Gerald Penzl
· 14.07.2022
Von der Oder zur Ostsee: Mit der Charteryacht einmal über das Stettiner Haff. Flache Flussläufe und weite Wasserflächen prägen den Westen Pommerns
Wasser, so weit das Auge reicht. Dazu kleine, idyllisch gelegene Yachthäfen, verträumte Städtchen und unberührte Natur – auf den ersten Blick unterscheidet sich der polnische vom deutschen Teil des Stettiner Haffs nur in der Größe. Bei genauerer Betrachtung sieht die Sache anders aus. „Es sind die berühmten vielen kleinen Dinge“, sagt Kapitan Jagniątkowski, „die in der Summe den großen Unterschied machen.“ Das fange, so der studierte Schiffsbauer und Chef des Marinaverbands Polnische Segelroute, „mit der Mentalität der Menschen an, geht über Wind und Wetter – und endet in der Küche“.
Wir haben eine Bavaria Sport 29 gechartert, übernehmen das schnelle wie kompakte Kajütboot jetzt in der Stettiner NorthEast Marina und legen gegen Mittag ab. Ein paar Zündtakte später gurgelt die Oder unter dem Kiel. Steuerbord rücken die Liegestühle und Sonnenschirme der Flussinsel Grodzka ins Bild, backbord gibt sich die rund 500 Meter lange Hakenterrasse mit ihren Open-Air-Cafés, Wasserspielen und Neorenaissancepalästen die Ehre. Ein paar Schiffslängen weiter reihen sich Werftanlagen, Containerterminals und Lagerhallen nahtlos aneinander. „Wie wär’s mit einem Vorgeschmack aufs Haff?“, fragt Theo am Steuer. Die Frage ist rhetorisch. Ohne eine Antwort abzuwarten, lässt er die 400.000-Einwohner-Stadt im Heckwasser und nimmt über die Przekop Mieleński Kurs auf den Jezioro Dąbie (auf Deutsch: Dammscher See).
Wasserwandern? Oder den Hebel umlegen? Zugegeben, auf dem 56 Quadratkilometer großen See könnte der V8 unseres Bootes zeigen, wo der (Vortriebs-)Hammer hängt. Aber wollen wir das? Zumal es reichlich Stellnetze und Reusen gibt. Also belassen wir es bei zwei, drei flotten Spaßkurven, gehen dann auf 1500 Touren zurück und genießen das von dichten Wäldern und hohem Schilf umrahmte Gewässer. Nach einer Dreiviertelstunde hebt sich ein merkwürdiges Gebilde aus dem See. Beim Näherkommen erinnert es an einen Schiffsrumpf. Und ist auch einer. Aber keiner aus Stahl, Holz oder GFK. Sondern – man lese und staune – aus Beton. Natürlich ist das 90 Meter lange und 15 Meter breite Unikum nicht irgendwie vom Himmel gefallen. Im Gegenteil. Es ist ein Relikt aus der Unseligkeit des Zweiten Weltkriegs. Damals produzierte die IG Farben im nahe gelegenen Pölnitz rund 15 Prozent des gesamten deutschen Synthetik-Treibstoffbedarfs, unter anderem für die V2-Raketen aus Peenemünde. Den Transport bewerkstelligten Tankschiffe. Da Eisen und Stahl jedoch zu wertvoll waren, fertigte man die Rümpfe von Frachtschiffen nicht selten aus Beton. So auch im Fall der vor uns liegenden „Ulrich Finsterwalder“. Wir drehen eine Ehrenrunde um das Wrack und nehmen über den nördlichen Abfluss des Sees, den Kanał Iński Nurt, wieder die Oder unter den Kiel.
Police liegt achteraus. Wir verlassen das Hauptfahrwasser, nehmen Kurs auf Stepnica und legen in der Kapitan-Hilgendorf-Marina an. Nach einem netten Smalltalk mit dem Skipper eines Daysailers machen wir uns auf den Weg ins Zentrum. Exorbitant Weltbewegendes gibt es in dem 500-Seelen-Örtchen nicht zu entdecken. Das kleine Dorfkirchlein ist interessant. Die Infotafel über den Namensgeber der 2015 eröffneten Marina ebenso. Robert Hilgendorf, so lese ich, erblickte hier 1851 das Licht der Welt, war in jungen Jahren bereits Kapitän auf großer Fahrt, hatte das Kommando über die vormals weltgrößte Fünfmastbark und umrundete das Kap Hoorn insgesamt 66 (!) Mal. Die Hauptattraktion von Stepnica aber ist – zumindest für unsere Bedürfnislage – die Speisekarte der Tawerna Panorama. Wenige Meter vom Anleger entfernt, kredenzt die Küche solide polnische Hausmannskost. Wir ordern gebackenen Dorsch mit Bratkartoffeln und Spinat. Dazu gibt es lokales Craft-Bier und als Hommage auf den fantastischen Sonnenuntergang einen vierfach destillierten, herrlich weichen Wodka.
Mit dem ersten Morgenlicht kommt Leben in das Hafenbecken. Zwei Fischer hieven Stellnetze ins Boot, packen lange Stangen dazu, starten den Außenborder und tuckern Richtung Haff. Bald darauf füllt sich der Salon unserer Bavaria mit dem Duft von frisch gebrühtem Kaffee. Wir frühstücken und legen ab. Nach einer Viertelstunde grüßt das Örtchen Trzebież und damit Polens größtes Segelschulzentrum, wenig später rauscht das Stettiner Haff unter dem Rumpf. „Sieht ja interessant aus“, deutet Theo auf eine Handvoll ebenso schmaler wie langer Sandinseln. Beim Näherkommen entpuppen sie sich als Verklappung des Fahrrinnenaushubs. Auf diesem maritimen Abraum – so die Gerüchteküche – könnte einmal ein Luxusresort für die Reichen und Schönen der Welt entstehen. Backbord querab verdient sich ein gutes Dutzend Kids die ersten Mast- und Schotbruch-Sporen. „Süß“, kommentiert Theo die Dreikäsehochs in ihren Optimisten, „so hab ich auch mal angefangen.“
Sechs Seemeilen weiter ist das Leuchtfeuer Brama Torowa 2 erreicht. Theo geht auf Kurs 260°, kreuzt die unsichtbare Grenze nach Deutschland und läuft nach insgesamt 28 Seemeilen in den Stadthafen von Ueckermünde ein. Wenige Schritte vor der Touristen-Information liegt der Kutter „Sir Henry“. Das gute Stück wurde 1955 in der DDR auf Kiel gelegt, ist 12 Meter lang und heute ein weit über die Stadt hinaus bekannter Fischimbiss. Es gibt eine Runde Matjesbrötchen. Wir lassen uns die Leckereien schmecken, nehmen die hübschen Gründerzeithäuser rund um den nahen Marktplatz in Augenschein und machen uns dann auf den Weg ins ehemalige VEB Schiffslaternenwerk. Von Honeckers viel zitierter Vergesellschaftung der Produktionsmittel sind dort neben dem Bürogebäude noch ein paar Hallen zu sehen. Das Bürogebäude ist heute eine kleine Pension, eine der Hallen ein „Heimatmuseum“, in dem man die bunt zusammengewürfelten Alltagsutensilien aus der Plaste-und-Elaste-Zeit bestaunen kann. Weiter geht’s nach Altwarp.
„Schlecht“, erzählt Manfred Goldmann, „ging es uns Haff-Fischern in der DDR nicht. Was die staatlichen Verarbeitungsstellen nicht abgenommen haben, konnten wir privat verkaufen. Gutes Geld spülte vor allem der Drei-Farben-Fisch in die Kasse.“ Was denn der Drei-Farben-Fisch sei, frage ich ihn. „Natürlich der Aal“, schmunzelt der 67-Jährige, „grün gefangen, braun geräuchert und schwarz verkauft.“ Ende 1989 verabschiedete sich der Ostblock in die Geschichtsbücher. Wenig später entdeckte Altwarp die Butterfahrt. Bis zu 5000 Schnäppchenjäger tuckerten Tag für Tag ins polnische Nachbarörtchen Nowe Warpno (deutsch: Neuwarp) und deckten sich während der Überfahrt mit zollfreien Rauch- und Trinkwaren ein. Am 1. Mai 2004 trat Polen der EU bei. Damit war Schluss mit lustig. Altwarp dufte – oder, aus Sicht des Stadtsäckels, musste seine Zollhäuschen in Rente schicken ...
Wir verabschieden uns von Manfred Goldmann, der gleich mit dem historischen Krabbenkutter „Lütt Matten“ zum Schaufischen aufs Haff hinausfährt, legen kurz in Nowe Warpno an, spazieren durch das hübsch restaurierte Fachwerkörtchen und nehmen dann Kurs auf Świnoujście (Swinemünde). 20 Minuten später ist das Leuchtfeuer Brama Torowa 1 und damit die Einfahrt in den Kanał Piastowski erreicht. Wer vor, sagen wir 200 Jahren, mit dem Schiff vom Stettiner Haff aus in die Ostsee wollte, hatte, was den Weg betraf, die Wahl zwischen Pest und Cholera: Im Westen kontrollierten die Schweden die Fahrt durch den Peenestrom und kassierten schwindelerregend hohe Wegezölle.
Die Świna südöstlich von Świnoujście war (und ist!) ein Tohuwabohu aus Untiefen und Mini-Inselchen. Wer Pech hat(te), lief (und läuft) dort auf Grund. Der Dritte im Bunde, der Lauf der Dziwna, galt bereits im Mittelalter als unkalkulierbarer Versandungskandidat. Das war dem Preußenkönig Wilhelm I. alles zu viel. 1875 verfügte er daher den Bau der Kaiserfahrt (heute Kanał Piastowski). Fünf Jahre später wurde die Schnelldampferverbindung zwischen dem Haff und dem Hafen von Swinemünde in Dienst gestellt. Zu jener Zeit war die heutige 40 000-Einwohner-Stadt längst auf dem Weg vom urbanen Nobody zum eleganten Seebad. Mit großen Parkanlagen und prachtvollen Hotels, in denen sich Aristokraten, Geldadel und Künstler die Klinke in die Hand gaben.
„Freie Liegeplätze“, so der Hafenmeister des Yachthafens Świnoujście auf meine Anfrage über Funk, „findet ihr vor meinem Büro.“ Theo lässt die Ostseefähre M/F „Polonia“ passieren und steuert die 300-Plätze-Marina an. Nach eingehender Inaugenscheinnahme der Stadt mit ihren Seehäfen, weitläufigen Hotelanlagen und feinsandigen Premiumstränden schlagen wir im Fort Gerhard die dunkelste Seite der Stadtchronik auf. Einen Muschelwurf von den Kasematten und Kanonen der preußischen Festungsanlage entfernt, setzt jedoch die Latarnia Morska Świnoujście ein deutlich friedlicheres Zeichen. Der Zungenbrecher wurde 1859 in Dienst gestellt, ist 64,8 Meter hoch und damit der höchste Leuchtturm Polens. 307 Stufen führen hinauf. Der schweißtreibende Aufstieg wird mit einem traumhaft schönen Blick über die „Vierte“ – wie sich die Stadt werbewirksam gern nennt – der (nur wenige Kilometer entfernten) Usedomer Kaiserbäder Ahlbeck, Heringsdorf und Bansin belohnt.
Bloß keine Experimente! Statt die Insel Wolin im Osten des Stettiner Haffs direkt über die Świna anzusteuern, entscheidet sich Theo lieber für den Umweg über die Kaiserfahrt. Zwar hat die Bavaria „nur“ 85 Zentimeter Tiefgang, aber ein Freifahrtschein für das Flachwasser-Gewusel der Świna ist das nicht. „Was“, orakelt Theo nach dem Passieren des Leuchtfeuers Brama Torowa 1, „hatte Kapitan Jagniątkowski über die Wetterkapriolen im Stettiner Haff gesagt?“ Ein Blick nach oben macht klar, wovon er spricht. Wie aus dem Nichts ist der Himmel rabenschwarz, der Wind pfeilt die Beaufort-Skala hinauf, und schon kübelt Petrus seine Schleusen aus. Es wird mehr als ungemütlich. Die Wellen sind kurz und steil, die Fahrrinne ist schmal und die Austonnung bei der Schaukelei kaum auszumachen. Kurzum: Der geplante Abstecher zu den bis zu 80 Meter hohen Klippen vor Lubin fällt im wahrsten Sinne des Wortes ins Wasser. „Darauf einen Wodka“, atmet Theo durch, als wir eine halbe Stunde später die Landabdeckung der Insel erreichen.
Der Legende nach existierte auf Wolin einst eine mächtige Stadt. Sie hieß Vineta und soll, wenn man so will, so etwas wie das Sodom und Gomorra der Ostsee gewesen sein. Ein göttlicher Fluch spülte die unmoralische Sünderin ins Meer. Ob Vineta, wie Überlieferungen Glauben machen, an der Stelle des heutigen Städtchens Wolin stand, ist reine Spekulation. Wir lassen die Namensgeberin der Insel samt ihrer hübschen Backsteinkirche zurück und bummeln die malerische Dziwnów Kurs NE herauf. Nach einer Stunde entlang unberührter Natur kredenzt das Café der Schöner-Anlegen-Marina Kamień Pomorski bestes hausgemachtes Fruchteis. „Top“, befindet Theo, „hier lässt sich’s aushalten.“ Ich nicke und greife zum Reiseführer. Ruhig und beschaulich, schreibt der Autor, sei das 8.600-Einwohner-Örtchen. Und der absolute Gegensatz zum touristisch umtriebigen Dziwnówek oben an der Mündung der Dziwna. „Dann bleiben wir doch bis morgen“, beschließt Theo.
Nein, die Ostsee ist kein lammfrommes Sonntagsgewässer. Vor allem im Winter führen Sturmfluten immer wieder zu großen Verwüstungen. Entsprechende Priorität hat der Hafenschutz. Nach vierzig Laune machenden Seemeilen mit dem Autopiloten entlang endloser Sandstrände, umtriebiger Badeörtchen und dichter Kiefernwälder erreichen wir am Nachmittag die Stadt Kołobrzeg, das ehemalige Kolberg. Wind und Wetter haben sich längst aufs Ohr gelegt, sprich: Die See ist glatt, und die massigen, weit ins Meer ragenden Molen sind somit nichts anderes als ein Tummelplatz für Möwen, Kormorane und schaulustige Touristen. Zack werden die Smartphones gezückt und wir (und unsere Bavaria) für die Urlaubserinnerungen abgelichtet.
Eine Viertelstunde später liegen wir im Yachthafen der historischen Hansestadt. Die Formalitäten sind schnell erledigt. Hafenmeister Józef hat einen Tipp: „Gut essen kann man im Restaurant Domek Kata.“ Nach einem Spaziergang durch die Altstadt folgen wir seiner Empfehlung. Ob, wie man munkelt, die Räumlichkeiten mal ein Gerichtssaal waren und der Henker gleich nebenan das Urteil vollstreckte? Wer weiß. Wir lassen uns Wildschweinbraten in Waldpilzsoße mit Buchenweizengrütze schmecken – und stoßen anschließend mit einem letzten Wodka auf den letzten Törntag an.
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