ReportageSeenotretter – Das schwimmende Klassenzimmer

Jill Grigoleit

 · 30.12.2022

Die Deutsche Gesellschaft zur Rettung Schiffbrüchiger (DGzRS) ist für den maritimen Such- und Rettungsdienst auf deutschen Gewässern zuständig
Foto: Philip Gätz
Ausbildung der Seenotretter auf der “Carlo Schneider”

Mehr als 800 ehrenamtliche Seenotretter sind auf Nord- und Ostsee in ständiger Bereitschaft. Nicht alle haben seemännische Vorerfahrung. Auf dem Übungsschiff „Carlo Schneider“ trainieren sie den Ernstfall und werden für ihre teils lebensrettenden Einsätze ausgebildet

Exercise, exercise, exercise, this is ,Carlo Schneider‘, we have a total black out“, tönt es aus dem Funkgerät der „Gerhard Elsner“, dem klassischen 10,1-Meter-Seenotrettungsboot der Deutschen Gesellschaft zur Rettung Schiffbrüchiger. Normalerweise ist die Crew der „Elsner“ auf der Freiwilligen-Station Schilksee stationiert. Heute ist sie in Olpenitz, um den Ernstfall zu proben. Denn die „Carlo Schneider“, das Übungsschiff der Seenotretter, ist zu Besuch.

Auf ihrer Tour entlang der deutschen Nord- und Ostseeküste hat die mobile Trainingseinheit seit ihrer Inbetriebnahme vor einem Jahr bereits an 27 Seenotretter-Stationen Halt gemacht und etlichen Freiwilligen die Möglichkeit geboten, ihre Fähigkeiten vor Ort, in ihrem Revier, zu erweitern. „Der Seenotrettungsdienst setzt lebenslanges Lernen voraus“, weiß Trainer Thomas Baumgärtel, der an Bord der „Carlo Schneider“ soeben den Übungsnotruf abgesetzt hat. „Sobald ich denke, ich weiß und kann alles, wird es gefährlich.“ Der 56-Jährige gehört zur 14-tägig wechselnden Besatzung der Seenotretter-Trainingsflotte. Immer im Dreierteam sind er und seine Kollegen auf der „Carlo Schneider“ unterwegs von einer Station zur nächsten, um die Freiwilligen dezentral fortzubilden.

Ehrenamtlich tätige Seenotretter erhalten ihre such- und rettungsdienstspezifische Ausbildung in ihrer Freizeit. Bisher wurden sie hauptsächlich im Trainingszentrum in Neustadt und in Bremen geschult. Seit gut einem Jahr aber hat die Seenotretter-Akademie nun mit der „Carlo Schneider“ ihr „schwimmendes Klassenzimmer“. Oder wie Thomas Baumgärtel sie liebevoll nennt: „unseren Wanderzirkus“. „Das ist für unsere rund 800 Freiwilligen ein riesiger Vorteil, wenn wir zu ihnen nach Hause kommen. Zum einen müssen sie sich nicht extra freinehmen und anreisen, und zum anderen üben sie in ihrem Revier, wo sie ja im Ernstfall auch rausfahren.“

Jedes Schleppmanöver ist anders

Das Abschleppen havarierter Boote gehört zu den Klassikern im Portfolio der Seenotretter. Routine, könnte man meinen. Doch jedes Schleppmanöver ist anders. Und heute nimmt die „Elsner“ einen ganz besonders dicken Fisch an den Haken. Denn die „Carlo Schneider“ wird selbst zum Havaristen. Die Trainees sollen erfahren, wie sich ein rund 110 Tonnen schwerer 22-Meter-Stahlverdränger im Schleppverbund verhält. David gegen Goliath sozusagen. Wie wirkt sich die Masse beim Längsseitsgehen und Manövrieren aus? „Das ist reine Physik“, so Baumgärtel, der das Manöver vorher mit den Trainees an einem Modell durchgegangen ist. Für die theoretische Ausbildung steht auf der „Carlo Schneider“ ein moderner Schulungsraum zur Verfügung. „Aber nichts schult so gut wie das eigene Erfahren dieser Kräfte, wenn man am Steuer sitzt und die Grenzen selbst austestet.“

Die erste Schleppübung findet im spiegelglatten Hafenbecken des Ostseeresorts Olpenitz statt. Der großräumige ehemalige Militärhafen bietet die idealen Voraussetzungen für Übungsmanöver mit einem Schleppverbund dieser Größenordnung. Nach ein paar Versuchen schaffen die Trainees es schließlich, die „Carlo Schneider“ sicher durch die Pfähle hindurch zu bugsieren und mit ihr anzulegen. „Zum Üben sind solche ruhigen Bedingungen perfekt“, erklärt Baumgärtel. „Man könnte ja meinen, dass es besser sei, wenn unsere Trainees unter widrigen Bedingungen lernen. Aber es geht darum, dass sie die Abläufe verinnerlichen und auch gerne Fehler machen, damit sie dann im Ernstfall auch bei hohem Seegang funktionieren.“

Viele Havaristen sind überfordert und verängstigt

Am nächsten Tag ist die See bei auffrischendem Nordwestwind der Windstärke 4 bis 5 etwas kabbeliger. Es geht raus aus dem Hafen, um die Leinenübergabe bei Wellengang, das Schleppen an der langen Leine und nicht zuletzt die Kommunikation mit dem Havaristen zu proben. „Man darf die Psychologie des Moments nie außer Acht lassen“, erklärt Baumgärtel. „Viele Havaristen sind überfordert und verängstigt. Manche so verwirrt, dass sie nicht mal mehr Steuerbord von Backbord unterscheiden können. Es kommt schon mal vor, dass die Wurfleine festgemacht wird, anstatt daran zu ziehen, bis die eigentliche Schleppleine kommt. Im besten Fall sind sie ja im Gegensatz zu uns auch das erste Mal in einer solchen Situation. Unsere Aufgabe ist es, Ruhe und Sicherheit auszustrahlen und ihnen genaue und klare Anweisungen zu geben.“

Timo Görgens, Bootsführer an Bord der „Gerhard Elsner“, übernimmt die Kommunikation mit der „Carlo Schneider“: „ ,Elsner‘ – ,Schneider‘. Verstanden, Sie sind manövrierunfähig. Wir sind auf dem Weg zu Ihnen. Bitte halten Sie eine Person zum Entgegennehmen der Wurfleine auf dem Vorschiff bereit. Sind Sie sachkundig im Einsatz eines Schleppankers?“

Keiner kann alles können

Im „wahren Leben“ baut Timo Görgens Forschungsapparaturen in einer feinmechanischen Werkstatt an der Uni Kiel. Seit acht Jahren ist der 41-Jährige in seiner Freizeit für die Seenotretter im Einsatz und fährt raus, wenn andere reinkommen. Wie bei der Freiwilligen Feuerwehr wird er alarmiert, wenn draußen auf See jemand Hilfe benötigt. Und dann geht es für ihn und seine Kollegen raus, zu jeder Tages- und Nachtzeit und bei jedem Wetter.

In den meisten Fällen werden sie gerufen, um technische Hilfe zu leisten und abzuschleppen. Doch im Sommer sind es nicht selten auch entkräftete Kiter und Schwimmer, die abgetrieben wurden. Trotz seiner langjährigen Erfahrung ist Timo dankbar für die Möglichkeit zu trainieren: „Keiner kann alles können. Mein Eindruck von den zwei Tagen bis jetzt ist wirklich, dass mich das weiterbringt. Das ist eine tolle Möglichkeit, im sicheren Rahmen Erfahrungen zu sammeln. Ein 110-Tonnen-Schiff ist kein alltäglicher Havarist für uns. Die Gelegenheit wollte ich mir nicht entgehen lassen.“

Ein gezielter Wurf, und eine Minute später ist die „Carlo Schneider “ am Haken

Die Leinenübergabe läuft problemlos. Ein gezielter Wurf, und eine Minute später ist die „Carlo Schneider“ am Haken. Timo gibt Gas und spürt sofort: Das Gewicht bringt die kleine Rettungseinheit an ihre Leistungsgrenze. Der Spaß an der Übung ist Timo anzusehen. „Der Plan ist, die „Carlo“ im Schlepp auf der Kiellinie aufgebaut zu kriegen und sie dann an der langen Leine in den Hafen zu bugsieren. Und wenn wir dann Platz haben, können wir sie längsseits nehmen und mit ihr anlegen.“

Ein manövrierunfähiges Boot ist ein Klassiker. Die Gefahr, die von einem unkontrolliert umhertreibenden Schiff ausgeht, ist nicht zu unterschätzen. Doch es gibt auch noch sehr viel dramatischere Einsätze, zu denen die Seenotretter gerufen werden. Mensch über Bord, Brand im Maschinenraum, Wassereinbruch – manchmal geht es um Leben und Tod, und dann zählt jede Sekunde. Und die Einsatzzahlen steigen mit zunehmendem Seeverkehr und immer größeren Schiffen. Deshalb ist es essenziell, dass die Seenotretter auf jedwede Situation so gut wie möglich vorbereitet sind und im Training bleiben.

Die DGzRS ist die einzige Seenotretter-Organisation weltweit, die ein speziell für den Ausbildungszweck gebautes Schiff zur Verfügung hat

Wegen Corona war das Training auf der „Carlo Schneider“ bisher auf kleinere Teilnehmerrunden von drei bis vier Freiwilligen und ohne Übernachtung an Bord beschränkt. Ausgelegt ist das Schiff aber darauf, dass neben den drei Stammbesatzungsmitgliedern acht Trainees an Bord untergebracht werden. Geplant sind ab nächstem Jahr längere Trainingsfahrten, auf denen verschiedene Szenarien durchgespielt werden sollen. Bisher standen vor allem Grundlagen wie Sicherheit, Seemannschaft, Schleppen und Manövrieren auf dem Stundenplan. Sind 2023 alle Stationen einmal angefahren worden, geht es weiter mit der technischen Navigation wie der Radarausbildung an den Trainingskonsolen. Es gibt die Möglichkeit zur Simulation von „Fahren unter verminderter Sicht“. Geübt werden sollen außerdem Kollisions- und Begegnungsfahrten und die Abbergung Verletzter aus Schiffsinnenräumen. Eine Nebelmaschine und eine sogenannte Büchse der Pandora, die unter anderem Schreie verletzter Personen simuliert, erzeugen dabei realitätsnahe Stresssituationen.

Das komplette Schiff wurde so geplant und gebaut, dass man hier alles lernen kann, was es zur Seenotrettung zu lernen gibt. Bis hin zur Entscheidung, welche Motoren eingebaut werden sollten: Das elf Knoten laufende Schiff wird von zwei Cummins-Motoren angetrieben. Eigentlich sind die Maschinen zu klein für ein Schiff dieser Größenordnung. Doch der Kreuzer wurde eben nicht für echte Einsätze gebaut, sondern für das Training. Ganz bewusst wurden hier deshalb die gleichen Maschinen eingebaut, die die Besatzungen von ihren 10,1-Meter Seenotrettungsbooten kennen. So können sie hier auch technisch aus- und fortgebildet werden.

Kaum etwas dient mehr der Sicherheit als eine gute Ausbildung

Damit ist die DGzRS die einzige Seenotretter-Organisation weltweit, die so ein speziell für den Ausbildungszweck gebautes Schiff zur Verfügung hat. Für die Ausbilder der Seenotretter-Akademie ist mit der „Carlo Schneider“ ein lang gehegter Wunsch in Erfüllung gegangen. Denn der Bedarf, Freiwillige auszubilden, ist über die Jahre gestiegen. „Früher konnte man mehr auf fertige Seeleute zurückgreifen“, erzählt Baumgärtel. „Heute gibt es immer weniger Leute in Deutschland, die aus der Seefahrt kommen und die entsprechende Erfahrung mitbringen. Es ist schön, wenn die Freiwilligen schon Kenntnisse mitbringen, aber Voraussetzung ist das nicht. Wer Zeit und Lust hat, sich bei den Seenotrettern zu engagieren, den bilden wir auch von Grund auf aus. Und genau dafür wurde dieses Schiff gebaut.“

Einmal im Jahr trainieren die Seenotretter in Wilhelmshaven den Ernstfall im großen Stil

Benannt wurde es nach dem Schweizer Carl-Erich August Schneider (1924–2017), dessen Nachlass den Bau möglich gemacht hatte. Testamentarisch hatte er zur Auflage gemacht, dass das Geld dazu eingesetzt werden soll, die Sicherheit der Besatzungen zu erhöhen. „Und kaum etwas dient mehr der Sicherheit als eine gute Ausbildung“, ist Baumgärtel überzeugt. Der gelernte Maschinenbauer ist aus Familientradition schon früh in der Seefahrt gelandet. Sein Studium hat er sich mit Charterfahrten und Überführungen finanziert, später betrieb er auch zeitweise eine eigene Segelschule. Vor über 20 Jahren ist er bei den Seenotrettern gelandet und seit 2006 als Festangestellter für die Gesellschaft tätig. Dass er jetzt mit seinem „Wanderzirkus“ unterwegs sein darf, freut Thomas Baumgärtel besonders. „Man kommt rum und lernt ständig neue Leute kennen. Mehr Abwechslung geht nicht.“

Ein Highlight im Jahr, das auch auf dem Tourplan der „Carlo Schneider“ steht, ist die SAREx (Search and Rescue Exercise) in Wilhelmshaven. Einmal im Jahr trainieren die Seenotretter hier im großen Stil den Ernstfall. Bei der groß angelegten Übung sind neben mehreren Rettungseinheiten auch Such- und Rettungshubschrauber der Marineflieger und Fahrzeuge der Bundespolizei und des Zolls dabei. Hinzu kommen Havaristen- und Verletztendarsteller. Nach dem Spektakel geht es für die „Carlo Schneider“ weiter entlang der Küste. Als Nächstes läuft sie die Stationen in Damp, Gelting Mole, Langballig, Laboe und Schilksee an. Für Thomas Baumgärtel gibt es keinen besseren Job. Hier kommt alles zusammen, was er liebt: Schiffe, die See, anderen helfen und sein Wissen weitergeben: „Und wie heißt es doch so schön? Wenn man für das, was man liebt, bezahlt wird, muss man nie wieder arbeiten.“


Die Seenotretter

In Deutschland ist die Seenotrettung nicht staatlich organisiert. Die Zuständigkeit für den maritimen Suchund Rettungsdienst in deutschen Gewässern liegt in den Händen der 1865 gegründeten und rein spendenfinanzierten Deutschen Gesellschaft zur Rettung Schiffbrüchiger (DGzRS). Rund 1000 Besatzungsmitglieder sind an Bord der 60 Rettungseinheiten an 55 Stationen von Borkum bis Ueckermünde im Einsatz. Mehr als 800 von ihnen ehrenamtlich. Rund 180 fest angestellte Kräfte mit nautischem oder technischem Patent besetzen die 20 großen Rettungskreuzer. Immer für 14 Tage sind sie rund um die Uhr an den Stationen in Bereitschaft. 2021 sind die Seenotretter 2023 Einsätze gefahren – durchschnittlich fünf pro Tag – und haben dabei 3505 Menschen auf Nord- und Ostsee geholfen und 61 Menschen in Seenot das Leben gerettet.


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