Unbekannt
· 28.10.2017
Wer Belgien von seiner schönsten Seite entdecken will, sollte per Boot zu Flanderns berühmten Städten fahren. EIn Törn mit prächtigen Bauten, zahlreichen Brücken und fruchtigem Bier
Ausschlafen geht nicht. Am ersten Chartertag ist Konvoi-Fahrt angesagt. Um 8.30 Uhr verlassen wir die Westhoek Marina in Nieuwpoort und steuern die Caprice von Le BoatLe Boat ostwärts in den kanaal Plassendale-Nieuwpoort hinein.
Die Sonne schält sich aus einem Schleier von Dunst und Seenebel. Man riecht geradezu die Nordsee, deren Küste anderthalb Seemeilen nördlich parallel zum Kanal verläuft. Dieser verbindet die Hafenstadt Nieuwpoort, wo die Charterbasis liegt, in Richtung Osten mit Plassendale, von wo aus der kanaal Gent-Oostende weiter nach Brügge führt.
Am erstgenannten Kanal liegen sieben Brücken und eine Schleuse, die betätigt werden müssen, am zweiten Kanalabschnitt bis ins Zentrum von Brügge folgen weitere neun Zugbrücken.
Um den Schiffsverkehr und die Öffnung der vielen Zug-, Dreh-, Hub- und Swingbrücken zu koordinieren, wird auf der Strecke zwischen Nieuwpoort und Plassendale im Konvoi gefahren, und zwar von Nieuwpoort in Richtung Brügge ab 9 Uhr und an den folgenden ungeraden vollen Stunden bis 17 Uhr. In Gegenrichtung ab Plassendale fahren die Konvois ab 10 Uhr und dann weiter an allen geraden vollen Stunden bis 18 Uhr.
Vor der ersten Klappbrücke, der Rattevallebrug, soll sich der Konvoi sammeln. Das erste Schiff, so die Regelung, führt den Verband an und ist für den Funkverkehr mit Brücken und Schleusen zuständig. Dieser erfolgt über UKW-Kanal 20, danach kurz vor Brügge auf Kanal 18. Der gesamte Schiffsverkehr wird von einer Leitstelle überwacht und koordiniert.
Zehn Minuten vor 9 Uhr treffen wir an der Rattevallebrug ein. Zum Glück ist noch ein weiteres Boot, eine Linssen unter belgischer Flagge, vor Ort. Das ist der ganze Konvoi. Weil wir uns hier nicht auskennen, lassen wir gern der einheimischen Crew den Vortritt, damit sie den Konvoi anführt. Um die Gespräche mit der Verkehrsleitzentrale zu verfolgen, schalten wir das Funkgerät auf Kanal 20.
Fünf Minuten vor neun funkt der Skipper die Verkehrsleitzentrale an. Sie reden flämisch, eine belgische Mundart der niederländischen Sprache.
Mit etwas Mühe versteht man den Inhalt. Die Leitzentrale sagt, dass sie uns auf dem Video sehen, und fragt, ob noch ein Boot hinter uns ist. Da niemand weiter kommt, schaltet die Ampel auf Grün, und die Rattevallebrug wird wie von Geisterhand geöffnet.
An den folgenden sechs Brücken läuft es ähnlich ab. Nach 20 Kilometern und gut zwei Stunden Fahrt erreichen wir die Plassendalesluis, in der wir um wenige Zentimeter auf das Niveau des kanaal Gent-Oostende abgesenkt werden. Von nun an nimmt der Schiffsverkehr deutlich zu; es handelt sich vor allem um Frachtschiffe, die vom Nordseehafen Oostende kommend in Richtung Brügge unterwegs sind. Im Funkverkehr wird jetzt auch englisch gesprochen. Nach weiteren 15 Kilometern Kanalfahrt sehen wir die Türme der Altstadt von Brügge leuchten.
Der Kanal führt nördlich und östlich um das historische Stadtzentrum herum. An Steuerbord kommt ein Park mit jahrhundertealten Windmühlen auf, die als Sint-Janshuismolen bekannt sind und zu den Sehenswürdigkeiten von Brügge zählen.
Die Zugbrücken, die wir nun passieren, gehören bereits zum mittelalterlichen Verteidigungssystem der einst reichen Handelsmetropole. An Steuerbord, wo die Altstadt liegt, muss sich der Verkehr, der die Brücken passiert, durch schmale Tore in mächtigen Wehrtürmen fädeln. Immer wieder kommt es zu Unterbrechungen, wenn die Schiffe eine Brückenöffnung anfordern.
Wir passieren die historische Kruispoortbrug und kündigen der Verkehrsleitzentrale über UKW an, dass wir nicht weiterreisen, sondern in den Stadthafen Coupure einlaufen möchten. Gerade will ich den Hafenmeister auf Kanal 18 anfunken, damit er die Hängebrücke über der Hafeneinfahrt hochzieht, da sehe ich ihn schon mit dem Fahrrad kommen. Er winkt mir zu und öffnet die Brücke.
Offensichtlich hat er den Funkverkehr mit der Verkehrsleitzentrale abgehört. Der freundliche Mann gibt uns einen Liegeplatz ganz im Innern des Coupure-Hafens, gleich neben der Altstadt. Dort wartet schon seine Frau, die die Leinen unseres Bootes annimmt. Der Hafenmeister folgt mit dem Fahrrad, überreicht uns das WLAN-Kennwort, einen Stadtplan und Prospekte über Sehenswürdigkeiten und Restaurants.
Die Frau des Hafenmeisters sagt, wir hätten den schönsten Liegeplatz, gleich neben der "Marieke" von Jacques Brel. Die lebensgroße Bronzefigur von Jef Claerhout neben unserem Steg zeigt ein hübsches junges Mädchen mit freizügigem Dekolleté, wehendem Haar und Minikleid.
Es ist jene Marieke, von der einst der berühmte Chansonnier Jacques Brel sang: "Ach Marieke, Marieke, ich liebte dich so sehr zwischen den Türmen von Brügge und Gent." Es war Brels patriotisches Liebeslied an seine Heimat Flandern.
Das nie im Krieg zerstörte oder modern überbaute Brügge zeigt sich noch heute in seiner mittelalterlichen Schönheit. Damals war Brügge mit seiner schiffbaren Anbindung zur Nordsee eine der reichsten Städte Europas. Tuchherstellung und -handel hatten den Wohlstand begründet. Das von Kanälen, Wällen, Zugbrücken und Wehrtürmen umgebene Stadtzentrum zählt zum UNESCO-Weltkulturerbe.
Vom Bootshafen sind es wenige Schritte bis in die Altstadt. Wir sind von der Schönheit überwältigt: Grote Markt, Provinciaal Hof, Heilig-Blut-Basilika, Rathaus und Rozenhoedkai – nirgendwo gibt es so viele mittelalterliche Prachtbauten auf engstem Raum. Auf dem Grote Markt backen fliegende Händler die typischen belgischen Waffeln und belegen sie mit Sahne und Früchten. In den malerischen Gassen rund um den Markt präsentieren die Chocolatiers ihre feinsten Pralinen.
Zum Abend empfiehlt es sich, eines der vielen Brauhäuser anzusteuern. Belgien hat eine große Tradition im Brauen exotischer Biere mit Fruchtgeschmack, die es sonst nirgendwo gibt. Angeblich kennt und trinkt man in Belgien 500 verschiedene Sorten Fruchtbier.
Brügge bietet so viele Sehenswürdigkeiten, dass man mehrere Tage bleiben müsste. Unser Problem ist, dass wir das Boot nur für eine Woche gechartert haben. Daher müssen wir der flämischen Schönheit bereits nach einer Nacht den Rücken kehren, wenn wir wie geplant auch noch Gent sehen wollen.
Tags darauf um 14.30 Uhr verlassen wir den Hafen Coupure in Brügge und biegen nach Steuerbord in den kanaal Gent-Oostende ein. Unser Ziel ist die 55 Kilometer entfernte Metropole Gent. Wir melden uns über UKW-Kanal 18 bei der Verkehrsleitzentrale an und bitten um Öffnung der Gentpoortbrug, erhalten aber die Antwort, dass wir warten müssen.
Ein großes Frachtschiff kommt von Norden, für dieses sollen wir Platz machen. Erst hinter dem Frachter dürfen wir die Klappbrücke passieren. Da über diese eine wichtige Zufahrtsstraße in die City führt, kann sie nicht wegen eines einzelnen Bootes geöffnet werden.
Nach einer halben Stunde kommt ein derart großes Binnenschiff von Norden angeschlichen, dass wir uns kaum vorstellen können, dass es durch die relativ schmale Klappbrücke passt. Die ist inzwischen voll aufgeklappt, und alle starren auf den Frachter.
Sicherheitshalber verkriechen wir uns ganz an die Seite. Doch das Schiff fädelt sich dermaßen präzise hinein, dass an jeder Seite noch eine Handbreit Luft bleibt. Wir folgen in seinem Schraubenwasser.
Auf dem kanaal Gent-Oostende begegnen wir nur wenigen Sportbooten. Der einzige Sportboothafen existiert am Südufer des Kanals, in Beernem. Die Zugbrücken und die einzige Schleuse dort passieren wir im Konvoi mit Frachtschiffen. Ansonsten gibt es auf diesem relativ langen Kanalabschnitt wenig zu sehen und auch keine Möglichkeit zum Anlegen. Nach dreieinhalb Stunden Fahrt kreuzt der Afleidingskanaal van de Leie die Wasserstraße nach Gent. Ab diesem Punkt wird es deutlich lebhafter.
Nach weiteren acht Kilometern erreichen wir die Ringvaart Gent, eine Schifffahrtsautobahn, die einen Halbkreis um den Westen von Gent bildet. Sie verlangt auch von erfahrenen Skippern höchste Konzentration, denn hier geht die Post ab: In beiden Fahrtrichtungen verkehren Containerschiffe, Tankschiffe, Holzfrachter sowie Schubverbände mit Schrott, Kies, Kohle und Erz. Das Funkgerät ist keine Sekunde still. Ständig wird auf Flämisch, Französisch und Englisch geredet.
Anfangs versuchen wir, im Verkehrsstrom mitzuschwimmen, stellen aber bald fest, dass wir zu langsam sind und permanent ausweichen müssen. In diesen Situationen habe ich außerdem das Gefühl, dass unser Charterboot untermotorisiert ist.
Viel Verkehr herrscht nicht nur auf dem Wasser, sondern auch an Land, und es ist nervend laut. Der Kanal wird von einer mehrspurigen Autobahn flankiert – die Wasserstraße bildet sozusagen den Grünstreifen in der Mitte. Nach sieben Kilometern können wir dem Verkehr auf dem Wasser und an Land entfliehen. Wir biegen von der Ringvaart Gent nach links zum Stadtzentrum ab. Jetzt schippern wir relaxed auf dem Fluss Leie, der uns durch ruhige Vororte mitten nach Gent führt.
Abends erreichen wir den Passantenhaven Gent Ketelvest, wo am Westufer ein Dutzend Boote liegen. Der freundliche Hafenmeister zeigt uns einen Liegeplatz, nimmt die Leinen an und reicht das Passwort fürs Internet. In diesem Moment öffnet der Himmel alle Schleusen, und ein wolkenbruchartiger Regen prasselt auf uns nieder. Wir streichen den Spaziergang zur nahen Altstadt von Gent und holen die Spaghetti aus der Backskiste.
Morgens lockt uns das Himmelsblau aus der Koje. Ganze 600 Meter sind es zum historischen Stadtkern. Mit einer Viertelmillion Einwohnern ist Gent etwa doppelt so groß wie Brügge und steht in seiner architektonischen Pracht der kleinen Schwester nicht nach. Gent wurde einst ebenfalls durch den Tuchhandel wohlhabend und mächtig.
Auch hier haben wir wieder das Gefühl, dass ein Tag sehr knapp ist, um einen Eindruck von der Stadt zu erhalten. Mit mehr als 9800 kulturhistorisch wertvollen, denkmalgeschützten Gebäuden konkurriert Gent mit dem touristisch bekannteren Brügge.
Die Stadtsilhouette wird seit dem Mittelalter von "de drie torens", den drei Türmen, dominiert. Dabei handelt es sich um den Genter Belfried, den Turm der St.-Bavo-Kathedrale und den Turm der Sint-Niklaaskerk am Kornmarkt. Eindrucksvoll schön sind auch die einstigen Gildenhäuser an der Gracht des alten
Hafens, der Graslei und der Korenlei.
An jeder Ecke werden belgische Spezialitäten wie Trüffel (handgefertigte Pralinen in jeder Geschmacksrichtung) oder Cuberdons (geleeartige Süßigkeiten in Form einer Nase) angeboten. Und in den etlichen Restaurants unter freiem Himmel löscht man den Durst vor allem mit dem landestypischen Kriek, einem Bier mit Kirschgeschmack.
Nach einem Tag voller Eindrücke müssen wir leider die Festmacher lösen. Um noch ein paar Impressionen von dieser wundervollen Stadt mitzunehmen, fahren wir einen kleinen Umweg durch die Kanäle der Altstadt und dann auf der Muinkschelde nach Süden in Richtung der bereits erwähnten Wasser- und Straßenautobahn Ringvaart.
Die davor liegende Sluis E3 sollte eigentlich immer geöffnet sein – heute aber ist sie zu. Wir rufen an und erfahren, dass sie wegen des Regens geschlossen werden musste. Zwanzig Minuten später wird sie für uns und ein weiteres Sportboot geöffnet. Wir steuern zurück auf die viel befahrene Schifffahrtsstraße. Nach fünf Kilometern biegen wir in Richtung Westen in den Fluss Leie ein.
Endlich Ruhe. Während das Dröhnen der Autobahn achteraus bleibt, öffnet sich vor uns ein ungeahntes Paradies. Ein schmaler, mäandernder Fluss mit Schilfwäldern und Seerosen, überall Schwäne, Enten und Reiher. Auch nachdem wir drei Flussbiegungen hinter uns gelassen haben, bleibt es ruhig und schön – aber auf ganz andere Art:
Villen, Schlösser, Paläste, einer schöner als der andere, säumen beide Ufer. Alles privat, Anlegen verboten. Man hat den Eindruck, dass die reichsten Belgier ihre Millionen an diesem Abschnitt der Leie verbaut haben. Zwölf
Kilometer Flussfahrt zum Schauen und Staunen.
Nach anderthalb Stunden wird die Landschaft wieder urwüchsig. Wiesen und Weiden säumen den Fluss. Die Abendsonne legt ihr Feuer über die Schilfwälder. Bei km 66 entdecken wir am Südufer den Gasthof "Halifax" mit eigenem Bootsanleger. Es besteht aus einem terrassenartigen Garten über der Leie. Alle Tische sind besetzt. Die Gäste sind auffallend elegant gekleidet – vielleicht die Bewohner der Villen und Paläste? Sie zelebrieren ihr Dinner im wunderschönen Sonnenuntergang.
"Haben Sie reserviert?", fragt der Platzanweiser. Nein, haben wir nicht – deshalb müssen wir dem Naturschauspiel bei Tischwein und Salzstangen von der Warte-Lounge zusehen. Als die Sonne weg ist und der erste Tisch frei wird, dürfen wir nachrücken. Wir genießen ein vorzügliches Wildgericht, wohl wissend, dass es hier nicht ganz billig ist. Dafür haben wir einen kostenlosen Liegeplatz. Chartergäste sollten besser einen Tisch reservieren. www.gasthofhalifax.be
Morgens fahren wir weiter westwärts auf der Leie, passieren nach zwei Kilometern die Schleuse und Brücke Astene und erreichen vier Kilometer weiter die Kleinstadt Deinze, die von einer hohen Kirche überragt wird. Die Tolpoortbrug wird allein für uns geöffnet, und kurz danach biegen wir nach rechts ab in eine große Schifffahrtsstraße, den Afleidingskanaal van de Leie, der zum Nordseehafen Zeebrugge führt.
Auch hier herrscht wieder viel Verkehr, aber zum Glück ist dieser Kanal nicht gleichzeitig Mittelstreifen einer Autobahn, sodass man in Ruhe fahren kann. Eine gute Stunde später biegen wir an der nächsten großen Kreuzung nach links in den kanaal Gent-Oostende ein und starten unsere Heimreise in Richtung Nieuwpoort.
Da der Weg an einem Tag nicht mehr zu schaffen ist, freuen wir uns, ein zweites Mal im schönen Zentrum von Brügge übernachten zu dürfen. Während wir unseren Bug in Richtung Sonnenuntergang drehen, schwingt ein wenig Wehmut mit – denn wir konnten uns nicht vorstellen, wie interessant es ist, Belgien vom Wasser aus zu entdecken.