen“ bezeichnet.
Wir klettern neben einem einsamen, mächtigen Poller, gedacht für Kreuzfahrer, an Land und machen gleich unser Boot daran fest. Eine Erkundungstour führt uns über tückisches Terrain durch eine Landschaft, in der riesige Felsbrocken wie von Trollen verstreut liegen, zu einem Felsplateau in etwa 50 m Höhe. Die Aussicht ist grandios – der Fjord unter uns glänzt im Abendsonnenschein wie geschlagenes Gold. Rundherum ist keine Seele, steinerne Türme schließen uns ein.
Zelt und Ausrüstung hier heraufzuschaffen, wird zwar eine schweißtreibende Angelegenheit, doch es lohnt sich. Bald brennt unser Feuer unter einem höhlenähnlichen Überhang und knallt und knistert in die milde, nordische Sommernacht hinein. Immer weicher werden die Farben, bis schließlich tiefes Blau den Himmel überspannt wie ein Gewölbe. Doch kein Stern zeigt sich, so hell bleibt es. Während wir irgendwann ins Zelt kriechen, wandert die Sonne nur knapp unter dem Horizont nach Osten und dem frühen Morgen entgegen.
Zwei wichtige Lektionen lernen wir am nächsten Tag: So schön das Wetter auch sein mag, so schnell kann es im Fjordland wechseln. Die gegensätzlichen Kräfte der sengenden Sonne und des gefrorenen, glitzernden Panzers des Folgefonna-Gletschers – immerhin der drittgrößte ganz Norwegens – bilden eine kraftvolle Wettermaschine.
Selbst bei unschuldigstem Himmel kann sie eisige Böen durch die engen Schluchten jagen und an den Schnittpunkten der Fjorde ein konfuses Durcheinander aus Wellen aufpeitschen. Ohne Stoßdämpfer über einen Acker, so kommen wir uns vor, als wir den Osafjord verlassen und dem Eidfjord in Richtung Südwesten folgen. So schnell wir auch versuchen, wieder in die Landabschirmung zu kommen – reichlich blaue Flecken kann man sich selbst in einem luftgefüllten Gummiboot holen ...
Wo Eidfjord, Sørfjord und Utnefjord (der weiter zum offenen Meer führt) zusammentreffen, liegt Kinsarvik im Schutz einer kleinen Bucht. Einmal angelegt, regt sich kein Hauch mehr über dem kleinen Sportboothafen. Wir breiten unsere klitschnassen Klamotten aus, laufen zur Esso-Tankstelle am Ortseingang und kommen mit zwei gefüllten10-l-Kanistern und einem Beutel Eis zurück – für geschundene Schienbeine und Dosenbier.
Drei Campingplätze direkt am Wasser bietet der Ferienort. Wir wählen den nächstgelegenen und fallen selbst zwischen den sackhüpfenden, bogenschießenden Kindern und den Bingo spielenden Wohnmobilisten aus Bottrop in tiefen Schlaf.
Als wir wieder aufwachen, ist es später Abend, der Campingplatz liegt so still da wie eine Wildweststadt um zwölf Uhr mittags, doch das blaue Leuchten des Himmels ist von unvergleichlicher Intensität. Leise packen wir unsere Sachen und gehen zurück zum Hafen, wo die Autofähre nach Utne, auf der anderen Fjordseite, hell erleuchtet und verlassen auf den nächsten Arbeitstag wartet.
Diese Nachtfahrt war nicht eigentlich geplant, doch was spricht dagegen? Die Sicht ist so gut wie bei Tag; die Ufer, die ohnehin nur über wenige Landmarken verfügen, klar zu erkennen. Zusätzlich funkelt unser Ziel wie ein Samaragd zu uns herüber: Es ist das Feuer des Leuchtturms von Slåttenes, runde 6 km nördlich von uns.
Um die Crew einer Chartersegelyacht nicht zu wecken, paddeln wir aus dem Hafen auf die jetzt völlig windstille Bucht hinaus. Erst weit vom Ufer entfernt starten wir den Motor.
Es dauert keine Stunde, bis wir unser Zodiac vorsichtig zwischen die Felsen zu Füßen des weiß gestrichenen, gedrungenen Turmes manövrieren. Über uns strahlen seine Sektoren brillant und unbeirrbar über den Fjord. Nur mit unseren Isomatten und Schlafsäcken legen wir uns unter diesen Schirm aus Licht und schlafen bis zum Morgengrauen.
Und das macht seinem Namen alle Ehre: Feiner Nieselregen weckt uns. Wie eine nasse Wolldecke hat sich dichtes, regenschweres Grau über die plötzlich sehr wild wirkende Landschaft gelegt. Die Berge verschwinden darin, und das Wasser glänzt in stumpfem Stahlgrau. Fast schon mystisch ist die Stimmung.
Käme jetzt, mit gleichtönig eintauchenden Rudern und drohend erhobenem Steven, ein Drachenschiff aus der Nebelbank im Süden, wir wären nicht mal überrascht.
Doch nichts dergleichen passiert. Wir rollen die klammen Schlafsäcke zusammen, holen Fleecepullis und Wollmützen aus dem Boot und bereiten uns mit dem Gaskocher erstmal einen heißen Tee. Dann breiten wir die Seekarte auf dem feuchten Fels aus. Nach Süden oder nach Westen? Dort scheinen sich die Nebel schon zu
heben – und die Entscheidung ist gefallen.
Die Törnetappen (in km)
Eidsfjord – Mjølstølen (35)
Mjølstølen – Kinsarvik (37)
Kinsarvik – Slåttenes (6
Slåttenes – Norheimsund (34)
Norheimsund – Jondal (14)
Jondal – Kinsarvik (40)
Kinsarvik – Odda (39)
Gesamt 205 km