ReportageDas Lobster Boat – auf den Spuren der Legende in Maine

Christian Tiedt

 · 28.12.2024

Selbst kleine Küstenorte verfügen über ganze Flotten der robusten und ebenso stabilen Arbeitsboote
Foto: stock.adobe.com; Doug Lemke
Aus dem Nordosten der USA kommt eine Legende, deren Name auch Sportskipper aufhorchen lässt: das lobster boat

Das Gold von Maine kommt aus dem Meer: Homarus americanus, der Amerikanische Hummer. lobster in der Landessprache. Nirgendwo sonst ist seine ohnehin schon eindrucksvolle Art in so großer Zahl und mit so vielen Prachtexemplaren vertreten wie in den klaren, kalten und nährstoffreichen Küstengewässern im äußersten Nordosten der USA. Seit Generationen schon holen die Fischer ihn dort aus dunkler Tiefe herauf. Heute ist er so begehrt, dass er von der Pier weg per Flugzeug in die ganze Welt verfrachtet wird – lebend. Auf den Speisekarten der gehobenen Seafood-Gastronomie von New York bis Hongkong ist der Hummer aus dem Golf von Maine das goldene Ausrufezeichen. Berühmt wurde aber nicht nur der erlesene Fang selbst, sondern auch das wichtigste „Werkzeug“ seiner Fänger: das lobster boat.

Die Anfänge

Seine Geschichte reicht zurück bis zu den Anfängen der ersten britischen Kolonien in Nordamerika zu Beginn des siebzehnten Jahrhunderts. Dabei spielte das Meer für die Siedler eine ebenso große Rolle bei der Versorgung wie für die Ureinwohner, und die Engländer lernten etwa von den Mikmaq, was für die Tafel dort zu holen war. Auf seinen Spitzenplatz in diesem Feld musste der Hummer aber warten – denn in der gehobenen Gesellschaft wurde er lange als Essen armer Leute verschmäht. Gefischt wurde in schmalen doppelendigen Ruderbooten mit flachem Boden, die vielfach verwendbar waren. Auch als die Zeitung Boston Gazette 1726 zum ersten Mal ein lobster boat erwähnte, handelte es sich noch um ein solches dory. Ein weiteres Jahrhundert musste vergehen, bis der kulinarische Aufstieg des Hummers in den noch jungen Vereinigten Staaten die Entwicklung beschleunigte.

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Den Anfang machte die immerhin schon mit einem Sprietsegel ausgerüstete pea pod (Erbsenhülse), gefolgt von der smack, die erstmals über einen Salzwassertank für den Fang verfügte, und der wesentlich größeren friendship sloop, einem guten Segler mit eleganten Linien, weit vorn stehendem Mast und viel Platz dahinter für Hummerfallen aus Holz, Schwimmer und Leinen. Sie beherrschte die Szene im ausgehenden neunzehnten Jahrhundert. Dann kam der Verbrennungsmotor. Mit steigender Leistungsfähigkeit und Verlässlichkeit veränderte er das Handwerk in kurzer Zeit fast vollständig: vom Bau der Boote bis zur Art des Fischens. Nur das geräumige Cockpit der segelnden Vorgänger hatte sich so bewährt, dass es beibehalten wurde, als mit neuen Rumpfformen experimentiert wurde.

Zu den bekanntesten Neuheiten zählten die manövrierfähige Hampton, das nach seinem runden Heck benannte torpedo boat und die Brimstone, ebenso schnell wie schlank. In den Zwanziger- und Dreißigerjahren des vorigen Jahrhunderts vereinheitlichten sich die Entwürfe dann immer mehr, als man die bewährtesten Elemente der verschiedenen Typen kombinierte: Das lobster boat war geboren.

Das Lobster Boat: Unterschiede und Gemeinsamkeiten

Allerdings ist es selbst heute, knapp einhundert Jahre später, noch immer nahezu unmöglich, zwei völlig gleiche Boote zu finden; die Vielzahl von Werften, Revieranforderungen und Eignerwünschen sorgt nach wie vor für Unterschiede. Das gemeinsame Erbgut ist aber dennoch klar erkennbar. Denn abgesehen davon, aus welchem Material der Rumpf besteht – früher aus Holz, heute aus GFK –, gibt es viel Verbindendes: Vom weit nach oben gezogenen Vorschiff, das mehr Auftrieb in schwerer See erzeugt, nimmt das Freibord bei positivem Deckssprung nach achtern deutlich ab, damit die schweren Hummerfallen aus stählernem Drahtgeflecht leichter wieder an Bord geholt werden können. Das breite Heck bietet Platz zum Stauen und Stapeln Dutzender dieser lobster traps. Deshalb beansprucht das Cockpit auch oft mehr als die Hälfte der Bootslänge. Das Deckshaus (eigentlich eher ein Unterstand) ist dagegen klein gehalten und häufig sowohl hinten wie auch zu einer Seite offen, damit der Rudergänger von dort die Winsch bedienen kann, mit der das Fanggerät eingeholt wird. Ein Niedergang führt in die Bugkabine.


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Klassische lobster boats sind als Halbgleiter ausgelegt. Das tiefe V vorn und der ausgeprägte Kielfall sorgen für Kursstabilität und verringern die Abdrift, wenn es gestoppt liegt. Am Heckspiegel hat der Rumpfboden dagegen nur noch eine minimale Aufkimmung von wenigen Grad, was die Stabilität und Sicherheit bei der Arbeit im Cockpit bei Wellengang erhöht.

Die Spantenform kann dagegen unterschiedlich sein: Während die traditionelle Built-down-Variante S-Spanten mit sauberem Übergang zum Kiel hin vorsieht, sind Rund- oder Knickspanter mit angesetztem Kiel inzwischen ebenso häufig anzutreffen. Im ersten Fall wird mehr Wert auf Seetüchtigkeit und Auftrieb gelegt, im zweiten auf Geschwindigkeit – das ist die wohl größte „Glaubensfrage“ in den Häfen zwischen Bar Harbor und Kennebunkport. Propeller und Ruder werden bei beiden Varianten durch ein stabiles Skeg geschützt.

Für den Einsatz auf See angepasst

Unter Deck im Maschinenraum setzen die meisten Skipper auf leistungsstarke Dieselmotoren; Kraftpakete, die eigentlich an Land unter der Haube von schweren Sattelschleppern stecken und von Herstellern wie Detroit oder International stammen. Mit Kielrohrkühlung und Trockenauspuff werden sie an den Einsatz auf See angepasst, entweder serienmäßig ab Werk oder – billiger – in der eigenen Garage. Während sich die Bootsgröße über Jahrzehnte im 30-Fuß-Bereich im Leistungsspektrum zwischen 200 und 500 PS bewegte, haben moderne Neubauten mit 800 PS im Rumpf längst 50 Fuß erreicht. Der Grund: Immer mehr Hummer wird aus dem Meer geholt.

Was nach Überfischung aussieht, ist der großen Nachfrage nach Homarus americanus geschuldet. Wurden um 1980 zehn Millionen Tonnen Lobster jährlich gefangen, war die Menge 2018 fünfmal so groß. Ihr Wert: eine halbe Milliarde Dollar. Die Bestände scheinen allerdings nicht nur allen Fangrekorden zu trotzen, sie wachsen sogar. Dass sich die Branche dennoch im schwersten Sturm ihrer Geschichte findet, liegt an dem internationalen Wirtschaftskrieg, den Präsident Trump vom Zaun brach. Auf US-Strafzölle auf Stahl- und Automobilimporte reagierten Europa und Fernost mit Gegenzöllen – unter anderem auf Amerikanischen Hummer. Die Corona-Pandemie ließ dann den noch verbliebenen heimischen Markt fast vollständig einbrechen.

Hat der Klimawandel Schuld am Boom der Hummerpopulation?

Die letzten Jahre bedeuteten auch für Maines gefährlichsten Job neue Hoffnung, doch die nächste Gefahr könnte bereits am Horizont zu sehen sein. Meeresbiologen vermuten, dass der derzeitige Boom der Hummerpopulation auf steigende Wassertemperaturen infolge des Klimawandels zurückzuführen ist. Sollte dieser Trend nicht gestoppt werden, so die Befürchtung, dürfte es nur eine Frage der Zeit sein, bis es den Tieren zu warm wird und sie dem Golf von Maine den Rücken kehren. Fanggebiete weiter nördlich wären selbst für die großen lobster boats aus Maine nicht mehr erreichbar.

Wie auch immer die Zukunft aussehen mag, das Erbe der lobster boats scheint so oder so gesichert: Harte Fakten wie Seetüchtigkeit, Robustheit und Zuverlässigkeit, gepaart mit einem guten Schuss Romantik, haben sie zum Markenzeichen werden lassen. Zusammen mit dem Synonym Down East, das die Küstenregion Maines bezeichnet und als down east style für denselben Charakter und dieselben Eigenschaften steht, wird lobster boat schon seit Jahrzehnten auch von der Sportbootindustrie genutzt.

Einige Hersteller bleiben dabei bis auf wenige Abstriche am Original. Mit ihren Modellen – deren Art respektvoll Man-o-war genannt wird, also Kriegsschiff – ließe sich problemlos auch auf Hummerfang gehen. Andere nutzen das Label, um eher ein Gefühl zu verkaufen: die Sehnsucht nach Freiheit, den Traum vom Abenteuer. Und warum auch nicht? Träume sind schließlich da, um verwirklicht zu werden.


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