Das Schöne am Bootsurlaub? Man braucht wenig Gepäck. T-Shirts, Badehose, Jeans, ein Pulli, vielleicht noch eine Regenjacke und Sonnencreme reichen. Mehr passt ohnehin nicht in die kleinen Schapps an Bord. Doch was, wenn Silvester vor der Tür steht, das Revier nicht die Karibik, sondern der Bodensee ist und das Wetter in Deutschland verrücktspielt? So geschehen Dezember 2023. Erst schüttelte Frau Holle ihre Betten über den Nordseeinseln aus, dann stand die Hamburger Hafencity unter Wasser und wenige Tage später tropfte den Schneemännern auf der Zugspitze der Schweiß von der Stirn. Ganz so dramatisch war es zu der Zeit am Bodensee – Neptun sei Dank – nicht. Zwar sorgte Sturmtief „Zoltan“ für historisch hohe Pegel. Auch musste der Konstanzer Weihnachtsmarkt für zwei Tage schließen. Doch am 24. Dezember hatte der Himmel ein Einsehen und zog den Sturmwarnleuchten den Stecker.
„Schöni Wiehnachte“, wünscht uns André Clavien in bestem Schweizerdeutsch. Dann verriegelt der Wirt des „Hafeglöggli“ sein Restaurant im Yachthafen von Romanshorn und macht sich auf den Weg in den Skiurlaub. Wir werfen noch schnell einen Blick auf die Wettervorhersage von MeteoSwiss und legen jetzt am 24. Dezember 2023 gegen Mittag Richtung Konstanz ab. Im Heckwasser nimmt die Autofähre „Friedrichshafen“ Kurs auf ihre Namensgeber-Stadt. Backbord setzt sich der schneebedeckte Gipfel des 2500 Meter hohen Säntis in Szene. Nach einer Stunde entlang kleiner Dörfchen, Wiesen und lustig blinkender Tannenbäume setzt Regen ein. Doch was soll’s!
Radio Seefunk sorgt für Stimmung und in Konstanz – dem Sitz des Senders – reihen sich Glühweinstände, Kunsthandwerk und Bratwurstbuden wie Perlen aneinander. Die Peilmarke zu dieser Mutter aller Weihnachtsmärkte rund um den Bodensee ist das Konzilgebäude. Der dreistöckige Massivbau wurde 1388 als Warenlager und Umschlagplatz am Hafen in Rekordzeit aus dem Boden gestampft. Jahrhundertelang diente er als Drehscheibe und Zwischenlager für die Handelswaren von und nach Italien. 1417 nutzten ihn Europas Kirchenfürsten als Konferenzstätte und Stimmlokal. Gewählt werden sollte der erste und einzige Papst auf deutschem Boden. Dabei wurden freilich nicht nur Stimmzettel ausgefüllt. Vor und nach den gottesfrommen Kreuzchen entsagten die hohen Würdenträger den Geboten der Keuschheit und gaben sich, so der Chronist und Zeitzeuge Ulrich von Richental, den Diensten von rund 600 – heute würde man sagen: Luxus-Escortdamen – hin.
Die Nacht war kurz, der Abend im Restaurant „Le Marrakech“ – wenige Fußminuten vom Liegeplatz unserer Linssen entfernt – lang, das Weihnachtsmenü dort spitze und die Räumlichkeiten selbst eine Hommage an die Architektur aus 1001 Nacht. Jetzt, mit dem 8-Uhr-Geläut des Konstanzer Münsters, präsentiert sich der Himmel in kaltem, purpurfarbenem Morgenlicht. Die Fernsicht ist fantastisch. Im Osten beherrschen die eisgepanzerten Berge der Alpen die Szene, im Westen, jenseits des Untersees, rücken die legendenumwobenen Vulkane des Hegau ins Bild. Shootingstar unter den einstigen Feuerspuckern ist der knapp 700 Meter hohe Hohentwiel.
Auf dem Gipfel thront eine gewaltige Festungsruine, an den Hängen freuen sich Deutschlands höchstgelegene Rebstöcke über den nährstoffreichen Basaltboden. Der gugelhupfförmige Lavaspeier ist aber auch der Namensspender eines ganz besonderen Schiffs. 1913 lief der Schaufelraddampfer „Hohentwiel“ in Friedrichshafen vom Stapel, nahm den Liniendienst zwischen Konstanz und Bregenz auf, diente Württembergs König Wilhelm II. als Staatsyacht und ist mit seinem restaurierten Jahrhundertwende-Interieur heute das eleganteste Schiff des Drei-Länder-Sees.
Ablegen? Oder frühstücken? Die Frage ist rhetorisch. Bei diesem Traumwetter heute am 25. Dezember heißt es natürlich Leinen los, raus aus dem Hafen, an den markanten Jugendstilbauten der Seestraße entlang und die Rheinbrücke Konstanz passiert. Mit dem 1938 eröffneten Bauwerk haben wir den Seerhein und damit die rund vier Kilometer lange und 100 bis 500 Meter breite Verbindung zwischen dem 472 Quadratkilometer „großen“ Obersee und dem 62 Quadratkilometer „kleinen“ Untersee vor dem Bug. Wir sind nicht die Einzigen auf dem Wasser. Im Heck unseres Knickspanters legen sich zwei Vierer des Rudervereins Neptun ins Zeug. Vor „Der Bleiche“, dem wohl berühmtesten Industriebauwerk der Stadt, stehen zwei Stand-up-Paddler und bewundern das gut 100 Jahre alte Architekturkleinod. Etwas weiter, ich traue meinen Augen nicht, steigen eine Handvoll Hobbytaucher in ihre Trockenanzüge. Während wir uns durch den Stangenwald der Schifffahrtszeichen im Seerhein wuseln, lassen sich im Nordwesten der Weltkulturerbe-Klosterinsel Reichenau die ersten Kite-Surfer vom Westwind in den Himmel ziehen.
Morgenrot, Schlechtwetterbot … die alte Regel bewahrheitet sich leider einmal mehr. Nach unserer Tour zum Untersee, einem Spaziergang durch Allensbach mit anschließendem Besuch des örtlichen Weihnachtskonzerts, hängen jetzt am Morgen des 26. Dezember die Wolken tief. Doch allen Unwägbarkeiten zum Trotz heißt es nach einem schnellen Kaffee: ablegen! Wir sind gegen Mittag mit Niklaus in Überlingen verabredet. Zwischen dem Anleger des kleinen „Meinungsforschungsstädtchen“ und der mediterran angehauchten Garten- und Thermalstadt liegen gut 30 Kilometer. Und der Stangenwald des Seerheins ist auch bei guter Sicht alles andere als eine Vollgasstrecke.
Ich habe Niklaus im September auf der Interboot in Friedrichshafen kennengelernt. Er hatte vor ein paar Jahren seine erfolgreiche Karriere als Maschinenbauingenieur an den Nagel gehängt, die alte, baufällige Keller-Werft in der Nähe des Überlinger Yachtclubs erworben und sie mit Kreativität und Innovation zu einer hippen Kombi aus Refit-Werft und Edel-Italiener umgebaut. Auf der Messe präsentierte er den perfekt restaurierten Rumpf einer gut 100 Jahre alten 6mR-Yacht. Jetzt nehmen wir den Fortschritt seiner Arbeiten in Augenschein, bewundern ein 1950er-Mahagoni-Runabout und tauschen bei köstlichem Meeresfrüchterisotto und Bodenseewein die schrägsten Episoden unseres Skipperdaseins aus …
Lage, Lage, Lage – was in der Immobilienbranche die Preise in schwindelerregende Höhen treibt, gilt auch für den Weinbau. Der Chronik nach pflanzte der Abt des Klosters Reichenau 818 die ersten Rebstöcke. Damit wollte er seine Glaubensbrüder rund um den Bodensee mit Messwein versorgen. Doch der spirituelle Trank war kein Genuss. Es dauerte Jahrhunderte, bis die Winzer die önologischen Fallstricke der Region in den Griff bekamen. Aber die Mühe hat sich gelohnt. Nicht von ungefähr heben Fachblätter wie „Falstaff“ die Spätburgunder, Müller-Thurgau und Sauvignon blancs der Bodenseeproduzenten heute auf das Podest der höchsten Gaumenfreuden. Das gilt nicht nur, aber auch für die Bacchusprodukte des Staatsweingutes Meersburg.
Da viele Sportbootmarinas – so auch der Yachthafen am Waschplätzle bei Meersburg – im Winter geschlossen sind, bleibt die Linssen anderntags am Steg der Keller-Werft; wir nehmen den Bus und flanieren nach rund 30 Minuten Fahrt die Meersburger Seepromenade mit ihren hübschen Cafés und kleinen Hotels entlang. Am Ende der Hafenmole, dort wo Peter Lenks „Magische Säule“ in den Himmel ragt, kraxeln die Rebstöcke des Staatsweinguts die steilen Uferlagen hoch. Oben gibt sich ein Ensemble aus mittelalterlicher Burg, hübschem Barockschloss, weitläufigem Reithof und bischöflichem Seminargebäude ein Stelldichein. Wir spazieren durch die Gassen der Fachwerkaltstadt, werfen einen Blick ins Weinmuseum und probieren schließlich im Staatsweingut die Produkte dieses – man höre und staune – dem baden-württembergischen Finanzministerium unterstellten Betriebes. Vor dem Bus zurück nach Überlingen kürt noch ein klassisches Streichkonzert im Schloss den Tagesausflug.
Apropos Peter Lenk: Der Künstler ist so etwas wie das Enfant terrible der deutschen Bildhauerei. Seine frech-frivolen Skulpturen nehmen die Spitzen der Gesellschaft von gestern und heute kräftig auf die Schippe. Die 15 Meter hohe Magische Säule mit ihren bekannten, zum Teil mehr als skurrilen Persönlichkeiten der Meersburger Stadtgeschichte – allen voran die berühmteste deutsche Dichterin Annette von Droste-Hülshoff – gilt als vergleichsweise braves Kunstwerk. Ganz anders sieht es mit der Imperia in Konstanz aus. Diese neun Meter hohe und 18 Tonnen schwere Beton-Skulptur zieht mit zwei lächerlich kleinen Nackedeis in den Händen das morallose Treiben der kirchlichen Würdenträger während der Konstanzer Papstwahl durch den Kakao. Getreu dem Motto „Je exponierter die Lage, desto größer der Skandal“ platzierte der Künstler die leicht bekleidete Dame in einer Nacht-und-Nebel-Aktion 1993 an der Hafeneinfahrt von Konstanz. Natürlich gab es ein Riesengeschrei. Inzwischen aber haben sich die Gemüter beruhigt. Und die wohl frivolste Landmarke der christlichen Seefahrt ist heute der meistfotografierte Werbebotschafter der Bodenseemetropole.
Wo bei Neptun und allen Bodenseefelchen ist nur die Zeit geblieben? In unseren Kinderjahren tröpfelten die Tage im Wochentakt. Und die Sommerferien währten eine Ewigkeit. Jetzt aber fliegt die Zeit nur so dahin. Nach Meersburg, einer Rolle rückwärts in die goldene Epoche der Luftschifffahrt im Friedrichshafener Zeppelinmuseum, einem Glühweinumtrunk mit den Crews des 1809 gegründeten Lindauer Segel-Clubs und einem Zwischenstopp im mittelalterlichen Schweizer Städtchen Arbon liegen wir – zack – in der Marina von Rorschach, packen unsere Daypacks und sitzen im Zug nach Sankt Gallen.
Der Legende nach kam der irische Wandermönch Gallus vor über 1400 Jahren in die heutige Ostschweiz. In einem abgelegenen Hochtal in der Nähe des Städtchens Arbon gründete er eine kleine Einsiedelei. Diese blühte in der Folgezeit zu einer Metropolis des christlichen Glaubens auf. Heute sonnt sich das Erbe des frommen Gottesmannes oder präziser gesagt der Stiftsbezirk St. Gallen mit seiner Bibliothek und deren über 170.000 zum Teil handgeschriebenen Büchern im Glanz des UNESCO-Weltkulturerbes. Vom Bahnhof der 80.000-Einwohner-Stadt bis zu den historischen Bücherschätzen sind es 15 Fußminuten. Sofern man einen Bogen um die schnuckeligen Lädchen und hübschen Cafés der Altstadt macht. Überall in den Gassen duftet es nach süßen Gaumenverführern. Absolutes Muss, zumindest für uns, ist der aus Mandeln und Honigteig hergestellte St. Galler Biber der Confiserie Roggwiller.
Samstag, 30. Dezember, 10 Uhr: Wir legen bei strahlendem Wetter und 8° Celsius Außentemperatur Kurs Bregenz ab. Eine Viertelstunde später sind wir aus dem Lee der Berge; der Wind wird frischer und zaubert erste Schaumkämme auf die Wellen. Unsere Yacht irritiert das nicht. Mit der stoischen Ruhe ihrer neun Tonnen läuft sie wie auf Schienen. Der einzige nautische Knackpunkt zwischen Rorschach und unserem Tagesziel, dem Stadthafen von Bregenz, ist ein Schwanenpärchen. Laut schnatternd bestehen die beiden im Mündungsgebiet des Alten Rheins auf ihr Wegerecht.
„Wenn ihr euch den Bodensee von oben anschauen wollt“, hatte uns Peter Brattinga gestern beim Essen in seiner Brasserie Petrus empfohlen, „dann setzt euch gleich um die Ecke in die Seilbahn hinauf auf den 1064 m hohen Pfänder. Oder fahrt mit Bus und Bahn aufs Bödele.“ Wir entscheiden uns für Letzteres und tauchen – jetzt am 31. Dezember 2023 gegen Mittag – bei einer kleinen Wanderung durch das Hochmoor Fohramoos in die Sagen und Legenden des Bregenzerwaldgebirges ein. In den Kindertagen unserer Zeitrechnung war der Mond für die Menschen der Taktgeber des Jahreskalenders. Da das Himmelsgestirn für seine Reise um die Erde aber „nur“ 28 Tage braucht, fehlen dem „Mondjahr“ gegenüber dem gregorianischen (Sonnen-)Jahr 11 Tage und 12 Nächte.
Dieser „Blackout“ zwischen den Jahren war im Glauben der Bergbewohner das Tor zu einer Anderswelt, in der Hexen, Dämonen und Geisterwesen über das Wohl und Wehe der Menschen im neuen Jahr bestimmten. Um das Böse abzuwehren, wurden magische Kräuter verbrannt, Tierställe gemieden und vor allem keine frisch gewaschene Wäsche aufgehängt. Die Schattenwesen hätten sich darin verfangen und den Hausbewohnern Tod und Verderben bringen können. Natürlich begegnen uns in dieser archaischen, von Zwergsträuchern und knorrigen Birken durchwirkten, von Firn gepuderten Moorlandschaft keine metaphysischen Schreckgestalten … aber mit der Stille der Natur und den tief verschneiten Berggipfeln am Horizont rückt die Realität in den Hintergrund. Der Blick richtet sich nach innen, das Ich greift zu einem imaginären Blatt Papier und notiert darauf die Wünsche für das kommende Jahr …
Bregenz, Stadthafen, 19.30 Uhr: „Guten Abend, meine Damen und Herren! Herzlich willkommen zur letzten Dienstfahrt der MS ‚Alpenstadt Bludenz‘ 2023.“ Kaum hat Kapitän Willi Slappnig am Steuer des 250-Passagiere-Schiffs die Durchsage beendet, brandet Beifall auf. Zusammen mit fünf weiteren Kursschiffen der Vorarlberg Lines legt er den Bug seiner schneeweißen Lady auf Kurs NW. In den nächsten Stunden biegen sich die Tische unter der Last der Silvestermenüs. Champagner perlt und Live-Bands sorgen für ausgelassene Partystimmung. Wenige Minuten vor Jahreswechsel gesellen sich vier eidgenössische Ausflugsdampfer zu der Bregenzer Feier-Flottille, bilden mit ihr einen Kreis um einen alten, bis zur Freibordmarke mit Feuerwerk beladenen Kiesfrachter und zählen die letzten Sekunden des alten Jahres über Lautsprecher herunter. Punkt Mitternacht kracht ein pyrotechnisches Farbspektakel in den sternenklaren Nachthimmel, intonieren die Bordkapellen – na wdas wohl – Johann Strauss’ „Donauwalzer“.
Bevor wir uns zu Österreichs heimlicher Nationalhymne auf der Tanzfläche drehen, zünden wir nach altüberlieferter Sitte noch schnell unseren (inzwischen zu Papier gebrachten) Moorwanderung-Wunschzettel an. Ob alles in Erfüllung geht? In 366 Tagen wissen wir es. In diesem Sinne, wenn es demnächst wieder so weit ist: ein beschauliches Fest, einen guten Rutsch und ein Jahr, in dem alle Wunschzettelwünsche Wirklichkeit werden …
SlowDown Charter AG, Liegeplatz: SBS Yachthafen Romanshorn (Mole 2). Der Mietpreis liegt saisonabhängig zwischen 3200 und 3900 CHF/Woche. Hinzu kommen Kaution (1000 CHF), Endreinigung (200 CHF) sowie Treibstoffkosten. Der Selbstbehalt im Schadensfall beträgt 2000 CHF. Internet: www.slowdown-charter.ch, Tel.: +41 (0) 765 07 45 47. Voraussetzung: Bodensee-Ferienpatent (siehe Website).
Linssen 35 SL AC (Stahl), Länge: 10,70 m, Breite: 3,40 m, Tiefgang: 1,00 m, Kojen 6 (2 Zweierkabinen sowie 2 Salonschlafmöglichkeiten), WC/Dusche 2/2, Motorisierung 75 PS (Diesel). Ausstattung: Kühlschrank mit Gefrierfach, 3-flammiger Gasherd mit Backofen, Kaffeemaschine, Heizung, Bug- und Heckstrahlruder, Autopilot, Plotter
Für die Touristiker der Bodenseeregion ist der Winterurlaub am Drei-Länder-See die ideale Zeit zum Entschleunigen. Dem schließen wir uns vorbehaltlos an.
Warme Socken und dicke Pullis gehören dabei ebenso ins Gepäck wie festes Schuhwerk für die Schneewanderung und Badeschlappen für die Therme. Aber: Viele Sportboothäfen sind im Winter geschlossen.
Informieren Sie sich vorher, welcher wann geöffnet hat, ob Sie Frischwasser bekommen bzw. Ihr Schwarzwasser absaugen können. Internet: bodensee.eu/de