SeenotrettungDie neue 8,4-Meter-Klasse der DGzRS zeigt, was sie kann

Jill Grigoleit

 · 23.10.2024

Seenotrettung: Die neue 8,4-Meter-Klasse der DGzRS zeigt, was sie kannFoto: Ben Scheurer
Die neue 8,4-Meter-Klasse ist mit einem 425 PS starken Jetantrieb ausgestattet
Seit Dezember 2023 ist das erste Seenotrettungsboot der neuen 8,4-Meter-Klasse mitsamt neuem Zugfahrzeug und Spezialtrailer auf dem Darß im Einsatz. Das besondere Rettungsgespann ist den geografischen Gegebenheiten auf dem Fischland optimal angepasst und kommt sowohl auf der Ostsee als auch auf dem Bodden zum Einsatz.

Unter Vollgas hält die „Knut Olaf Kolbe“ auf das Ufer zu. Im letzten Moment legt Vormann Conrad Buchholz einen „Crash Stop“ hin. Das Boot taucht kurz mit dem Bug ein und kommt augenblicklich zum Stehen. Von 35 auf 0 Knoten in einer Sekunde. Die Wucht, die bei einem solchen Manöver in der Kabine zu erwarten wäre, bleibt aus. Buchholz, der als Kapitän eines Kreuzfahrtschiffs sonst nicht in den Genuss solcher Manöver kommt, grinst: „Das macht schon Spaß. Hier auf dem ruhigeren Boddengewässer kann das Boot zeigen, was es kann.“ Die „Knut Olaf Kolbe“ ist das erste Seenotrettungsboot der neuen 8,4-Meter-Klasse der Deutschen Gesellschaft zur Rettung Schiffbrüchiger (DGzRS). Der propellerlose, mit 425 PS starkem Jetantrieb ausgestattete Bootstyp soll nach und nach die 7-Meter-Klasse ersetzen. Zukünftig sollen auch die Stationen in Zingst und Zinnowitz auf Usedom mit diesem neuen Typen ausgestattet werden.

Ein starkes Gespann für ein besonderes Einsatzgebiet

Seit Ende letzten Jahres ist es an der Freiwilligen-Station in Wustrow im Einsatz. Sie liegt an der schmalsten Stelle der Halbinsel Fischland und stellt aufgrund der geographischen Lage besondere Anforderungen an Besatzung und Rettungseinheit: Denn die Wustrower Seenotretter fahren sowohl Einsätze auf der offenen Ostsee als auch auf den rückwärtigen Boddengewässern.

„Auf der einen Seite haben wir die Ostsee mit der Kadetrinne, einem der schwierigsten und gefährlichsten Seegebiete der Ostsee und mit rund 63 000 Durchfahrten pro Jahr einen der am stärksten befahrenen Seewege Europas“ erzählt Buchholz. „Hier arbeiten wir eng mit den Seenotrettungskreuzern „Nis Randers“, der am neuen Inselhafen Prerow stationiert ist, und der „Arcona“ aus Warnemünde zusammen. Vor allem wenn es darum geht, Havaristen abzuschleppen. Häufig sind wir zuerst vor Ort, sichern, leisten erste Hilfe und übergeben dann an die großen Kreuzer, die dann die havarierten Boote nach Warnemünde oder zukünftig nach Prerow schleppen. Und auf der anderen Seite haben wir den Bodden, der mit seinem flachen Gewässer auch kein einfaches Fahrgebiet ist.“

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Welche Kriterien die 8,4-Meter-Klasse auszeichnet

Genau dafür wurde die „Knut Olaf Kolbe“ von Arctic Airboats in Finnland in enger Zusammenarbeit mit den Seenotrettern konstruiert. Fünf Jahre bevor der Prototyp des neuen Seenotrettungsboots, damals noch unter der Bezeichnung SRB 85, zum Einsatz kam, gab es die ersten Überlegungen, welchen Herausforderungen die neue Klasse gewachsen sein muss. Das Einsatzgebiet erfordert besondere Mobilität. Denn das Boot liegt nicht, wie an vielen anderen Stationen, bereits mehr oder weniger einsatzbereit an einem Hafen, sondern muss schnell vom Rettungsschuppen im Ortskern Wustrows zum einen über den Deich an den Strand gebracht und zum anderen über den Landweg zum Boddenhafen transportiert werden.

Wir brauchen ein Boot, das auch im flachen Gewässer funktioniert und problemlos auf den Strand fahren kann.“

“Wir brauchen ein Boot, das auch im flachen Gewässer funktioniert und problemlos auf den Strand fahren kann”, erläutert Conrad Buchholz. Die 8,4-Meter-Klasse hat gerade mal 60 Zentimeter Tiefgang und wie alle Rettungseinheiten der DGzRS verfügt sie über einen hochfesten Aluminiumrumpf. Sie kann bei jedem Wetter eingesetzt werden, zeichnet sich durch hohe Seetüchtigkeit aus und übersteht heftige Grundstöße und -berührungen.

Das "Beachen": Per kippbarem Spezialtrailer wird die "Knut Olaf Kolbe" in die Ostsee geslippt
Foto: Ben Scheurer

Mit dem Traktor in die Ostsee

Da das neue Boot allerdings größer und schwerer als sein Vorgänger ist, wurde ein neuer Spezialtrailer mit einer dritten Achse nötig, der ebenfalls mehr Gewicht mit sich brachte. Tests am Strand, bei denen das zusätzliche Gewicht mit Betonplatten simuliert wurde, ergaben zu Beginn der Konstruktionsphase, dass das damalige Zugfahrzeug, ein Unimog, nicht mehr in der Lage gewesen wäre, Boot und Trailer durch den Sand zu ziehen. Also musste auch ein neues Zugfahrzeug her.

Die „Knut Olaf Kolbe“ wird von einem extra für den maritimen Einsatzzweck umgebauten Traktor des Typs John Deere 6R 230 gezogen. Für die besonderen Anforderungen am Strand wurde der 9,5 Tonnen schwere Traktor „watfähig“ gemacht. Bis auf einen Meter Tiefe kann er mit dem 280 PS starken Sechszylindermotor in das Ostseewasser fahren. Und dank des Spezialtrailers funktioniert das „Beachen“ im wahrsten Sinne des Wortes reibungslos: Das Gespann fährt rückwärts ins Wasser, dann wird der Trailer gekippt und das Boot rutscht auf Rollen ins Wasser. Es wieder zurück auf den Trailer zu bekommen, ist schon etwas kniffliger. Dann nämlich muss das Boot, ausgestattet mit einem Wasserstrahlantrieb, der von einem Cummins-Innenborder angetrieben wird, mit hoher Geschwindigkeit auf den Strand fahren, anschließend mit einer starken Seilwinde gedreht und wieder auf den Trailer hinaufgezogen werden.

“Im Grunde sind wir eine der wenigen Stationen, die das noch sehr traditionell machen, dass wir das Boot am Strand ins Wasser lassen“, erklärt Vormann Conrad Buchholz. „Nur dass heute eben Traktor und Trailer anstatt Pferdegespanne zum Einsatz kommen.“

Die Wiege der deutschen Seenotrettung liegt auf dem Darß

Die Rettungsstation in Wustrow gehört zu den ältesten an der deutschen Ostseeküste. Bereits 1847, 18 Jahre vor der Gründung der DGzRS, entstand hier die erste Seenotrettungsstation im Großherzogtum Mecklenburg-Schwerin. Über die Jahrzehnte entwickelte sich das Seegebiet zwischen Rostock und Stralsund, und vor allem die Halbinsel Fischland-Darß, zu einem beliebten Touristenziel, die Freizeitschifffahrt nahm zu. Deshalb wurden in Wustrow und Zingst zwei der insgesamt drei mobilen Einheiten der DGzRS eingerichtet, welche gewässerübergreifend eingesetzt werden können (Die dritte befindet sich in Zinnowitz/Usedom).

Der historische Rettungsschuppen im Ortskern von Wustrow: von hier aus geht es entweder über den Deich zum Ostseestrand oder über Land zum rückwärtigen Bodden
Foto: Ben Scheurer

Wenn das beeindruckende Gespann den historischen Rettungsschuppen von 1905 verlässt, ist das Zentimeterarbeit zu allen Seiten. Wenn die Besatzung – wie heute – nur eine Übungsfahrt geplant hat, ist das kein Problem. Doch wenn ein Notruf eingeht, zählt manchmal jede Minute. Deshalb ist es so wichtig, dass jeder Handgriff sitzt. Nachdem das neue Rettungsboot im Dezember 2023 in Dienst gestellt wurde, fuhr die Besatzung deshalb auch im tiefsten Winter fast jedes Wochenende zum Üben raus, damit sich jedes Besatzungsmitglied mit dem neuen Boot und den Abläufen vertraut machen konnte.

Turnusmäßige Modernisierung der Rettungsflotte

Nötig wurde die Neuanschaffung, weil der Vorgänger, das 7-Meter-Rettungsboot „Barsch“ in die Jahre gekommen war. Bei der DGzRS gilt die Formel „60-30-2“: Es gibt 60 Einheiten, die in der Regel 30 Jahre im Dienst sind. Das bedeutet, dass es zwei Neubauten pro Jahr geben muss, um mit der Erneuerung der Flotte hinterher zu kommen.

Jörg Westphal, Dienstältester der Station in Wustrow erinnert sich an einige Herausforderungen, die der Neubau mit sich brachte: „Eigentlich war unser altes Zugfahrzeug, der Unimog, praktikabler als der neue Traktor, da mit ihm die komplette Mannschaft transportiert werden konnte. Wir brauchten nur einen Fahrer für den Unimog. Jetzt brauchen wir neben dem Traktorfahrer noch einen extra Fahrer für den Pickup, der angeschafft werden musste, um die Mannschaft in ihren Schutzanzügen zum Einsatz zu fahren.“ Mittlerweile hat sich das 18-köpfige Team der freiwilligen Seenotretter aber gut eingespielt. Sie leben und arbeiten im Umfeld der Station, sind nach Alarmierung innerhalb weniger Minuten am Rettungsschuppen, besetzen Zugfahrzeug und Mannschaftstransportwagen und fahren zum Einsatz aus.

Die Seenotrettung in die Wiege gelegt

Eine von ihnen ist Sandra Priebe, Krankenschwester, bei der Freiwilligen Feuerwehr und seit 2018 offizielles Besatzungsmitglied. Inoffiziell ist sie schon ihr ganzes Leben Teil der „Seenotretterfamilie“. Ihr Vater war 25 Jahre Vormann der Station in Wustrow. Sie war es, die den Vorgänger „Barsch“ damals 1993 taufen durfte. Die Seenotrettung wurde ihr sozusagen in die Wiege gelegt. „Wenn die roten Raketen flogen und das Signal kam, sind wir Kinder immer hinterhergerannt und haben zugeschaut.“ Und so ist es nicht verwunderlich, dass neben ihr auch ihre Schwester und ihr Sohn Teil der Besatzung sind. Als es dann für ihren lieb gewonnenen „Barsch“ mitsamt dem Unimog U2150L letztes Jahr in den wohlverdienten Ruhestand ins Unimog-Museum Gaggenau in Baden-Württemberg ging, blieb kaum ein Auge trocken. „Das war schon emotional. Wir sind ja mit dem „Barsch“ aufgewachsen. Und er hat bis zuletzt treue Dienste geleistet.“

Sandra Priebe ist mit den Seenotrettern aufgewachsenFoto: Ben ScheurerSandra Priebe ist mit den Seenotrettern aufgewachsen

Doch trotz aller Sentimentalität: Als die „Knut Olaf Kolbe“ da war, überwog die Freude über die neue Technik. „Das ist schon ein deutlicher Unterschied in der Fahrweise“ berichtet Priebe. „Der „Barsch“ war sehr kippelig. Da musste man schon genau auf die Lastenverteilung gucken. Da konnten nicht zwei schwere Leute links und zwei leichte Leute rechts sitzen. Und solche Manöver wie wir sie jetzt mit dem neuen Boot machen, wären mit dem „Barsch“ nicht möglich gewesen.

Die 8,4-Meter-Klasse ist nicht nur schneller, sondern auch wesentlich wendiger, manövrierfähiger und stabiler“

Wenn die „Knut Olaf Kolbe“ mit Vollgas durch die Wellen des Saaler Boddens pflügt, spürt man in der Kabine dank der Abfederung der Sitze kaum etwas von den Stößen, die auf den Rumpf wirken.

Die "Knut Olaf Kolbe" in Aktion: schnell, manövrierfährig und stabil
Foto: Ben Scheurer

Die Basis der Seenotrettung: Kameradschaft und Wertschätzung

Der Bodden ist an vielen Stellen sehr flach. Die meisten der rund 40 Einsätze pro Jahr fahren die Wustrower wegen „Festfahrern“. Sie schleppen ab oder leisten technische Hilfeleistung. Immer häufiger aber retten sie auch entkräftete Kiter. Vorbereitet sind die regelmäßig auch medizinisch geschulten Seenotretter auf alle möglichen Fälle. Wenn der Notruf über die Rettungsleitstelle See (Maritime Rescue Co-ordination Centre, MRCC) in Bremen eingeht, weiß die Besatzung häufig noch nicht, was auf sie zukommt. Ein Sucheinsatz auf der Ostsee kann mitunter Stunden dauern und an den Nerven zerren. Doch jeder Einzelne von ihnen ist mit Leidenschaft dabei.

Mehr als ein loser Verbund Freiwilliger: Das 18-köpige Team der Wustrower Seenotretter ist für viele wie eine zweite Familie
Foto: Ben Scheurer

Ein Blick in den Gemeinschaftsraum der Rettungsstation reicht aus, um zu erkennen, dass es sich hier um mehr als einen losen Verband Freiwilliger handelt. An der Decke baumeln Bierkrüge, beschriftet mit dem Namen und dem Jahr der Aufnahme eines jeden Mitglieds. An der Wand hängen Portraits ehemaliger Mitglieder. Seit seinen Anfängen 1987 habe sich vieles verändert, erinnert sich Jörg Westphal. „Gerade nach der Wende, als die DGzRS wieder übernahm und wir mit neuer Technik, Rettungswesten und Überlebensanzügen ausgestattet wurden. Vieles läuft heute natürlich ganz anders. Was aber immer geblieben ist, ist die Kameradschaft.“

Die meisten Seenotretter sind Freiwillige und nach wie vor wird ihre Arbeit und auch die dafür notwendige Technik ausschließlich durch freiwillige Zuwendungen ermöglicht. Der Neubau der „Knut Olaf Kolbe“ wurde möglich, weil ein Ehepaar aus Hannover in ihrem Testament verfügt hatte, dass ein erheblicher Teil ihres Nachlasses an die DGzRS gespendet wird. Auch diese Wertschätzung sei es, so Conrad Buchholz, die immer wieder motiviert, dabei zu bleiben: „Es ist immer wieder berührend, wenn jemand unsere Arbeit unterstützt und durch seine Spende dazu beiträgt, dass wir Menschen in Seenot helfen können.“


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