Friedrich W. Pohl
· 13.05.2023
Drei MAN-Aggregate wirken auf zwei Jets und einen Booster. Diese Kraft setzt die 30 Meter lange AB 100 in über 50 Knoten um. Verwandelt das Speed-„Gespenst“ „Spectre“ die Küste vor Cannes in eine Geisterbahn?
Höchstgeschwindigkeit: 54 Knoten. Das neue Produkt der italienischen Werft AB Yachts aus Massa fühlt sich allein optisch schon an, als ob wir die 54 Knoten vor Cannes erreichen könnten. Die Designer der neuen Konstruktion AB 100, Mitarbeiter der Werft auf halbem Wege zwischen La Spezia und Viareggio, haben diesen schnellen Gleiter bereits äußerlich in gefährlich wirkende metallisierende Grautöne verpackt. Rumpf und Aufbauten schimmern im Port von Cannes, als ob sie gleich abheben wollten. Schon in der Box macht die AB 100 optisch gute 30 Knoten. Was wohl erst passiert, wenn wir diesen maskulinen grauen Panther draußen von der Leine lassen?
Die AB 100 ist jedenfalls auf dem Sprung. Das Versprechen der gut 50 Knoten gründet sich auf einem Paket aus drei MAN-Zwölfzylindern, deren Leistung von zusammen genau 4191 Kilowatt durch zwei Jets und einen Jet-Booster ins Wasser sprudelt und dort schäumenden Vortrieb liefert. Die praktische Seite von Jets: Sie eignen sich bestens für flaches Wasser. Per Umkehrschub stoppen sie die bewegten Massen verlässlich auf einer Bootslänge (!) ab.
Dass der Rumpf den enormen Druck des Wasserwiderstands aushält, garantiert erstens die schnelle Form und zweitens die mit Kohlefasern verstärkte GFK-Konstruktion. Die Architektur, so heißt es bei AB, orientiere sich an Erkenntnissen aus dem Flugzeug- und leichtem zeitgenössischen Automobilbau. Das reduziert metropolitane Interior in Lounge-Manier passt dazu. Dieses Kombipaket aus Konstruktion, Styling und Interior stammt komplett aus Massa in der Provinz Massa-Carrara. Carrara? Außer dem Speisetisch entdecken wir keine gewichtigen Marmorelemente an Bord. Das hauseigene AB-100-Konzept scheint bestens aufeinander abgestimmt zu sein. Diese AB 100 trägt den Namen „Spectre“, zu Deutsch Geist oder Gespenst. Ob sie die Küste vor Cannes in eine Geisterbahn verwandeln wird?
Bei einer ersten Begehung des Hauptdecks entdecken wir auf dem Vorschiff ein U-Sofa mit Tisch und davor eine Liegewiese. Die geöffnete Heckklappe zur Garage verwandelt die geräumige Badeplattform mit schnellen Handgriffen und zwei Sesselchen in einen Beachclub, wie er auf einem 30-Meter-Format nicht so häufig vorkommt. Auf dem Sundeck erlaubt eine komplette Flybridgeausstattung die Kontrolle aller Fahrtmanöver.
Vor einigen Monaten fuhren wir die AB 145, gut 44 Meter lang. Deren Freidecks hat die Werft mit einem diagonalen Muster nach Art eines Parkettbodens belegt. So hat sie es auch auf der AB 100 gehalten. Das wirkt ungewöhnlich und dynamisch. Die Beobachter und Amateure im Hafenrund können daran leider nicht teilhaben. Wir fangen ihre Blicke aber auch aus größerer Entfernung ein. Dank der schlanken Manövrierbarkeit mit den Jets erreichen wir die freie See schneller als gedacht.
Geschwindigkeiten sind auf See schwer einzuschätzen, lassen sich aber messen. Die direkte Wahrnehmung der Beschleunigung hat uns hier am geschützten Steuerstand auf dem Hauptdeck längst verlassen. 20, 25 und 30 Knoten wechseln jedoch blitzschnell auf der Speedanzeige. Die Jets grollen auffallend leise. Der Booster des grauen Panthers beißt kräftig zu, brüllt aber nicht.
Diese Sektion für den Rudergänger liegt vorn im großen Raum auf dem Hauptdeck. Die Interior-Designer von AB haben ihn in die Bereiche Ruderstand, Speiseplatz und Sitzgruppe unterteilt. Steuerbords neben den Monitoren führt ein Niedergang aufs Unterdeck mit den Kabinen für Eigner, VIPs und Gäste. Direkt vor der ersten Stufe öffnet sich eine Tür in die Galley, also nicht allzu weit vom Speisetisch entfernt. Davor nächtigt die vierköpfige Crew in zwei Kabinen.
Das Gefühl für die Geschwindigkeit kehrt blitzschnell auf der Flybridge zurück. 49,5 Knoten auf 30 Metern fühlen sich fast atemberaubend an. Mehr ist heute nicht drin. Sales-Manager Rudolf Berglehner erklärt die Differenz zu den möglichen 54 Knoten:
Diese Yacht reagiert extrem auf Gewicht und Bewuchs. Bis zu 78 Tonnen garantieren wir die 54 Knoten, das allerdings nur bei komplett glattem Rumpf.“
Jetzt, zum Ende der Saison, sei der Rumpf bewachsen, vielleicht liege man auch gerade über den 78 Tonnen. „Eine Tonne zusätzlich“, so Berglehner, „kostet zwei Knoten Speed.“
Die Eigner jedenfalls scheinen mit „Spectre“ höchst zufrieden. Im Juli und August 2016 liefen die Motoren insgesamt 280 Stunden. Von der Werft aus wurde ganz Italien, dann Kroatien und Montenegro befahren, im Anschluss noch Sardinien.
Mit einer Yacht wie „Spectre“ können Ferien ganz neue Dimensionen bekommen. Im Cruising-Modus dürsten die MANs allerdings nach 700 Liter/Stunde.
Dieser Artikel erschien in der BOOTE EXCLUSIV-Ausgabe 02/2017 und wurde von der Redaktion im Mai 2023 überarbeitet.