SchwedenTörehamn - Wo die Ostsee im Norden endet

Christian Tiedt

 · 28.09.2024

Der Sportboothafen von Törehamn am nördlichen Ende der Ostsee
Foto: Christian Tiedt
Am Ende der Bottenwiek sinkt die Sonne im Sommer nur kurz unter den Horizont – der Polarkreis liegt gleich um die Ecke. Ein Besuch in Törehamn, dem nördlichsten Hafen der Ostsee.

Marlene, Tommy, Peder und Heidi haben ihre Campingstühle im Halbkreis zur Sonne hin ausgerichtet, die jetzt tief über dem bewaldeten Horizont steht. Über die Bucht, die das innerste Innere des Fjords bildet, wirft die den vier Wartenden ihr goldenes Licht entgegen. Um 23.31 Uhr wird sie heute untergehen und die kurze nordische Nacht herauslocken, hier oben, keine hundert Kilometer südlich des Polarkreises. Nur einen Steinwurf vom äußeren Schwimmsteg entfernt spiegelt sich eine große, gelb gestrichene Spitztonne im glatten Wasser. Ihre knappe, zweizeilige Aufschrift lautet: „N 65°54'07 E 22°39'07“. Hier endet die Ostsee. Törehamn ist ihr nördlichster Hafen.

Die Steganlage, eine Verladepier im Schatten von zwei bulligen Zementsilos, daneben der Campingplatz zwischen Birken, das war es schon. Der Ort dazu liegt mit seinen eintausend Einwohnern ein paar Autominuten entfernt auf der anderen Seite der Europastraße E4, die weiter nach Finnland führt. Niemand außerhalb der Provinz Norrbotten würde Töre kennen, wenn es seinen Hafen nicht hätte. Erst seine Lage machte es zu einem Ziel – zumindest auf der Liste sonderbarer Sehnsuchtsorte an der Ostseeküste.

Deutscher Schlager am Polarkreis

Auf dem Grill zischen derweil die Bratwürste. Musik liegt in der Luft: Sie kommt aus der offenen Tür des Wohnmobils von Peder und Heidi. Leise genug, um nicht zu stören. Doch der federleichte Optimismus der frühen Sechziger ist unverkennbar: „Liebeskummer lohnt sich nicht, my darling!“ Deutscher Schlager im Norden Schwedens, dazu ein dänisches Nummernschild? Während Peder sich um den Grill kümmert und die Mücken zu Siw Malmkvists Stimme in der Luft tanzen, lüftet Heidi das Rätsel: „Das ist die Musik unserer Jugend“, lacht sie. Ganz im Süden Jütlands seien sie aufgewachsen, nahe der Grenze zu Schleswig-Holstein. Am Wochenende lockten dann die Lichter Flensburgs: „Da haben wir uns kennengelernt.“

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Längst im Ruhestand, gehen die beiden nun in jedem Sommer auf Nordland-Tour. „Als wir noch gearbeitet haben, waren wir oft am Limfjord im Urlaub“, erzählt Peder. „Aber Dänemark war damals schon ein bisschen klein und Skandinavien sehr groß. Heute haben wir endlich Zeit dafür.“ Dann verteilt er die fertigen Würstchen auf Pappteller mit Kartoffelsalat. Die Sonne braucht noch ein bisschen.

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Auch im Hafen auf den Sportbooten ist noch längst nicht Feierabend: Eine vierköpfige blonde Familie samt Großeltern, Hund und prallem Picknickkorb läuft auch jetzt noch aus, vielleicht mit Kurs aufs Wochenendhaus. Das junge Pärchen, das seine Uttern mit Schwamm und Schaumwasser schrubbt, will zumindest morgen glänzen. Am Steg nahe der spitzen Tonne schließlich haben zwei Finnen aus Tornio die Segler von der Yacht gegenüber zum Sundowner auf die Flybridge eingeladen.

U-Boote in Sicht!

Der Weg am Ufer führt weiter an der leeren Verladepier entlang über geflickten Asphalt zum seeseitigen Ende des Hafens. Hier herrscht Stille, Grün sprießt aus Rissen im Beton. Zwei Kajütboote auf Trailern wirken im hohen Gras wie vergessen, das eine müde zur Seite geneigt. Unter dem fast wolkenlosen, unwirklich hellen Himmel verliert sich der offene Verlauf des Törefjärds in der Ferne. Friedlicher könnte es kaum sein.

Doch stille Wasser sind bekanntlich tief: Es ist nicht lange her, dass der Kalte Krieg selbst hier im hohen Norden spürbar war. Auch wenn sowohl Finnland wie auch Schweden lange neutral waren, gab man sich für den Fall eines heißen Konflikts keinen Illusionen hin – für den Warschauer Pakt war die militärische Kontrolle des Ostseeraums strategisch schlichtweg zu bedeutend. Die Ereignisse schienen den Schweden in ihrer Einschätzung recht zu geben: Immer wieder streckten die Sowjets ihre Fühler aus, über und unter Wasser.

Unterseeboote der Rotbannerflotte „verirrten“ sich wiederholt in schwedische Hoheitsgewässer. In den Achtzigerjahren wurde eines von ihnen sogar hier im Törefjärden gesichtet. Die Jagd blieb jedoch ergebnislos. An diese Zeit erinnert aber ein heller Holzschuppen nahe dem Hafenbüro: In seinem Inneren ruht die „Spiggen“, ein elf Meter langes, zwölf Tonnen schweres Mini-U-Boot. Gebaut wurde der schwarze stählerne „Stichling“ für die schwedische Marine noch 1990, um bei Manövern den Eindringling zu mimen – genau jene Situation also, die sich ein Jahrzehnt zuvor an dieser Stelle abgespielt hatte.

Die Schatten werden länger

Doch das moderne Museumsstück ist nicht das einzige Relikt kriegerischer Gedankenspiele in dieser Wildnis: Nur wenige Kilometer südlich richten die Geschütze des ehemaligen Siknäs-Forts ihre Rohre noch heute über den Fjord. Als Teil der Kalix-Verteidigungslinie, die Hunderte Bunker und Tausende von Stellungen in der Gegend umfasste, sollte die Küstenartillerie den Zugang zum Hafen schützen. Ihre vier Doppeltürme vom Kaliber 15,2 Zentimeter stammten von einem ausgedienten Panzerkreuzer. Im Wald wurden sie ungefähr zu jener Zeit eingegraben, als Peder und Heidi sich in jungen Jahren an einer ganz anderen Förde zum Tanzen trafen.

Die Sonne ist untergegangen, doch merklich dunkler wird es nicht. Der helle Himmel der Weißen Nacht strahlt weiterhin über Törehamn. Zumindest im Hafen hat die Nachtruhe begonnen. Die Finnen auf ihrer Flybridge waren die Letzten. Nur die vier aus Dänemark sitzen noch immer draußen zwischen ihren Wohnmobilen. Dazu, im Flüsterton von früher: „Schuld war nur der Bossa Nova ...“

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