ReportageNostalgie am Fuße des Jura – Das älteste Dampfboot der Schweiz

Jill Grigoleit

 · 09.09.2024

Das älteste Dampfboot der Schweiz auf der Aare
Foto: Jill Grigoleit
Einst waren sie der Antrieb der industriellen Revolution. Heute ziehen die charmanten Oldtimer mit den dampfenden Schornsteinen und den markanten Pfeiftönen weltweit Liebhaber analoger Technik in ihren Bann. Die Vereinigung Schweizer Dampfbootfreunde zählt 140 Mitglieder und rund 40 Boote. Wir stellen zwei Exemplare vor, die unterschiedlicher kaum sein könnten. Vor der traumhaften Kulisse der Schweizer Juraseen dreht das älteste Schweizer Dampfboot “St. Urs” seine Runden. Seine Geschichte begann vor 135 Jahren in der Schlosswerft in Hamburg Harburg.


Der Duft von Holzfeuer liegt in der Luft. Abgesehen vom leisen Stampfen der ­historischen Dampfmaschine gleitet die „St. Urs“ lautlos durch das türkisgrüne Wasser der Aare. Es ist ein brütend heißer Julitag in Solothurn. Im Wasser und an den Ufern tummeln sich Badende und Wassersportler auf der Suche nach etwas Abkühlung. An Bord des ältesten Dampfboots der Schweiz ist es dank des Kessels noch ein Stück wärmer. Eine Gruppe Jugendlicher treibt auf ihrer Schwimminsel vorbei und fordert den Kapitän per Handzeichen auf, Dampf abzulassen.

Thomas Schmid tut ihnen den Gefallen. Eigentlich ist jeder Zug am Seil „verlorene Energie“, doch das Jubeln der Schaulustigen am Ufer beim Ertönen des markanten Pfeiftons ist es ihm wert und er hat es nicht eilig. Für Dampfbootfahrer ist der Weg das Ziel. Bei einer kurzen Pause am Bootsanleger der Stadt kommen zwei junge Männer mit ihren Foilboards unterm Arm zum Boot und werfen einen interessierten Blick auf die Maschine. Dass auch junge Menschen von dem charmanten Oldtimer mit dem Schornstein und der einfachen und umweltfreundlichen Technik fasziniert sind, erfüllt Schmid sichtlich mit Stolz.

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Faszination Dampfmaschine

Der pensionierte Arzt und seine Frau Antoinette, genannt „Mimi“, sind leidenschaftliche Dampfbootfahrer und Eigner des bis ins kleinste Detail restaurierten Dampfboots „St. Urs“ mit dem edlen königsblauen Rumpf und den goldenen Verzierungen am Bug. Der Anblick der liebevoll gepflegten, glänzenden Mechanik, die einst die industrielle Revolution auslöste, versetzt in längst vergangene Zeiten.

Schmid wirft ein paar Holzbriketts in den Kessel und wenige Sekunden später steigt die Temperaturanzeige auf 350 Grad. Der Druck steigt auf sieben Bar und augenblicklich wird das Boot schneller.

Der Dampf aus dem Kessel gelangt über eine Zuleitung zur Maschine, wo er Kolben, Schaft und Propeller antreibt. Der Unterschied zum Dieselmotor ist, dass es kein Getriebe gibt. Bootsdampfmaschinen sind in der Regel über eine Kupplung direkt mit der Propellerwelle verbunden. Der verbrauchte Dampf wird zu Wasser kondensiert und dann in den Kessel zurückgeführt.

Um unter den teils niedrigen Brücken im Stadtzentrum von Solothurn hindurchzupassen, muss Schmid den Schornstein legen. Am Steuer sitzt seine Frau Mimi. Als ihr Mann vor knapp 40 Jahren auf die Idee kam, ein Dampfboot zu kaufen, war sie sofort dabei. Thomas Schmid war schon immer fasziniert von der Dampfmaschinentechnik. Wie viele seiner Dampfbootkollegen ist er über die Lokomotiven und den Modellbau zum Dampfboot gekommen. „Wir waren schon immer viel auf dem Wasser unterwegs. Die ganze Familie segelt und wir haben auch ein Motorboot auf dem Bielersee. Die Dampfeisenbahn war ein weiteres Hobby von mir. 1985 waren wir auf einer Messe im Technorama in Winterthur. Dort hatte ich zum ersten Mal Kontakt zum Deutschen Dampfbootverein. Und dort ist auch die Idee entstanden, beide Hobbys miteinander zu verbinden. Eigentlich wollte ich aber nur ein Modell-Dampfboot bauen.“

Back to the roots: Nach 90 Jahren zurück auf ihren Heimatgewässern

Gemeinsam mit seinem Bruder wälzte Schmid historische Aufzeichnungen auf der Suche nach einem Dampfboot, das tatsächlich mal auf den Juragewässern unterwegs war. So stießen sie auf die „St. Urs“. „Der Literatur konnten wir entnehmen, dass das Schiff seit 1903 im Besitz einer Möbelfirma am Sarnersee war. Wir riefen an und fragten, ob wir es uns mal anschauen dürften, weil wir es als Modell nachbauen wollten. Aber als wir davorstanden, war uns klar, dass wir das Original haben müssen.“ Doch bis die „St. Urs“ in ihre Heimatgewässer am Fuße des Juragebirges zurückkehren durfte, vergingen noch einige Jahre. Denn der Familienbetrieb weigerte sich zunächst, zu verkaufen.

Der Möbelfabrikant Läubli hatte das Boot nach dem Kauf in ein Elektroboot umgebaut. Seine Fabrik war mit einem Elektrizitätswasserkraftwerk ausgestattet, dessen Nachtstrom für das umgebaute Elektroboot genutzt wurde. Einige Jahre lang chauffierte das zwischenzeitlich in „Volta“ umbenannte Boot Fabrikarbeiter und Güter über den Sarnersee, bis sich der Verkehr auf die immer besser ausgebauten Straßen verlegte. Mehrfach wurde das Boot im Laufe des Jahrhunderts umgebaut. Über 90 Jahre lang befand sich keine Dampfmaschine an Bord – bis Thomas Schmid es Anfang der 90er-Jahre endlich kaufen und auf der Werft der Schifffahrtsgesellschaft des Vierwaldstättersees (SGV) in den Originalzustand zurückversetzen lassen konnte.

Renaissance der Solothurner Dampfbootfreunde

Doch die Geschichte der „St. Urs“ geht noch weiter zurück. 1889 gründete der wohlhabende Stadtrat Ferdinand von Sury den Solothurner Dampfbootclub (SDBC), um die Aareschifffahrt wieder aufleben zu lassen, nachdem diese durch die Konkurrenz der Eisenbahn zum Erliegen gekommen war. Er orderte bei der Dampfboot & Maschinenfabrik R. Holtz in Hamburg-Harburg, auch bekannt als Schlosswerft, ein kleines Dampfboot für 14 Personen und stellte einen Heizer ein. Am 4. Juli 1889 kam die gebürtige Hamburgerin in Solothurn an und wurde von der Presse als „ein nettes kleines Fahrzeug in Schaluppenform“ begrüßt. Benannt ist sie nach dem Schutzpatron der Stadt, dem heiligen Ursus von Solothurn.

Doch der Club hatte nur eine Handvoll Mitglieder und überlebte gerade mal fünf Jahre. Schon 1894 wurde die „St. Urs“ wieder verkauft und zog in die Innerschweiz um, wo sie einige Jahre als Schlepper in einem Steinbruch im Einsatz war, bevor sie 1903 von besagtem Möbelfabrikanten gekauft und zum Elektroboot umgebaut wurde. 100 Jahre später wurde der Solothurner Dampfbootclub von Schmid und Freunden wieder zum Leben erweckt. Zwar ist der Club mit vier Mitgliedern heute ebenso klein wie damals. Doch dank ihm fährt die „St. Urs“ heute wieder mit dem Wimpel des SDBC auf ihrem Heimatfluss, der Aare.

Ein Schatz im Schuhkarton

Doch bevor es so weit war, musste eine neue Dampfmaschine her. Fündig wurde Schmid in England, dem Mutterland der Dampfmaschinen. Die Dampfmaschine an Bord der „St. Urs“ ist aus dem Jahr 1898 und stammt von der Isle of Wight. Ursprünglich wurde sie im Beiboot einer Yacht genutzt. Ende der 40er-Jahre wurde die Maschine in einem Schuppen wieder­entdeckt und in ein Themseschiff eingebaut, wo sie bis in die 90er-Jahre ihren Dienst tat, bis sie von Schmid in die Schweiz geholt wurde, um seiner „St. Urs“ neues Leben einzuhauchen.

„Einer der Nachfahren des Stadtrats von Sury, der die ‚St. Urs‘ in Auftrag gegeben hatte, war ein Schulkollege von mir“, berichtet Schmid. „Eines Tages fand seine Mutter auf dem Dachboden einen Schuhkarton voller alter Fotos und Dokumente zu dem Boot.“ Eine wahre Goldgrube für Schmid: Anhand der historischen Bilder und des Bauplans konnten sie den Ori­ginalzustand bis ins kleinste Detail rekonstruieren.

Behutsam kippt Schmid mit einem goldenen Kännchen Öl in die Maschine. Etwa zehn Kilogramm Holz braucht man pro Stunde, erklärt er. Für eine gemütliche Ausfahrt auf der Aare reicht ein kleiner Eimer. Doch ab und zu fahren sie die Aare rauf zum gemeinsamen Ankern mit ihren Dampfbootfreunden auf dem Bielersee, da braucht es dann schon etwas mehr Holzvorrat auf dem engen Deck.



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