Erich Bogadtke
· 30.03.2021
Klappt doch prima: Wenn’s im Cockpit zu eng wird, drücken Sie einfach aufs Knöpfchen. Ein neuer Trend schafft Platz und Komfort: Klappbare Bordwände
Würden Sie heute ein neues Boot ohne Badeplattform kaufen? Geht doch gar nicht. Oder? Was früher aus Edelstahlrohren und Teakholz gefertigt wie ein Maßanzug nur im Zubehörhandel zu haben war, gehört heute in die Rumpfform integriert (fast) überall zum Standard. Stand anno 1990: Wer in den Achtziger- und Neunzigerjahren auf seinem sportlichen Kajütboot der 8-Meter-Klasse eine Mittelkabine haben wollte, musste lange suchen. Erfolgreich war er so gut wie nie. Heute heißen die Dinger Family-Cruiser und haben neben dem zweiten Schlafzimmer unter dem Cockpit eine Küche und ein Bad. Serienmäßig versteht sich. Fazit: Die Zeiten ändern sich.
Ob klappbare Bordwände und Badeplattformen, die sich per Knopfdruck in Balkone, Pool-Bars oder Sprungbretter verwandeln, irgendwann zum "Das musst du haben" werden oder unter dem Stichwort "Es war einmal" sehr schnell in den Archiven verschwinden, wer weiß das schon? Heute stehen sie, das ist Fakt, bei Designern und Werften hoch im Kurs. Man tut, was man kann. Oder anders gesagt, was König Kunde will.
Trendsetter war Tilli Antonellis 2011 vorgestellte Wider 42. Wer den Gründer und Chef von Pershing kennt, weiß, dass es bei Tilli immer schnell gehen muss. Jedenfalls auf dem Wasser. Vielleicht sorgen deshalb bei der Premiere der zu 70 Prozent aus Carbon gebauten Wider nicht Fulvio de Simonis Design, die Arneson-Surface-Drives, der von Rennsport-Spezi Mark Wilson gezeichnete Stufenrumpf oder der Topspeed von 50 kn für Furore, sondern das Cockpit. Der eher schlanke (3,50 m) "Wellnessbereich" verwandelt sich per Knopfdruck in gerade mal zwölf Sekunden in eine 6,60 m breite "Veranda". Da staunt selbst der gestandene Fachmann.
Kaum zu glauben, aber es vergehen tatsächlich sechs Jahre, bis Antonellis Winner 42 einen Nachahmer findet. Ein Fingertippen auf dem Tablet genügt, und die Evo 43 WA macht sich richtig breit. Das heißt, die Cockpitseitenwände verschieben sich um 1,80 m nach außen. Der gleiche Aufwand reicht aus, um die Heckwand in eine Badelandschaft zu verwandeln, Sprungbrett inklusive. Übrigens, Valerio Rivellini bezeichnet das von ihm geschaffene Designkonzept als minimalistisch. Die Bootswelt ist dennoch beeindruckt. So beeindruckt, dass die "Verwandlungskünstler" 2020 immer häufiger in der Bestsellerliste der Werften und Händler auftauchen.
Dass mit dem Erfolg auch die Kritik zunimmt, liegt in der Natur der Dinge. So kann sich BOOTE-Chefkritiker Manfred Welkamer mit dem kompromisslosen Designkonzept der Wally Tender 43, bei der sich das Cockpit in eine Terrasse verwandelt, nicht anfreunden. Ihm fehlt Bewegungssicherheit. Da sitzt oder liegt der Wally-Eigner dann ohne jeden Halt in einem völlig offenen Cockpit. Sieht cool aus, schreibt er in seiner Meckerecke, aber nur bis die erste richtige Welle kommt und die entspannte Gesellschaft inklusive Tisch und Stühlen baden geht. Kurzum, für Manni sind die Dinger gut für nix.
BOOTE-Leser Carsten Scherf findet diese Konstruktionen dagegen äußerst gelungen. Schwimmen, Tauchen, Angeln und das Gummi-Boot vom Junior zu Wasser lassen, für ihn wird damit alles deutlich einfacher. Seine Philosophie: "Bekannte Türen öffnen keine neuen Wege." Sein Fazit: Wenn innovative Bootsdesigner nicht immer wieder neue Wege gehen und etwas wagen würden, gäbe es in der "Architektur" schon bald nichts Neues mehr.
Etwas weniger spektakulär, aber sicher nicht weniger effektiv sind die Lösungen der Designer der Azimut Verve 47 und Pardo Endurance. Beide gestalten lediglich die Bordwände klappbar und schaffen so Raum für zwei Balkone. Gründe für die Zurückhaltung sind das ohnehin große Platzangebot auf der Fly (Pardo) und im Bug-Cockpit (Azimut). Was mit der neuen Flexibilität machbar ist, zeigt Galeons Transformer Range. Die "Umformer-Baureihe" (400, 460, 500 und 640 Fly) der polnischen Yachtbauer kann auf Wunsch mit Beach- und/oder Carousel-Paket ausgestattet werden. Darin enthalten sind klappbare Bordwände, die sich als "Stellplatz" für zwei bequeme Hocker in eine Bar mit Blick aufs Meer verwandeln, eine drehbare Hecksitzbank, der fast schon obligatorische BBQ-Grill und eine absenkbare Badeplattform, die per Kopfdruck zum Tender-Lift mutiert.
Wer jetzt glaubt, klappbare Bordwände sind nur etwas für die "Großen", der irrt. Beneteaus "nur" 8,27 m lange Flyer 9 beweist das Gegenteil. Flexibel und made in France ist auch die Cap Camarat 12.5 WA von Jeanneau. Designer Patrice Sarrazin will dem neuen Flaggschiff der Walkaround-Baureihe den klappbaren "Balkon" nicht vorenthalten. Sein Kollege Christian Grande ist derweil noch großzügiger und spendiert der zweieinhalb Meter längeren (14,27 m) Invictus TT 460 aus Bella Italia den beweglichen "Balkon" gleich im Doppelpack.
Egal ob als Solisten oder im Duett, die klappbaren Bordwände sorgen in der Branche in jedem Fall für reichlich Diskussionsstoff. Für die Befürworter sind sie die perfekte Lösung, wenn es im Cockpit einmal zu eng wird. Sie schaffen Platz und sind der ideale Aus- und Einstieg für Schwimmer, Taucher, Surfer & Co. Die Fraktion der Kritiker sieht fehlende Bewegungssicherheit, Aufpreis, das Gewicht und die Störanfälligkeit der Technik. Wer mehr Platz will, soll sich ein größeres Boot kaufen, argumentiert man hinter vorgehaltener Hand. Wie auch immer, auffällig ist, dass es wieder einmal in der Mehrzahl die italienischen Designer und Yachtbauer sind, die Innovationen wie diese kreieren und vorantreiben. Mögen sie sinnvoll sein oder nicht. In Deutschland setzt man (Bavaria Yachtbau und HanseYachts AG) derzeit auf "Standfestigkeit" (siehe Kommentare). Soll heißen, klappbare Bordwände made in Germany sind kein Thema. Bleibt abzuwarten, was in Zukunft passiert. Die Zeiten ändern sich.
Dr. Jens Gerhardt, CEO der HanseYachts AG:
Wir sehen die technische Entwicklung zum Teil kritisch. Wenn es um Fahrhilfen geht, die Navigation oder das Anlegen vereinfachen, sind wir voll mit dabei. Technik ist sinnvoll, wenn sie den Verbrauch verringert oder den Komfort erhöht. Ganz besonders natürlich, wenn die Sicherheit verbessert wird. Wo wir kritisch nachdenken, ist, wenn genau das Gegenteil der Fall ist.
Auch wir haben bei Fjord und Sealine in Cockpit und Salon elektrisch bewegliche Möbel. Das sind voll ausgereifte Gadgets (praktische Gerätschaften; Anm. d. Red.), die das Leben an Bord luxuriöser gestalten und den Spaßfaktor erhöhen. Beim Thema Sicherheit hört der Spaß aber bei uns auf, weshalb wir von ausklappbaren Bordwänden etc. bisher abgesehen haben. Diese Gadgets treiben den Preis in die Höhe, sind störungsanfällig und machen das Boot unnötig schwer, was auch den Spritverbrauch erhöht. Die vermeintlichen Vorteile, wie zum Beispiel mehr Sicht auf das Meer und Zugang zum Wasser, sind zudem recht dünn. Ein Boot muss in erster Linie robust und sicher sein. Bei zu hohen Wellen und Windstärken sollte man vernünftigerweise im Hafen bleiben – das gehört zur guten Seemannschaft. Aber manchmal erwischt es einen doch draußen, und dann wünschen wir uns doch alle eine extra Portion Sicherheit. Wer solche Tage auf See erlebt hat, will sicher keine bewegliche Bordwand mehr.
Michael Müller, CEO bei Bavaria Yachtbau:
Wir beobachten die großen Trends in der Branche sehr genau und binden unsere Händler schon in der frühen Phase des Produktdesigns mit ein. So gelingt es uns, langfristige Trends zu identifizieren. Die Kunden erwarten von Bavaria gute Funktionalität und ausgereifte, solide Produkte. Das Leben an Deck spielt natürlich auch für unsere Kunden eine enorm wichtige, wenn nicht die wichtigste Rolle. Daher verwenden wir viel Zeit in das Design und Konzept des Außenbereichs, um möglichst viele Social Areas zu schaffen, die zur Bavaria-DNA passen. Seien es fixe Elemente oder flexible Lösungen. Bei unserem letzten Modell der Bavaria SR41 sieht man dies wieder besonders gut.
Udo A. Hafner, Designer und Geschäftsführer der iYacht GmbH:
"Balkone" stehen nicht nur für die Erweiterung nutzbarer Flächen, sondern bieten auch einen Mehrwert an Funktion. Man erhält neue Sichtachsen und gleichzeitig ein neues Raumgefühl an Bord. Zulieferer und Werften kümmern sich immer öfter um innovative Lösungen, da sie einen Wettbewerbsvorteil bedeuten. Das Angebot der Regel- und Automatisierungstechnik aus der Industrie sowie zukunftsweisende Werkstoffe bilden die Grundlage. Ich glaube, man wird in Zukunft noch viel mehr dieser tollen Lösungen auch bei kleinen Sportbooten finden.