Steile Hänge, abwechselnd mit Wein und dichten Wäldern überzogen, sagenumwobene Burgen, die auf Felsvorsprüngen thronen, und pittoreske Siedlungen, die sich an den schmalen Ufern des Rheins drängen: Das Mittelrheintal zwischen Bingen und Koblenz zieht jährlich Zigtausende Besucher aus aller Welt an. Vom Wasser aus lässt sich die Einzigartigkeit dieser geschichtsträchtigen Region besonders gut erkunden. Seit über zweitausend Jahren ist der Rhein einer der wichtigsten Verkehrswege für den kulturellen Austausch zwischen der Mittelmeerregion und dem Norden Europas. Mal Grenze, mal Brücke der Kulturen, spiegelt das Tal die Geschichte Europas und gilt als Inbegriff der Rheinromantik. Mit der deutschen Romantik wurde der Mittelrhein zum Sehnsuchtsziel. Und auch auf Binnenskipper hat das Revier eine große Anziehungskraft.
Doch vor allem die berühmt-berüchtigte Gebirgsstrecke zwischen dem Bingener Loch und St. Goar ist dabei nicht nur reizvoll, sondern aus Sicht des Skippers auch respekteinflößend. Mit seinen starken Strömungen, den Navigationshindernissen und dem großen Verkehrsaufkommen gehört der 30 Kilometer lange Flussabschnitt noch heute zum Anspruchsvollsten, was die Binnenschifffahrt in Deutschland zu bieten hat. Für die praktische Ausbildung ist dieser Abschnitt, vorbei an der Loreley, deshalb besonders lehrreich. Aus diesem Grund bietet Sarres-Schockemöhle Yachting an mehreren Terminen im Jahr Wochenend-Trainingskurse auf einer Motoryacht an. Im Mittelpunkt der Ausbildungstörns steht das Revier selbst mit seinem einzigartigen Verkehrssteuerungssystem, der sogenannten Lichtwahrschau.
Graue Wolken hängen zwischen den herbstlich bunt gesprenkelten Bergen rund um Lahnstein, als sich die fünf Teilnehmer des Törns an diesem Freitagmittag an Bord der Motoryacht „Julia“ einfinden. Während der Vorbesprechung im Salon der Vacance 1200 prasselt der Regen gegen die Fensterscheiben. Der Vorfreude auf die anstehende Fahrt tut das Wetter aber keinen Abbruch. Die Möglichkeit, dass die Route kurzfristig noch geändert werden muss, ist vom Tisch. Bei zu hohem Rheinpegel hätte man auf die Moselroute ausweichen müssen, nicht annähernd so spannend wie die geplante Gebirgsstrecke. Stattdessen zeichnet sich seit Tagen das Gegenteil ab: Der Rheinpegel ist außergewöhnlich niedrig. Törnleiter Christian Zaloudek stimmt die Teilnehmer auf die daraus resultierenden Anforderungen ein.
Insbesondere bei Niedrigwasser ist das Mittelrheintal eine spannende Reise, weil der Rhein dann seine Felsen und Untiefen zeigt. Der Fels ‚bläckt‘ sagt man dazu.
Der 57-jährige Rheinlotse ist Prüfer für alle möglichen Scheine. Er kennt das Revier wie seine eigene Hosentasche. Heute gibt er sein Wissen an interessierte Skipper weiter, eine gute Vorbereitung und Revierplanung sind dabei essenziell: „Fakt ist, der Rhein verzeiht nicht den kleinsten Fehler. Wir haben hier überall Felsen und Gründe. Schäden am Schiff sind immer gleich massiv.“ Wir wollen dieses Wochenende dafür nutzen, den spannendsten Teil des Rheins kennenzulernen. Dabei ist wichtig zu wissen, wie die Berufsschifffahrt fährt. Flussaufwärts bis St. Goar haben wir noch die Fahrt mit der blauen Tafel, also dass die Bergfahrt die Talfahrt anweisen kann, wo sie zu passieren hat. „Das ist zwar für Sportbootfahrer grundsätzlich nicht bindend, aber in dem engen Fahrgebiet mit niedrigem Wasserstand und viel Verkehr trotzdem empfehlenswert sich daran zu halten“, erklärt Zaloudek. Bis St. Goar gilt „Fahren nach beruflicher Übung“. Der Bergfahrer versucht immer auf der Kurveninnenseite zu fahren. Wechselt er die Fahrwasserseite, setzt er eine Blaue Tafel. Man spricht von Begegnung „Steuerbord an Steuerbord“, wobei der Bergfahrer dem Talfahrer ausreichend Raum lassen muss.
Nach einer Einführung in Pegelberechnung und Begegnungsregeln geht es los. Johanna Brecklinghaus übernimmt als Erste das Steuer. Gemeinsam mit ihrem Mann Anton ist sie jahrelang eher auf den Gewässern rund um Berlin unterwegs gewesen. Seit letztem Jahr haben sie ein Boot in Gelsenkirchen und möchten nun den Rhein erkunden. Kurz nach der Schleuse Lahnstein geht es auch schon von der Lahn auf den Rhein hinaus. Direkt gegenüber der Lahnmündung, am linken Rheinufer – also für uns, die wir „bergauf“ fahren, rechterhand – thront Schloss Stolzenfels, ein beeindruckender Bau der Rheinromantik und ein erster Vorgeschmack auf die vor uns liegende Ansammlung malerischer Ausblicke. Das Mittelrheintal weist die weltweit höchste Dichte an Burgen auf.
Vor uns liegen 30 Kilometer bis zu unserem heutigen Etappenziel St. Goar. Nach knapp anderthalb Stunden Fahrt erkennen wir im Fahrwasser vor uns eine rote Tonne mit grünen Bändern und einem rot-grünen Ball als Toppzeichen – die Fahrrinnenspaltung vor dem Braubacher Grund. Jedes Jahr fahren sich hier rund zehn Sportboote fest, weil sie die Bedeutung dieses seltenen Schifffahrtszeichens nicht kennen. Die Schäden sind wegen des massiven Felsgrundes immer sehr groß. Möglicherweise sind die Bootsführer von der Marksburg am rechten Ufer abgelenkt, die hier auf einem Schieferkegel in 160 Meter Höhe steht. Bei niedrigem Pegel wie heute „bläckt“ der Felsen allerdings deutlich sichtbar. Wir passieren die Stelle unbeschadet und nehmen Kurs auf die erste größere Mittelrheinschleife auf der Schottel.
Ausbilder Christian Zaloudek erinnert daran, wie sich Wasser in Kurven verhält und welche Konsequenz das für die Schifffahrt hat: „Wasser ist träge und nimmt immer den längsten Weg. In der Außenkurve, dem Hang, ist tieferes Wasser, weil der Strom das Geröll mitnimmt. Die Ablagerungen finden sich in der Regel in der Innenkurve, also im Ort. Deshalb müssen wir gucken, dass wir nicht zu weit in den Ort kommen, denn da wird das Wasser flach und auch wir haben 1,10 Meter Tiefgang.“ Ein infolge des Klimawandels immer häufiger auftretendes Problem für die Schifffahrt sind zu geringe Wasserstände, vor allem im Sommer. 2023 wies der Mittelrhein erstmals schon Anfang März nur die Hälfte des üblichen Pegelstandes auf.
Weiter flussaufwärts werden die rebenbesetzten Hänge immer steiler. Dank der verhältnismäßig vielen Sonnenstunden weist die Region ein ähnliches Klima auf wie das französische Burgund. Das wussten schon die Römer für sich zu nutzen und begannen hier mit dem Weinbau. Am Ende des Tages reißt dann auch für uns die Wolkendecke auf und wir erreichen den Rheinfelshafen von St. Goar kurz bevor die Sonne hinter der oberhalb gelegenen Ruine der Burg Rheinfels untergeht. In der Abenddämmerung spiegeln sich die Lichter der beiden hell erleuchteten Burgen Katz und Maus am gegenüberliegenden Ufer im Rhein.
Der zweite Tag des Trainings beginnt mit einer Vorbesprechung. Zaloudek weist darauf hin, dass ab hier Rechtsfahrgebot gelte. Zudem erläutert der Ausbilder, was es mit der sogenannten Lichtwahrschau auf sich hat. Fünf Signalanlagen informieren und steuern auf den folgenden sieben Kilometern den Schiffsverkehr.
Bei der berühmten Loreley liegt der spannendste Teil des Törns vor uns: Hier, wo der Strom sich durch das Felsmassiv des Rheinischen Schiefergebirges windet, bildet er eine besondere Engstelle mit unübersichtlichen Kurven, Untiefen und starken Strömungen. Die zu Tal fahrende Schifffahrt wird mit der Strömung förmlich durch die Strecke geschoben und hat kaum eine Chance, kurzfristig zu reagieren. Durch die Felsbarrieren kurz vor der Loreley wird das vorher noch breite Flussbett auf 145 Meter eingeengt. Bei der Loreley selbst ist der Fluss mit bis zu 25 Metern Tiefe die engste und tiefste Stelle auf seinem gesamten schiffbaren Abschnitt zwischen Basel und Rotterdam.
Bereits Mitte des 19. Jahrhunderts wurden die Kapitäne der Rheinschiffe von Wahrschaustationen per Flaggen vor Gefahren gewarnt. In den Siebzigerjahren wurde auf Lichtsignalanlagen umgerüstet. Doch auch wenn die gefährlichsten Felsen bereits vor Jahrzehnten gesprengt wurden und die Berufsschiffer heutzutage alle mit AIS fahren, ist dieser Abschnitt vor allem bei außergewöhnlichen Wasserständen immer noch mit einem gewissen Risiko verbunden – trotz aller Technik. Die letzte große Havarie fand im Jahr 2011 statt, als das Tankmotorschiff „Waldhof“ in der Talfahrt bei Hochwasser an der Loreley kenterte. Zwei Besatzungsmitglieder verloren damals ihr Leben. Der Rhein war daraufhin über Tage für die Schifffahrt gesperrt.
Dichtern und Geschichtsschreibern war die heimtückische Schönheit des Flusses Inspiration für Sagen und Mythen, wie die der Lore Lay, die die Schiffer mit ihrer Anmut um den Verstand brachte und in den Tod riss.
Bei strahlendem Sonnenschein nähern wir uns der ersten Signalstelle E „An der Bank“ bei Rheinkilometer 555,4. In dem kleinen Häuschen daneben ist ein Museum über die Wahrschauregelung untergebracht. Von den drei Balken der Lichtsignalanlage sind nur die unteren waagerechten Lichtlinien geschaltet. Das bedeutet: In der ersten Teilstrecke befindet sich keine Talfahrt. Abgesehen von Kleinfahrzeugen und Fahrgastschiffen kommen uns bis zur Loreley keine Schiffe entgegen. Doch als wir uns dem legendären Felsen nähern, lugt bereits der Bug eines weiteren langen Fahrzeugs um die Kurve. Die Signalstelle D „Gegenüber der Loreley“ zeigt für die kommenden drei Abschnitte jeweils mindestens einen Talfahrer an. Gespannt beobachtet die am Steuerstand versammelte Gruppe, wie der Entgegenkommer sich ums Eck schiebt. Die beste Aussicht auf die Kurvenmanöver der großen Koppelverbände haben die Camper auf dem Campingplatz gegenüber dem Felsen.
Man kann viel in der Theorie erklären, aber wenn man das dann mit eigenen Augen sieht, wie so ein Verband zu Tal kommt und um die Kurve driftet, dann versteht man erst wirklich, weshalb es auch als Hobbyskipper so wichtig ist, vorher zu wissen, was von vorne kommt.
Weil lange Verbände eben richtig viel Platz brauchen. Und wenn man sich dann für die falsche Seite entschieden habe, könne es auch als kleines Sportboot ganz schön eng werden, so der Ausbilder. Stefan Hebinger aus Deidesheim in der Pfalz nimmt mit seinen beiden Söhnen Silas und Timon am Training teil. Der Rhein war schon immer ihr Revier, aber diesen Abschnitt haben sie bisher noch nicht befahren. Weil sie in der kommenden Saison mit dem eigenen Boot in die Niederlande fahren wollen, wollten sie sich die Strecke vorher einmal von einem Profi zeigen lassen. Der 16-jährige Silas steuert die „Julia“ zumindest äußerlich gelassen durch die enge Passage. Nach der Signalstelle C „Am Betteck“ und der Signalstelle B „Am Kammereck“ folgt eine weitere Fahrrinnenspaltung am Geisenrücken und dann eine weitere Engstelle am Jungferngrund. Vorbei geht es an Untiefen mit lyrischen Namen wie dem Wispergrund (Kilometer 540) und an der Burg Pfalzgrafenstein bei Kaub, einer alten Zollfeste, die bei Kilometer 546 auf einer Felseninsel mitten im Strom gebaut wurde.
Die Revierzentrale an der Signalstelle A „Am Ochsenturm“ markiert das Ende, beziehungsweise flussabwärts den Anfang der Gebirgsstrecke. Ab jetzt wird es wieder beschaulich. Fast schlagartig weitet sich der Fluss am Mäuseturm bei Bingen. Von der an dieser Stelle einmündenden Nahe bekommt der Rhein zusätzlich Wasser und wirft sich nach diesem Trichter mit aller Gewalt in die aus dem Felsen herausgesprengte enge Fahrrinne des Binger Lochs. Entsprechend mühsam ist es hier gerade für schwächer motorisierte Bergfahrer.
Oberhalb des Gebirgszuges staut sich das Wasser zu einer weiten Flusslandschaft mit Auen und flachen Buchten. Vor uns liegt eine ganze Kette von Inseln. Die betonnte Fahrrinne führt mal rechts, mal links, manchmal beidseitig an ihnen vorbei. Ruhige Flächen laden zum Angeln und Baden vor Anker ein, doch ohne genaue Ortskenntnis ist hier Vorsicht geboten. „Wer sicher gehen will, bleibt auch hier lieber in der Fahrrinne“, so Zaloudek. Es ist das passende Fazit zum Abschluss unseres Ausbildungstörns – und zu diesem außergewöhnlichen Revier.