Zufälle meiden Werften beim Bau ihrer Yachten wie Salzbuckel das Süßwasser. Abseits davon sieht es anders aus. Im Zusammenhang mit Messeauftritten ist häufig von dem einen Kunden die Rede, der die kostspielige Präsenz zum kommerziellen Erfolg macht. Das gilt nicht nur für Werften. Den Eigner in spe konnte Alia Yachts bereits für sich gewinnen. Die türkische Werft hatte ein grobes Konzept entwickelt, traf den Kunden während der Monaco Yacht Show und schlug ihm ein Designstudio vor, das seine vielen Ideen ausarbeiten könnte. Nun begab es sich zur letzten Stunde der Messe, als das Management von Alia nach Paul Costerus von Sinot Yacht Architecture & Design suchen ließ. Im Gewusel ward der Senior Yacht Designer und Projektleiter aufgetrieben, und er traf sogleich den gestalterischen Nerv.
Es ging um Stealth Wealth auf dem Wasser. Gemeint ist ein Kleidungsstil, der zum Ausdruck bringt: Man sieht ihnen den Reichtum gar nicht an. Eingeweihte wissen die textile Zurückhaltung dennoch richtig monetär zu deuten. Dass im Weglassen die hohe Kunst besteht, beweist „SAN“ knapp sechs Jahre später beim – natürlich dezenten – Auftritt im Fürstentum. Man einigte sich auf 45 Meter und Aluminium als Baumaterial. Alles Weitere war deutlich schwerer zu fassen.
Der Kiellegung in Antalya gingen zwei Jahre voraus, in denen sich das Studio mit Sitz südöstlich von Amsterdam rege mit ebenjenem Kunden austauschte. Der fand in der Zwischenzeit Gefallen an dem von Sinot gestalteten „Pi“-Interieur und hatte klare Vorstellungen: Er wollte den Bug sehen können, wenn er über das terrassierte Heck an Bord kommt. Die Devise für dazwischen: Maximale Reduktion.
Das Hauptdeck belegt alleinig der Salon, und das auf weniger als einem Drittel der Rumpflänge. Es ist ein Raum ohne Wände und somit ohne Tagestoilette; alle Leitungen laufen durch die Eckpfeiler zum Steuerstand. So entfiel der Löwenanteil der Entwicklungsarbeit auf das Layout. „Die größte Herausforderung bei einer Yacht dieses Volumens ist, dass jeder Quadratzentimeter optimiert werden muss“, sagt Paul Costerus im Salon von „SAN“. „Dennoch mussten wir darauf achten, dass man sich auf der Yacht noch bequem bewegen kann.“ Die Ergonomie gab eine generelle Deckenhöhe von 2,30 Meter vor, gleichzeitig forderte der „SAN“-Eigner eine sehr flache Yacht.
Um den Eindruck eines niedrigeren Aufbaus zu erwecken und die massiven Fensterfronten nicht wie einen plump auf das Deck gestellten Wintergarten wirken zu lassen, zogen die Sinot-Gestalter die Schanzkleider einen Meter in die Höhe. Das machte eine Reling überflüssig, von außen mindert eine abgefaste Kante die Massivität ab.
Trapezförmige Fenster ermöglichen Meerblick aus der abgesenkten Sitzgruppe im Zentrum des Salons. Die Scheiben von Veraver reichen bis in den Boden, der die Rahmenunterkante aufnimmt. Costerus: „Der Eigner wollte immer das Gefühl haben, dass man auf dem Wasser ist.“ Den Rezess auf dem Hauptdeck machte das gleichfalls eingelassene Ruderhaus darüber erforderlich und forderte eine der vielen Berechnungen, die die Konstrukteure von Lateral anstellten.
Weitaus flexibler wurden die Außenflächen des Cockpits angelegt. Die Hauptsitzgruppe lässt sich mit niedrigem Tisch für Getränke und Häppchen herrichten. Wird der Tisch hochgefahren und erweitert, die Sofas zusammengerückt und Rückenlehnen begradigt, erhält man eine Umgebung zum Speisen mit Schutz vom Sonnendeck darüber. Jeder einzelne Sitzplatz im Freien lässt sich verwandeln und mehrfach nutzen und achtern bei abgeklapptem Schanzkleid erweitern.
Im Interieur standen die niederländischen Kreativen wieder vor der Herausforderung, mit wenig einen großen Eindruck zu erzeugen: „Er wollte eine warme Yacht, aber eine sehr begrenzte Anzahl von Materialien. Es gibt drei Holzarten in insgesamt fünf Ausführungen, zwei Stoffe, ein Leder und zwei Metalloberflächen. Das war’s“, berichtet Costerus. „Das war unsere größte Herausforderung: Wärme und Gemütlichkeit zu schaffen ohne besondere Materialien.“ Die wenigen exquisit gefertigten Einrichtungsgegenstände entspringen der werfteigenen Tischlerei, die abgesehen vom Esstisch und den Stühlen den gesamten Innenaus- und Möbelbau verantwortete. Stauraum gibt es hier oben, aber er springt einem nicht sofort ins Auge. Wer im Glashaus sitzen möchte, der muss Kompromisse eingehen. Die Sitzmulde umgeben Regale und Anrichten, nach achtern schließen zwei flache Schränke ab und nach vorn eine Bar, neben der eine Wendeltreppe auf das Unterdeck führt.
Die Werft aus Antalya zeichnet sich durch Flexibilität aus: „Bei viel größeren Yachten muss man innerhalb einer Box bleiben. Hier konnten wir der Werft immer sagen: Hey, dort ist eine Lücke, können wir diesen Bereich ausnutzen? Die Antwort war immer Ja“, sagt Paul Costerus im Hinblick auf die minutiöse Unterdeckplanung.
Wie bei Segelyachten, von denen Alia bereits zwei gebaut hat, schmiegt sich der Ausbau an den Verlauf der Bordwand an. So nimmt der 8,89 Meter breite Alurumpf die Eignersuite vorn, vier Gästekabinen, Galley, Crewbereiche für sieben Personen und den Motorenraum ganz hinten auf. Das ging nur, weil man sich für IPS-Einheiten von Volvo Penta entschied. Durch den Verzicht auf Wellen rückten die Aggregate in einen flachen Raum, wo sie unmittelbar vor den Pods sitzen und je bis zu 735 Kilowatt freisetzen. Unter Volllast läuft „SAN“ 23 Knoten, schaukelfreie Langsamfahrt sichert ein gyroskopischer Stabilisator von Veem mit 260 Kilonewtonmeter Drehmoment. Dreieinhalb Jahre verschlang die Umsetzung bei Alia Yachts in Antalya. Die türkische Werft setzte 2019 mit „Atlantico“ (27 m) ein ähnliches Konzept um, versteht sich aber auch auf Großprojekte wie „Al Waab“ oder Support-Formate wie „Phi Phantom“ und die kürzlich gelieferte „Kaiyo“. Alia-CEO Gökhan Çelik veranschaulicht die hohe Fertigungstiefe auf dem „SAN“-Vordeck anhand der Carbonluke, die man in eigenen Hallen laminierte. Darunter ruht ein Sechs-Meter-RIB mitsamt Kran, gelegentlich außenbords schwimmt ein Wallytender 48 im Anthrazit des Mutterschiffs.
Das Projektteam hatte es nicht nur mit komplexen Lösungen zu tun. Da der Auftraggeber mit Audiosystemen auf Charteryachten unzufrieden war und oftmals die Kopplung mit dem Smartphone nicht funktionierte, bringen Bluetooth-Lautsprecher von Devialet Klänge in die Kabinen. Dort missfiel ihm des Weiteren der Schalterwald oder die komplexe Steuerung per Tablet. Gäste sollen es sofort begreifen, also wählte Sinot für „SAN“ vier Rundknöpfe: Tür auf/zu, Licht an/aus für die überwiegend indirekte Beleuchtung, die mit den Jalousien gekoppelt ist. Zudem lassen sich Spots verschieben oder woanders anbringen. Auch clever: In der Mastersuite im Bug wird der Ganzkörperspiegel aus dem Schott gezogen. Eine ähnliche Lösung findet sich in den Bädern, wo die Spiegel zur Seite geschoben werden, um die Rumpffenster freizulegen. Der goldbeige Luget-Kalkstein in den Bädern wurde in Frankreich abgebaut und vom Eigentümer persönlich ausgewählt. Offene Schapps mit Schlingerleisten aus Edelstahl finden sich überall, besonders in der großzügigen Ankleide.
Die rezeptierte Materialknappheit wirkt unter Deck aufgeräumt und durch die vielen Holzoberflächen indes warm. Ob noch Kunst gehängt wird? Paul Costerus kontert die ketzerische Frage: „Nein, damit könnte man verbergen, dass das Design nicht rund ist. Und in dieser Yacht kann man nichts verstecken. Alles muss rein und ästhetisch sein.“ Das Gleiche gilt für das Äußere: „Es schreit einen nicht förmlich an. Es ist präzise.“ Keine Ornamente bedeutet kein Kaschieren. Wenn die pure Form zählt, müssen die wenigen Linien absolut stimmig sein und unmittelbar überzeugen. Wie die zweifach gekrümmte Heckpartie und der messerscharfe Vertikal-Steven. Kleine Extravaganzen erlaubt sich „SAN“ in Form der Dachwölbung im Stile eines Flügelprofils und des formschönen Ruderhauses, das wie die Kanzel eines Kampfjets wirkt.
Für die Niederländer von Sinot – zuletzt ließen sie mit Steven Spielbergs 109-Meter-Oceano „Seven Seas“ aufhorchen – war der 45-Meter-Auftrag der kleinste Solitäre. „Das stimmt. Aber wir haben sofort erkannt, dass es ein wichtiges Projekt für uns sein würde. Denn auch hier ist der Eigentümer mit seinem Konzept so visionär. Und ja, für mich persönlich ist es die Art und Weise, wie ich eine Yacht gestalten möchte“, schließt Paul Costerus ab. Wenn zwischen Auftraggeber und Designer die Chemie stimmt und sich ihre Auffassung von Ästhetik deckt, dann entsteht große Kunst im „Kleinen“.