Christian Sauer
· 13.07.2024
Der Verzicht auf Wow-Effekte mutet in Zeiten immer neuer Superlative und futuristischer Formensprache mit immer größeren Pools schon wieder exklusiv an. Zumal wenn der Fokus statt auf „ornamentierter Fassade“ auf einem ganzheitlichen, mithilfe der Wissenschaft und Erfahrung verwobenen Kunstwerk liegt. Für dieses nicht minder komplexe Ansinnen eines US-Amerikaners, der nach zwei Jahrzehnten auf Charteryachten genaue Vorstellungen für seine erste eigene Yacht gesammelt hatte, schien Philippe Briand mit seinem Vitruvius-Studio in London prädestiniert zu sein.
Ob der erfolgreiche Bauunternehmer während seiner Urlaubstörns auch Zeit an Bord der 73-Meter-Picchiotti „Nautilus“ (Ex-„Grace E“) verbrachte, ist nicht überliefert. Es liegt allerdings nahe, denn ganz offensichtlich haben ihm die klaren und schlanken Linien von Briand sowie das Konzept einer wellnessorientierten Yacht mit gelegentlichen Chartereinsätzen angetan. Mit dieser Wunschkombination wandte er sich an den Franzosen, und der begeisterte Segler lieferte für die aktive Familie genau das, wofür er so sehr geschätzt wird.
Da wäre zum einen der äußerst effiziente, vergleichsweise schlanke Stahlrumpf mit nur elf Metern Breite sowie drei Metern Tiefgang und zum anderen die auf ihm ruhenden, niedrigen Aluaufbauten mit 330 Quadratmeter großen Außenflächen. „Ich halte die Wasserlinie immer so lang wie möglich“, verweist Briand auf die 1194 Gross Tons der 65 Meter und erläutert: „Je länger sie ist, desto weniger Kraftstoff wird verbraucht, da der Rumpf mit viel weniger Widerstand durch das Wasser gleitet.“ Nach seiner Philosophie ist das Design unterhalb der Wasserlinie nicht von dem darüber zu trennen, sondern als Einheit zu betrachten. Für den Verzicht auf ein weiteres Deck liefert „Alchemy“ zusätzlich zum niedrigeren Schwerpunkt einen ästhetischen Grund: „Die Silhouette strahlt Ruhe aus, und die Linien drücken die Essenz dessen aus, woran ich glaube. Perfektion existiert nur, wenn es nichts mehr gibt, auf das verzichtet werden könnte.“ Erst nach der Entscheidung für Briand und sein Vitruvius-Konzept stand die Wahl einer geeigneten Werft an.
Neben europäischer Qualität und Innovationskraft war dem angehenden Eigner die Aufgeschlossenheit für Anregungen und Verbesserungsvorschläge seinerseits sehr wichtig. Das fand er zusammen mit seinen Vertretern Fabrizio Loi (Interyachting LLC) und Mike Worthington-Lees (Winterbothams Ltd.) bei Rossinavi vor. Zudem hatte das Familienunternehmen durch „Endeavour 2“ schon Erfahrung mit dieselelektrischen Podantrieben gesammelt. Im Gegensatz zu den 50 Metern lieferte diesmal nicht Rolls-Royce, sondern Veth die beiden Antriebsgondeln.
Laut Rossinavi-COO Federico Rossi ermöglichen sie im Zusammenspiel mit Briands Leichtlaufkonstruktion ebenso bemerkenswerte Verbrauchswerte wie Manövrierbarkeit und sicheres Dynamic Positioning selbst bei schwierigen Bedingungen. Stolz weisen die Verantwortlichen aus Viareggio auf ein sehr niedriges Geräusch- und Vibrationsniveau hin. Neben den per se ruhigen Podantrieben – die E-Motoren drehen sich unter Wasser – tragen je zwei Caterpillar-Zwölfzylinder und -Generatoren ihren Teil bei. Sie laufen stets mit optimaler Drehzahl, und ihre eigentlichen Stoßdämpfer sind nicht direkt mit dem Rumpf verbunden, sondern abermals gedämpft. Hinzu kommen vier elektrische Flossenstabilisatoren.
Stolz ist Rossinavi ebenfalls auf die in Eigenregie konstruierten und gefertigten Luken sowie Kräne der Tendergarage, die trotz ihrer üppigen Dimensionen unter allen Umständen problemlos funktionieren müssen. Die beiden sieben respektive acht Meter langen Castoldi-Tender, Jetskis und Mountainbikes sowie der separate Lagerraum mit penibel geordneten Wasserspielzeugen beanspruchen mit 112 Quadratmetern so viel Platz, dass sich das Spa nicht über die gesamte Rumpfbreite erstrecken konnte. Dafür bietet der Klappbalkon steuerbords der Sauna und vom teilverglasten Massageraum aus direkten Meerblick. Hingegen rumpfbreit präsentiert sich der Fitnessbereich mit Technogym-Geräten und viel Fläche für Yoga auf dem Unterdeck vorn zwischen den beiden Gästekabinen sowie dem Crewbereich. Dessen direkte Verbindung zum Gym verkürzt die Wege, optimalen Service gewährleistet das separate Treppenhaus für die 16 Crewmitglieder.
Es waren jedoch andere Treppen, die von Beginn an im Fokus der Eignerfamilie standen. Sie wollten in der Mitte der beiden Salons zentrale Stufen und zugleich ein offenes Layout ohne konventionelle Lobby, um von ihrer Kabine auf dem Hauptdeck durch den großen Salon bis auf das Wasser achtern schauen zu können. „So eine Treppe hatten wir noch nie gebaut, es war aber essenziell für den Eigner, eine Herzenssache. Entsprechend kompromisslos war er in diesem Punkt“, erinnert sich Federico Rossi. „Ich begann RINA und andere Klassifizierungsgesellschaften anzurufen und zu fragen, wie wir das bewerkstelligen könnten. Treppen sind der Hauptweg, über den sich Feuer zwischen den Decks ausbreiten. Am Ende mussten wir unseren gesamten Ansatz zum Brandschutz überdenken, zusätzliche Rauchmelder und Sprinkler ergänzen.
Im Falle eines Brandes soll eine Art Wasserwand das decksweise Übergreifen der Flammen verhindern. Die gläsernen Flanken der Treppe sind in Sandwichbauweise konstruiert, die hochfeste Kernschicht stellte DuPont her. Selbst wenn das Glas brechen oder splittern sollte, trägt die unverbrüchliche Basis das Gewicht der gesamten Stufen. Abgesehen von den strukturellen und technischen Aspekten der Treppe stand natürlich noch ihr Design sowie das des Interieurs in Gänze an. Da sich der Eigner bei dieser Personalie offen zeigte, lag es für Federico Rossi auf der Hand, seinen engen Vertrauten Enrico Gobbi zu empfehlen.
Die bis dato vielen gemeinsamen, teils sehr unterschiedlichen Projekte mit dem Venezianer und seinem Studio Team for Design erleichterten die Zusammenarbeit, insbesondere da der Vertrag für „Alchemy“ kurz vor Ausbruch der Coronapandemie im Dezember 2019 geschlossen wurde. Wenn schon nicht persönlich, konnte der Kunde doch per wöchentlicher Videokonferenz im engen Austausch mit Rossinavi und Gobbi bleiben, der es im Rückblick als bislang engste Zusammenarbeit mit einem Eigner bezeichnet. Über sämtliche Bereiche und Decks setzte man das Motiv „Spa Mood“ konsequent um. Überwiegend „weiches“, indirektes Licht passt dazu ebenso wie das hell gebeizte Eichenholz und der intensive Einsatz von beigem, hellgrauem und weißem Leder.
Die für Rossinavi typischen Details aus poliertem Edelstahl veredeln das an sich zurückhaltende Interieur. Was im Kontrast zum Ansatz von Gobbi und seinem Team steht, das glänzende Oberflächen vermied. So wurde weitestgehend auf Travertin statt auf Marmor gesetzt. Eine Ausnahme stellen die Stufen der Salontreppe dar, die spätestens in Verbindung mit dem gläsernen Weinschrank für 230 Flaschen im Hauptsalon zum Highlight mit größtem Wiedererkennungswert wurde. Ansonsten sind es Feinheiten, welche die Innenräume beim genaueren Betrachten prägen.
So wurden in dem längs platzierten Esstisch gelaserte Einlegearbeiten in Form von Wassertropfen integriert oder ausrollbare OLED-Bildschirme in den schmalen Sideboards versteckt. Im Kontrast dazu fällt das Sofa, vis-à-vis des Esstisches, beinahe wuchtig aus. Es wurde wie sämtliche Möbel eigens für „Alchemy“ hergestellt.
Obwohl sie an Bord nicht im Vordergrund stehen, finden sich zahlreiche Kunstwerke, die von Glas und Wasser inspiriert wurden. Der gebürtige Venezianer Gobbi suchte sie zusammen mit dem Eigner in seiner Heimat aus. Der wünschte sich ob der Erfahrung mit Charteryachten eine Galley, in der selbst drei Chefköche gleichzeitig arbeiten könnten, ohne sich auf die Füße zu treten. Das Resultat erfüllt auf 28 Quadratmetern mit professioneller Ausstattung von Marrone höchste Ansprüche. Gegenüber an Backbord befinden sich die zwei Gästekabinen des Hauptdecks, in denen im Charterbetrieb VIP-Gäste übernachten.
Für das Wohlbefinden sorgten die detailverliebten Eigner, denen neben der Ästhetik ebenfalls die Funktionalität am Herzen lag – großzügige Stauräume zeugen davon. In ihre Suite führt der zentrale Korridor, der durch den Wegfall einer Lobby und eines Treppenhauses den gewünschten Weitblick bis zum Heck und darüber hinaus bietet. Die Symmetrie setzen auf den 70 Quadratmetern die begehbaren Kleiderschränke sowie das zentrale Bett mit Blick voraus fort. Um die Abstände zwischen Bett und Möbel auf den Zentimeter genau vorab zu klären, baute Rossinavi ein maßstabgerechtes Mock-up. Die Mastersuite komplettiert ein Doppelbad samt mittiger Badewanne und übergroßer Dusche an Backbord.
Die Tour führt zurück zum Treppensolitär und hinauf zum Oberdeck. Dessen Salon fühlt sich tatsächlich viel stärker mit dem Hauptsalon verbunden. Zwei schmale, raumhohe Videowände mit Wasseranimationen ebnen den Weg in einen wiederum zentralen Flur, von dem eine weitere Gästekabine, die Kapitänskabine und sein Büro abgehen. Seine Arbeit wird durch die vollintegrierte Brücke und die beiden Joysticks für die Antriebspods erleichtert. Der Blick schweift über die fünf primären Displays hinaus über die Klappe mit Rettungsboot darunter, den vorderen Sitz- und Liegebereich sowie den optisch verborgenen Arbeitsbereich mit Anker- und Anlegegeschirr. Am anderen Ende des Oberdecks lädt ein sonnen- und windgeschützter Esstisch mit zwölf Stühlen zu kulinarischen Al-fresco-Genüssen ein. Entgegen dem Trend sind die Sofas hier analog zum Haupt- und Sonnendeck nicht frei beweglich, sondern traditionell fest installiert.
Auf der obersten Ebene von „Alchemy“ sticht beim Betreten achtern sofort der große Gasgrill ins Auge – auf Barbecue wollte der US-Eigner ebenso wenig verzichten wie auf das Outdoor-TV unter dem großflächigen Sonnenschutz, das Tagesbad und die Glasschiebetüren als Windfang. Im vorderen Bereich des 118 Quadratmeter großen Sonnendecks kann die Crew neben Cocktails auch Horsd‘œuvre oder Sushi anrichten und sich dann wieder über die separaten Treppen zurückziehen. Zwei Esstische mit u-förmiger Sitzbank passen genauso zum ungezwungenen Ambiente wie die Liegeflächen um den runden Whirlpool mit Panorama-Aussicht. Das Becken schmückt eine Edelstahleinfassung aus eigener Fertigung. Mit der krönt Rossinavi die „Alchemy“, die eine beeindruckende Gemeinschaftsleistung darstellt und ohne den engagierten Eigner nicht entstanden wäre.