ReiseNordsee

Christian Tiedt

 · 29.03.2022

Reise: Nordsee

Kust Streek: Der Küstenstreifen Belgiens misst weniger als siebzig Kilometer in der Länge. Umso mehr wissen ihn die Einwohner des Königreichs zu schätzen – und zu nutzen

Der schlanke Bugspriet der „Mercator“ zeigt Richtung Nordsee. An Deck wird gearbeitet, gemalt, gesägt und geschliffen. Es scheint, als könnte der Dreimaster jederzeit ablegen, so wie früher, zur Osterinsel, nach Rio de Janeiro oder nach Boma am Kongo. Doch seine Segel sind lange abgeschlagen: Seit sechzig Jahren liegt das ehemalige Schulschiff der belgischen Handelsmarine, benannt nach dem in Flandern geborenen berühmten Kartografen, nun schon in jenem Hafenbecken von Ostende, das zu seinen Ehren inzwischen den Namen Mercatordok trägt. Als schwimmendes Museum einer Epoche, als Seefahrt noch etwas elementarer war als heute.

Allein ist die weiße Barkentine aber nicht, sondern umgeben von Segel- und Motoryachten an den Stegen der Mercator Marina. Hier hat der Royal North Sea Yacht Club seine Heimat, aber auch Gäste heißt man willkommen (www.mercatormarina.be). Das sind im Sommer nicht wenige, denn Ostende hat sicherlich ein Anrecht darauf, erste Adresse für einen Zwischenstopp entlang der belgischen Küste zu sein. Egal ob man auf dem Weg ins Mittelmeer ist oder ob die südwestliche Nordsee selbst das Ziel der Reise darstellt. Die Ansteuerung erfolgt vom Voorhaven nach Steuerbord über das Montgomerydok (dok bedeutet Hafenbecken) und über die folgende Schleuse, bei der Besucher sich gleichzeitig anmelden können und ihren Liegeplatz zugewiesen bekommen. Wer von Bord geht, ist gleich mittendrin. Im Süden das moderne Wohnquartier Hazegras mit dem Maria Hendrikapark dahinter, im Norden das schachbrettartig angelegte Zentrum Ostendes. Gleich am Hafen befindet sich zudem der große Bahnhof mit seiner Belle-Époque-Fassade. In die Stadt, nach Norden, vorbei an der Sint-Petrus-en-Pauluskerk.

 Sportboot beim Einlaufen nach BlankenbergeFoto: Christian Tiedt
Sportboot beim Einlaufen nach Blankenberge

Deren imposantes neugotisches Portal ist extra nach Osten ausgerichtet und damit von jedem einlaufenden Schiff sichtbar. Als Handelsstadt zeigt man eben, was man hat! Ansonsten ist sehr eng gebaut, mit vielen Balkonen. Zusammen mit den schmalen, im Schatten liegenden Straßen hat das Ganze einen Hauch von Südeuropa. Jedenfalls ein ganz anderes Flair als in den nahen Niederlanden. Die Farben scheinen vom Strand zu stammen, viel heller Stein, viel Klinker in Beige, Ocker und Hellgrau. Apropos Strand: Sand am Meer gibt es hier wirklich wie – richtig – Sand am Meer. Der ganze Kuststreek wird davon bedeckt. „Küstenstreifen“, so nennen die flämisch sprechenden Bewohner diese Region. Keine siebzig Kilometer sind es hier von einem Ende des Landes zum anderen, zwischen dem niederländischen Cadzand und dem französischen Dünkirchen. Und ihr Strand wird nur von den Häfen unterbrochen. Auch wenn sie es sind, die im Mittelpunkt dieser Geschichte stehen, ist es der Sand, der sich wie ein heller Faden hindurchzieht.

So ist es auch in Nieuwpoort, dem westlichsten Hafen Belgiens, nahe der französischen Grenze. Im Gegensatz zu Ostende ist die Freizeitschifffahrt jedoch unter sich. Der Ort an der Mündung des Flusses Yser gilt als das Zentrum des Regattasports des Landes. Wenn man das große Becken des neuen Hafens mit seinen mehr als 300 Liegeplätzen und die modernen Serviceanlagen sieht, überrascht das nicht. Gäste kommen im Oude Havn beim Koninklijke Yacht Club Nieuwpoort unter, der vom Westufer des Flusses abzweigt (www.kycn.be). Von den Stegen der König­lichen ist das Stadtzentrum rund einen Kilometer entfernt, der Strand knapp zwei. Der Weg dorthin führt an der Yser entlang durch den Prins Mauritspark, so weit, so schön.

Inneres Ende der Westhinder Marina im gleichen Hafen, an Land das ehemalige Feuer-
schiffFoto: Christian Tiedt
Inneres Ende der Westhinder Marina im gleichen Hafen, an Land das ehemalige Feuer- schiff

Doch dann wird es im wahrsten Sinne hart: Die Bettenburgen aus Beton, die hier in drei Reihen dicht an dicht nahezu ohne Lücken in die Höhe gezogen wurden – oft mit zehn Etagen und mehr – stellen wiederum im wahrsten Sinne alles in den Schatten.

Grünanlagen oder Bäderarchitektur: nahezu Fehl­anzeige. Nieuwpoort hat etwas von einer riesenhaften Westernstadt, wobei der breite Strand den Part der Wüste übernimmt. Eine Atmosphäre, auf die man hier auch andernorts trifft. Wenn man es positiv sieht, könnte man sagen: Die Belgier nutzen den begrenzten Platz für Urlaubsdomizile entlang ihrer kurzen Küste optimal aus.

Auch Blankenberge kündigt sich durch eine Wand aus Beton an. Vom Deich, der das kreisrunde Becken des neuen Yachthafens umschließt wie die Tribünen eine Arena, hat man einen guten Überblick. Auf der Seeseite trennt ihn der bebaute Strand von der Nordsee. Wohnblock reiht sich an Wohnblock, selbst der Leuchtturm an der Hafeneinfahrt passt sich architektonisch an, sodass im Sonnenschein sogar ein ganz eigener spröder Charme entsteht. Betrieben werden Oude und Nieuwe Haven vom Royal Scarphout Yachtclub Blankenberge (www.scarphout.be). Der Anmeldesteg befindet sich einlaufend an Steuerbord.

Strandpromenade von Nieuwpoort mit BadehäusernFoto: Christian Tiedt
Strandpromenade von Nieuwpoort mit Badehäusern

Blankenberge ist für jene Skipper interessant, die einen Besuch im benachbarten Zeebrügge planen, aber die Ansteuerung seines geschäftigen Seehafens vermeiden wollen. Wie in allen Orte entlang der Küste hält auch hier die Kusttram: Auf 67 Kilometer zwischen Knokke im Osten und De Panne im Westen kommen 67 Stationen. Für die gesamte Strecke benötigt die Küsten-Straßenbahn knapp zweieinhalb Stunden, von Blankenberge nach Zeebrügge gerade einmal fünfzehn Minuten (www.delijn.be).

Neben Antwerpen an der Schelde ist Zeebrügge der zweitwichtigste Umschlagplatz des Landes für den Fernhandel und sein größter unmittelbar an der Nordsee. Zu den wichtigsten Kunden zählt die Automobilindustrie: Knapp drei Millionen Neufahrzeuge werden hier jährlich verladen. Das Fluyx-Terminal gehört zudem zu den bedeutendsten Punkten für den Import von flüssigem Erdgas, ein Rohstoff, dessen Bedeutung durch die politischen Entwicklungen der letzten Zeit in Zukunft wachsen dürfte.

Der Dijver, einer der Wasserläufe im historischen Zentrum von Brügge, gesehen vom RozenhoedkaaiFoto: Christian Tiedt
Der Dijver, einer der Wasserläufe im historischen Zentrum von Brügge, gesehen vom Rozenhoedkaai

Gäste auf eigenem Kiel passieren Wielingendok, Albert-II-dok und das Containerterminal an Steuerbord, halten sich im südlichen Teil des Hafens rechts Richtung Visart­sluis, fahren aber kurz vor der Schleuse an Backbord in den Jachthaven Zeebrugge ein. Am rechten Ufer reihen sich alte Geschäftsgebäude der Fischerei aneinander, links erhebt sich moderne Wohnarchitektur.

Am hinteren Ende steht unübersehbar das alte Feuerschiff „West-Hinder“, Namensgeber der Westhinder Marina (www.westhindermarina.be), an Land. Mehr Platz für Besucher bieten jedoch die Stege der Marina Zeebrugge des Royal Belgian Sailing Club links am Nordufer (www.rbsc.be). Die Stadt selbst ist industriell geprägt, im Wohnviertel südlich des Hafens dominiert roter Ziegelstein. Das Meeres-Erlebniszentrum Seafront Zeebrugge war zuletzt geschlossen, soll aber im April dieses Jahres wiedereröffnen (www.seafront.be).

Yachthafen BlankenbergeFoto: Christian Tiedt
Yachthafen Blankenberge

Dafür befindet sich Zeebrügge jedoch in Reichweite des schönsten Strandes des Landes: Eine gute halbe Stunde sind es mit der Kusttram von Zeebrugge Kerk nach Knokke-Heist, dem östlichsten Seebad Belgiens. Der letzte Abschnitt des Strandes geht in den Naturpark Het Zwin über, unmittelbar an der Grenze zu den Niederlanden. Wer hier aufpasst, kann ein besonderes Souvenir finden: Knokke-Heist ist einer der wenigen Orte in Europa, an dem sich versteinerte Haifischzähne finden lassen (www.zwin.be).

Westflanderns Highlight liegt zwar nicht an der Nordsee, ist aber trotzdem ein Muss: die alte Handelsstadt Brügge. Der Abstecher dorthin ins Binnenland (wenn man nicht sogar auf diesem Weg gekommen ist) führt durch die Visartsluis und über den Boudewijnkanaal. Nach zwölf schnurgeraden Kilometern ist die Hauptstadt der Provinz erreicht. Der Passantenhaven Brugge Coupure der Vlaamse Pleziervaart Federatie befindet sich im Südwesten des Stadtzentrums (www.vpf.be/VPFMeerboeien > PH Brugge Coupure). Die Altstadt mit dem Stadhuis, dem Provinciaal Hof und dem Glockenturm Belfort ist ein Schaufenster der Pracht- und Prunkarchitektur. Und wer noch immer kein Souvenir ergattert hat, wird hier fündig. Brügge sehen und sterben? Nicht bevor man hier Schokolade und Bier probiert hat!

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