Von Architektur bis InterieurDie Designphilosophie von Antonio Citterio und Patricia Viel

Boote Exclusiv

 · 19.01.2025

Kreatives Duo: Patricia Viel und Antonio Citterio in den Räumen ihres gemeinsamen  Büros in Mailand.
Foto: Mybosswas
Sie finden auch mit leisen Tönen stets Gehör. Das Mailänder Büro „ACPV ARCHITECTS Antonio Citterio Patricia Viel“ verbindet Architektur, Design und Interieur. Dabei kreiert es Räume, die sich so gut anfühlen wie ein perfekter Kaschmirpullover. Das gilt für Projekte an Land wie auf See.

Ein Text Norman Kietzmann

Interieurs sind mehr als eine Ansammlung von Möbeln. Die Objekte fügen sich wie Teile eines begehbaren Puzzles zusammen. Als Ensemble entsenden sie eine Botschaft, eine Haltung, die über die Summe der Einzelteile hinausgeht. Worauf es dabei ankommt? „Wir haben eine ruhige, aufgeräumte Umgebung im Sinn, die verständlich ist und Freude bereitet, wenn sie genutzt und gelebt wird“, sagt die Architektin und Innenarchitektin Patricia Viel. Ein Zuhause ist für sie kein gekünstelter Ort, der nur für die Kamera funktioniert. Es geht um den täglichen Gebrauch. „Für uns basiert die Auswahl der Materialien in erster Linie auf der Fähigkeit, auf natürliche Weise zu altern. So nehmen sie eine Patina an, die gut erhalten bleibt“, erklärt die Mailänderin. Dabei sind Klarheit und Ehrlichkeit entscheidend. „Wir bedecken keine Oberflächen mit zusätzlichen Beschichtungen. Die Materialien sollen möglichst pur zum Einsatz kommen, damit sie ihre Identität herausstellen, statt sie zu verbergen“, betont Patricia Viel.

Worum es ihr geht? „Über die visuelle Komponente hinauszugehen und ebenso die haptische und klangliche Dimension der Wahrnehmung einzubeziehen“, so die 62-Jährige. Gestaltung ist für sie kein Selbstzweck. Im Interieur soll man sich wohlfühlen. Und das bedeutet, mit den Dingen des Alltags auf Tuchfühlung zu gehen. „Es ist sehr wichtig, dass die Umgebung, in der man lebt, mit der Zeit etwas von einem selbst wird. Es ist wie mit einem schönen Kaschmirpullover. Er nimmt die Form des Körpers an, die Art und Weise, wie man sich bewegt.

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Das Gleiche gilt für eine Umgebung, die so gestaltet ist, dass wir sie benutzen können, ohne Angst zu haben, etwas zu beschädigen. Die Nutzung steht im Vordergrund, nicht nur das Aussehen“, sagt die Mailänderin, die am dortigen Polytechnikum studierte. 1986 begann sie als Projektmanagerin für den Architekten Antonio Citterio zu arbeiten. Im Jahr 2000 gründeten sie das gemeinsame Büro „ACPV ARCHITECTS Antonio Citterio Patricia Viel“ in Mailand, das heute rund 190 Mitarbeiter und elf Partner zählt. Das Gros ist im Firmensitz an der Via Cerva tätig, einem puristischen wie anmutigen Gebäude im Herzen der lombardischen Hauptstadt, das selbstredend von innen wie außen von seinen Nutzern selbst geplant wurde.

Holistischer Gestaltungsanspruch

Die Bandbreite des Studios umfasst Stadtplanung, Architektur, Interieur und Design. Ein Sprung vom ganz großen in den kleinen Maßstab, um ganzheitliche Lösungen zu schaffen. Das gilt auf dem Land wie auf dem Wasser. So entwarfen die Mailänder unter anderem die Inneneinrichtungen für eine Sanlorenzo 460 EXP (2017) sowie für die Navetta 30, Navetta 38 und die Custom Line 50.

„Wenn man auf einem Boot ist, fühlt man sich frei. Aber man weiß, dass sich das Wetter ändern und der Wind auffrischen kann. Darum versuchen wir, ein Interieur zu schaffen, bei dem man stets eine Wahrnehmung davon hat, was an Bord passiert“, erklärt Patricia Viel. Materialauswahl, Farben und Stil sind konsistent, damit nicht der Eindruck entsteht, das Hauptdeck wäre an einem ganz anderen Ort als das Unterdeck. „Wir wollen die Kontinuität des Raums durch alle Ebenen von innen nach außen, um wirklich das Gefühl zu geben, dass man das Boot beherrscht“, so die Architektin.

Antonio Citterio und Patricia Viel schaffen Räume mit einem Gefühl von Weite

Die Yacht-Projekte profitieren vom Wissen, das sich das Büro an Land erarbeitet hat. Und doch gibt es große Unterschiede. „Wir verstehen wirklich nicht, wieso bei vielen 08/15-Booten das Sofa in eine Rückwand eingebaut ist. Erstens ist das Interieur nicht mehr veränderbar, und zweitens verliert man völlig die Wahrnehmung des nautischen Raums. Wir glauben, dass die Inneneinrichtung eines Bootes beweglich und neu konfigurierbar sein sollte“, sagt Patricia Viel. Sitzmöbel und Beistelltische können ihre Position variieren. Sie sind losgelöst von der Wand, wie es bei Inneneinrichtungen von Häusern oder Apartments üblich ist. Ganz anders verhält es sich mit der Aufbewahrung. „Wir arbeiten viel mit begehbaren Kleiderschränken oder unsichtbar in Wände eingelassenen Ablageflächen. So können wir viel Abstand zwischen den freistehenden Möbeln schaffen, um einen zugestellten Raumeindruck zu vermeiden und stattdessen ein Gefühl von Weite zu vermitteln“, betont Patricia Viel.

Sie plant die Yachtprojekte zusammen mit Chiara Massarani, die als Senior Project Director für das Büro tätig ist und eine besondere Sensibilität für das Leben auf See gefunden hat. Dabei kommt es immer häufiger zum Sprung zwischen den Projekten. „Ich habe heute mit Chiara ein Apartment in Shen­zhen entworfen. Wir verwenden das Kopfteil eines Bettes und einen Beistelltisch, den wir ursprünglich für ein Boot konzipiert haben. Es sind nicht 1:1 dieselben Produkte. Aber das Konzept ist identisch. Denn es handelt sich um einen Nebenraum, der auf kleinster Fläche Privatsphäre schaffen muss – mit allen Einrichtungsdingen, die man um das Bett herum benötigt. Also genau das, was man für ein Boot braucht“, erklärt Patricia Viel. Der Transfer geht noch weiter: „Wir eignen uns in der Architektur ständig Kenntnisse über neue Materialien an, die wir aufgrund ihres geringen Gewichts gut für Boote nutzen können.

Umgekehrt muss man bei einer Yacht in der Lage sein, Teile für Wartungszwecke zu demontieren. Dieser Ansatz ist hilfreich für die Planung von Gebäuden. Wir müssen immer häufiger darüber nachdenken, was passiert, wenn sich die Nutzung eines Hauses verändert.“ Was die Innenausstattung einer Yacht zeitgemäß macht? „Einfachheit. Irgendwie war es früher so, dass die Designerwartungen in Richtung Überladenheit tendierten, was wirklich abseits jedes Geschmacks lag. Heute hat sich der Trend völlig geändert. Viele neue Boote vermitteln einen Sinn für Qualität“, ist Patricia Viel überzeugt.

Ode an die Selbstverständlichkeit

Es geht darum, eine Sprache zu finden, die nicht exaltiert erscheint, sondern in sich ruhend. Das sieht ihr Büropartner genauso. „Für mich sind angenehme Formen mit Normalität verbunden. Sie wirken nicht erzwungen. Darum wollen wir den Dingen eine alltägliche, angemessene und selbstverständliche Erscheinung geben“, sagt Antonio Citterio. Bereits 1972 hat er sein erstes Büro gegründet und sich auf Design spezialisiert, bevor er 1982 ebenso in die Architektur überging.

Bis heute liegt ein Großteil der Produktgestaltung in seinen Händen. Was Entwürfe wie den Bürodrehstuhl „T-Chair“ (1994) für Vitra, das Sofa „Groundpiece“ (2001) für Flexform, das Bett „Alcova“ (2003) für Maxalto, den „Re-Chair“ (2020) für Kartell oder das Outdoor-Programm „Esosoft“ (2024) für Cassina vereint: Innovation wird nicht nach außen gestellt, sondern in eine vertraute und beinahe unscheinbare Erscheinung inte­griert. Die Möbel bilden keine Fremdkörper in ihrer Umgebung, sondern fügen sich subtil in sie ein.

Antonio Citterio und Patricia Viel arbeiten an Projekten von Italien bis rund um den Globus

Ganzheitliche Erfahrungen zu schaffen, gelingt nicht nur an Bord einer Yacht, sondern ebenso an Land. 2002 entwerfen die Architekten den Firmensitz für den Sportgerätehersteller Technogym sowie in den Folgejahren den Großteil aller Produkte. Für den Herrenschneider Zegna entsteht 2000 ein Flag­shipstore in Los Angeles sowie 2008 die neue Firmenzentrale in Mailand. Aus der Feder des Büros stammen sämtliche Bulgari Hotels. Nach Mailand (2004) und Bali (2006) wurde 2023 die achte Dependance in Tokio eröffnet. Patricia Viel und Antonio Citterio stellen auch hier unter Beweis, wie mit einer leisen, puristischen Sprache Räume entstehen, die in Erinnerung bleiben.

Zu den aktuellen Projekten gehört „The Plaza“ – der 2023 fertiggestellte Umbau eines öffentlichen Platzes an der Avenue of the Americas in New York City. Eine große Treppe verbindet das Straßenniveau mit einer tieferen Ebene, die Flächen für Gastronomie, Einzelhandel sowie einen U-Bahn-Zugang bietet. In St. Moritz plant das Büro einen neuen Gebäudeflügel für das historische „Badrutt’s Palace Hotel“. In Taiwan sind zwei Großprojekte im Bau: Das 280-Meter-Hochhaus „The Sky Taipei“ mit zwei Hotels und das „Capella Kenting Resort“ an der Südspitze Taiwans. Die Gäste können zukünftig in sechzig privaten Villen residieren. Architektur und Interieur bilden einen zurückhaltenden und dennoch stilvollen Rahmen, um die Schönheit der Natur zu genießen – ein Punkt, den Patricia Viel auf ihr eigenes Zuhause überträgt.

„Meine Wohnung ist in einen Schlaf- und Wohnbereich unterteilt. Ich vermeide Türen und Durchgänge, um das Interieur nicht in kleinere Flächen aufzugliedern. Denn ich mag die Weite, den leeren Raum“, erklärt die Architektin. Dieser Anspruch führt natürlich zum Konflikt: „Man braucht im Alltag viele Dinge – und die müssen versteckt werden. Daher gibt es Nebenräume, in denen sich alles befindet: Sie bilden eine akustische Trennung zwischen dem, wo ich schlafe, und dem, wo ich nicht schlafe“, sagt Patricia Viel. Es klingt wie eine Hommage an die Ryokans im traditionellen Japan, wo in fast leeren Räumen alles Störende hinter verschiebbaren Papierwänden verschwand. Man könnte auch sagen: Es ist wie der Leitfaden für das Yachtdesign des Mailänder Büros: Sich von den Wänden zu emanzipieren und sie zugleich als nützliche Helfer zu aktivieren. Die großen und die kleinen Dinge – sie fließen alle ineinander.


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