Nach dem kräftigen Gewitter in der Nacht spiegelt sich am nächsten Morgen schon wieder der blaue Himmel in den Pfützen auf der Pier. Heute stört kein Hauch die perfekte Seeoberfläche. Keine Chance also für die Segler und Kiter vom Vortag. Zum Glück haben wir zumindest den Fahrtwind – und das zu den Seiten geöffnete Verdeck gegen die Sonne.
Bald ist das Südende des Sees erreicht. Doch diesmal lassen wir Le Landeron an Steuerbord und fahren in den Zihlkanal ein. 1885 als Teil der bereits erwähnten Gewässerregulierung fertiggestellt, verbindet er den Bieler See mit dem weitaus größeren Neuenburgersee.
Linker Hand liegt noch der Kanton Bern, rechts nun Neuenburg – oder besser Neuchâtel. Für die Länge des Kanals von rund acht Kilometern folgen wir damit der Sprachgrenze. Die wird in der Deutschschweiz auch „Röstigraben“ genannt. Zum Kanal passt das allemal. Früher ging diese Trennlinie auch mit ausgeprägten politischen und kulturellen Unterschieden einher. Inzwischen hat aber der auch hier immer stärker ausgeprägte Gegensatz zwischen Stadt und Land diese Rolle übernommen. So oder so, mit dem Ende der sehr grünen Wasserstraße (abgesehen vom staubigen Betonwerk in La Tène) endet die Zweisprachigkeit erst einmal wieder: Bis auf eine kleine Ecke wird an den Ufern des Neuenburgersees wieder Französisch gesprochen.
Lange Molen geleiten uns nun auf den Lac de Neuchâtel hinaus (auch wenn wir in der Folge der Einfachheit halber bei seinem schweizerdeutschen Namen bleiben). Vor unserem Bug ist das südliche Ende des Sees, immerhin knapp 37 Kilometer entfernt, im Dunst verborgen. Bis zu unserem Tagesziel, dem Weinort Cortaillod beträgt die Distanz allerdings weniger als die Hälfte. Dafür lassen wir die Kantonshauptstadt Neuchâtel selbst aus, die sich jetzt an Steuerbord am Ufer entlang und die Hänge hinaufzieht. Architektur hatten wir gestern in Biel, mittelalterliche und moderne, und heute steht dafür Natur auf dem Programm. Die wirkt schon jetzt.
Es scheint, als hätten wir den spiegelglatten See für uns. Also machen wir das einzig Sinnvolle – und lassen uns treiben, ganz wortwörtlich: aufstoppen, Badeleiter ausklappen und ab ins Wasser!
Cortaillod hat einen hübschen Hafen mit wellenförmig geschwungener Außenmole, auf deren Innenseite Gäste längsseits festmachen können. Die capitainerie ist schon verwaist, es ist zwar erst Anfang September aber dem Kalender nach bereits Nachsaison. Das Liegegeld von 20 Franken (12 par bateau, 8 par électricité) deponieren wir wie gewünscht im Umschlag. Zu Petit Cortaillod, dem Ortsteil direkt am Wasser, gehört noch ein Campingplatz mit Sonnenwiese, Kiesstrand und – wie überall am See – Badebucht. Kunstgalerie und Weinhandel komplettieren das Ensemble. Auf der Terrasse des Restaurants „De Pilotis“ werden wir uns am Abend wiederfinden.
Der eigentliche Ort liegt etwas oberhalb am Hang, und damit nicht nur an der ausgeschilderten Route du Vignoble, der „Weinstraße“, sondern auch umgeben von Anbaugebiet. Kein Wunder, dass auch Cortaillod seine eigene Herkunftsbezeichnung hat, die Appellation d’Origine Contrôlée. Überall an den Rebstöcken funkeln die reifen Trauben in der Sonne. Chasselas heißt die wichtigste der weißen Sorten hier. Bei den roten ist es Pinot noir.
Ein paar Stunden sind wir unterwegs, vom Lauf des Flusses Areuse (Namensgeberin unserer Linssen) bis mitten in die Weinberge hinein und immer höher hinauf. Ein Aussichtspunkt breitet sein Panorama für uns aus: die grünen Kämme des Jura in unserem Rücken, der See vor uns und jenseits davon, weit am Horizont in blassem Blau: die Alpen. Vom Eiger an einem Ende über die Weiße Frau und das Wildhorn bis hin zum Mont Blanc.
Wer käme bei diesem Ausblick auf die Idee, dass ausgerechnet dieses Fleckchen Erde einmal preußisch war? Genau genommen waren es sogar 150 Jahre, von 1707 bis 1857. In dieser Zeit herrschten die Hohenzollern (mit kurzem napoleonischen Intermezzo) in Personalunion über das Fürstentum Neuenburg – obwohl das Territorium zugleich bereits auch Teil der Eidgenossenschaft war. Der zumindest in jungen Jahren freidenkende und äußerst frankophile „Alte Fritz“ dürfte dennoch angetan gewesen sein von der Existenz seiner französisch sprechenden Untertanen. Doch von Dauer war die Verbindung nicht: Im Revolutionsjahr 1848 wurde auch in Neuchâtel die Republik ausgerufen.
Der preußische Adler hielt dennoch an seinem Titel fest – und drohte schließlich sogar mit Krieg. Da dieser Plan bei den übrigen gekrönten Häuptern Europas aber auf wenig Gegenliebe stieß, ließ sich Friedrich Wilhelm IV. im Vertrag von Paris schließlich auf den sogenannten Neuenburgerhandel ein: Er verzichtete auf seinen Herrschaftsanspruch, behielt jedoch den Titel. Vive la République et Canton de Neuchâtel! Bis heute.
Am nächsten Morgen ist noch Zeit für ein Bad am Strand von Cortaillod, denn weit haben wir es nicht an diesem Tag: Kaum zehn Kilometer müssen wir in südlicher Richtung über den See zurücklegen, bis unsere Stahlyacht die Hafeneinfahrt von Estavayer-le-Lac am östlichen Ufer erreicht hat. Der Himmel ist blau wie eh und je, auch wenn inzwischen ein leichter Hauch von Westen weht.
Schon von Weitem ist das Wahrzeichen der Kleinstadt zu erkennen: die imposante Silhouette von Schloss Chenaux. Wir laufen in den großen Sportboothafen mit seiner Allee aus langen Schwimmstegen ein. Für Gäste sind die Außenseiten ihrer Kopfstege reserviert. Wir haben fast freie Wahl, nur ein Platz ist bislang von einer Nimbus belegt. Den freundlichen Hafenmeister finden wir beim Turm der capitainerie, wo er beim Auswassern einiger Jetskis hilft. Keine Eile! Er will später mit seinem Boot bei uns am Steg vorbeischauen.
Oder vielleicht auch morgen. Das Städtchen, dessen Stadtkern als Kulisse für jeden mittelalterlichen Film dienen könnte, liegt zum Teil auf dem Uferstreifen, zum Teil am oberen Rand des anschließenden Plateaus. Statt Filmkomparsen in Waffenröcken bevölkern allerdings Touristen die Gassen um die Kollegiatskirche Saint-Laurent, und am Aussichtspunkt am Place de Moudon recken sie Selfiesticks statt Schwerter in den Himmel. Wie schon in Neuchâtel gegenüber war auch hier im Kanton Fribourg (oder Freiburg) die Geschichte nicht immer ganz unkompliziert. Ein prächtiges Beispiel ist dafür in mehrfacher Hinsicht Schloss Chenaux, eine bestens erhaltene Höhenburg, die gegen Ende des dreizehnten Jahrhunderts vom herrschenden Geschlecht der Estavayer errichtet wurde.
In der folgenden Zeit wechselten ihre Herren immer wieder, Gebiete wurden vereint, geteilt, gekauft oder auch blutig erstritten. Um ausgerechnet die eigene Bevölkerung zu beeindrucken – oder einzuschüchtern – richtete Humbert von Savoyen den um 1435 begonnenen mächtigen Bergfried auf die Stadt selbst aus. In den Burgunderkriegen vierzig Jahre später wurde Estavayer schließlich von den Freiburger Eidgenossen erobert. Verwaltungssitz ist es bis heute, auch, weil es längst sehr viel ziviler zugeht als anno dazumal.
Nur eine halbe Stunde später ist all das schon wieder weit weg – gefühlt zumindest. Inzwischen sitzen wir nämlich in zwei Liegestühlen der „FMR Lounge Bar“ (Motto: Les pieds dans l’eau – die Füße im Wasser), einmal mehr direkt am See. Die Burg noch im Blick, mussten wir uns die begehrten Plätze zum Glück nicht erkämpfen. Wir haben sie „geerbt“; von zwei Frauen, die auf SUP-Tour eine Pause eingelegt hatten, nun aber wieder auf dem Board stehen.