DDR-SchiffswerftPlaste-Pioniere von der Müritz

Jill Grigoleit

 · 13.11.2024

Ein komplett geschlossenes und selbstaufrichtendes Rettungsboot der GAL-Serie in den 80er Jahren. Die Schiffswerft Rechlin galt als Spezialbetrieb für Rettungsboote
Foto: Luftfahrttechnisches Museum Rechlin, Ben Scheurer
Was haben ein Fußabtreter und ein Torpedoschnellboot gemeinsam? Das Luftfahrttechnische Museum am Südufer der Müritz gibt die Antwort und macht die Geschichte der Schiffswerft Rechlin erlebbar. Auf Zeitreise in die Geschichte des DDR-Schiffbaus.

Die kleine Gemeinde Rechlin am Südufer der Müritz, mit ihren gerade einmal knapp über 2 000 Einwohnern war schon zu DDR-Zeiten ein beliebter Ausgangspunkt für Bootstouren und ist bis heute vielen Touristen als Wassersportparadies bekannt. Doch bevor sich die Region nach der Wende auf den Tourismus konzentrierte, war sie auch Industriestandort. Über 40 Jahre lang stand der Ortsname weit über die Landesgrenzen hinaus für die von hier stammenden Boote. Nach dem Zweiten Weltkrieg war auf dem Gelände der größten zentralen Erprobungsstelle der deutschen Luftwaffe der VEB (volkseigene Betrieb) Schiffswerft Rechlin entstanden, der sich über die darauffolgenden Jahrzehnte zum größten Arbeitgeber der Region entwickeln sollte.


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Schiffswerft Rechlin: größter Arbeitgeber an der Müritz

Bis Anfang der 90er Jahre wurden hier Tausende Sportboote, Rettungsboote, schiffstechnische Anlagen für die Großschifffahrt und Militärboote konstruiert und hergestellt. „Das war eine Riesenwerft. Jeden Tag kamen hier Busladungen voll mit Arbeitern aus dem ganzen Umland an“, erzählt Diplom-Schiffsbauer Thorsten Heinrichs, der hier in den letzten Jahren der Werft bis 1992 angestellt war. „Die Arbeiter nannten unsere Konstrukteursabteilung das ‚Faultiergehege‘“, erzählt er schmunzelnd. „Für die Arbeiter war das Ende der Werft nach der Wende eine Katastrophe. Und für die Region auch. Es gab nichts anderes hier. Die Leute waren gezwungen, wegzuziehen und woanders nach Arbeit zu suchen.“ Heinrichs selbst machte sich nach der Wiedervereinigung mit einer Firma selbstständig, die bis heute unter anderem Ausrüstung für Rettungsboote herstellt. Den Grundstein dafür legte seine Zeit bei der Schiffswerft Rechlin. Sicherlich mit ein Grund, weshalb er heute ehrenamtlich Führungen über das ehemalige Werftgelände anbietet, wo fast ein halbes Jahrhundert Werftgeschichte erlebbar gemacht wird. Das Luftfahrttechnische Museum erzählt von einer Zeit, als hier wöchentlich Hunderte Boote in Serie vom Stapel liefen. Vom Freizeitsegler bis hin zum Torpedoschnellboot. Einige Exemplare, wie ein ehemaliges DDR-Grenzschutzboot GSB 075 und ein kleines Torpedoschnellboot (KTS), kann man heute auf dem Außengelände des Museums besichtigen.

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Militärischer Schiffsbau

In den 70er Jahren zählte das KTS mit dem NATO-Code „Libelle“ mit Spitzengeschwindigkeiten von mehr als 100 km/h zu den schnellsten Booten der Ostsee.

Das KTS zählte mit  Spitzengeschwindigkeiten von mehr als 100 km/h zu den schnellsten Booten der OstseeFoto: Luftfahrttechnisches Museum RechlinDas KTS zählte mit Spitzengeschwindigkeiten von mehr als 100 km/h zu den schnellsten Booten der Ostsee

Einmal im Monat wird das Schiff für interessierte Besucher geöffnet und ehemalige Besatzungsmitglieder, die das Schiff ehrenamtlich instand halten, berichten von ihrer Zeit an Bord der „Libelle“. Thorsten Heinrichs erinnert sich an eine Anekdote aus einer solchen „Geschichtsstunde“: „Ein ehemaliger Kommandeur erzählte von einer Testfahrt mit einem frisch ausgelieferten KTS. Die Mindestanforderung lag bei 90 km/h, doch das Schiff lag gut 20 km/h darunter. Über einen Monat lang wurde auf der Werft nach dem Fehler gesucht. Bis durch einen Zufall entdeckt wurde, dass eine der Seitenluken für den Auspuff einen Zentimeter zu klein ausgeschnitten war. Dieser eine Zentimeter hatte den Unterschied gemacht.“ Doch abgesehen von diesem kleinen Ausreißer galt das KTS als „­State of the Art“ und absolut verlässlich. Ab 1974 wurden insgesamt 30 Stück der knapp 19 Meter langen Bootskörper in vollgeschweißter Aluminiumbauweise zur Motorisierung und Bewaffnung zur Peene-Werft in Wolgast ausgeliefert. Eine große Herausforderung war dabei der knapp 150 Kilometer lange Landtransport auf den damals noch sehr engen und schlecht ausgebauten Landstraßen und Ortsdurchfahrten.

Landtransport eines KTS von Rechlin zur Peene-Werft in WolgastFoto: Luftfahrttechnisches Museum RechlinLandtransport eines KTS von Rechlin zur Peene-Werft in Wolgast

Neben der Volksarmee war der DDR-Grenzschutz einer der Hauptabnehmer für Boote aus Rechlin. Bis die ersten Grenzsicherungsboote vom Typ 066 ausgeliefert werden konnten (bis 1973 116 Stück), gab es jedoch einige Hürden zu überwinden. Da es an effektiven Antriebsanlagen mangelte und eigene Entwicklungsversuche fehlschlugen, importierte man zähneknirschend Volvo-Penta-Aggre­gate aus Schweden. Und das ausgerechnet bei einem Boot, das an der Staatsgrenze zur BRD eingesetzt werden sollte. Ab 1977 löste das Grenzsicherungsboot 075 in glasfaserverstärktem Kunststoff den Aluminiumtyp ab, bei dem ZIL-Motore sowjetischer Bauart die teuren West-Importe ersetzten.

Bis 1973 wurden 116 Grenzsicherungsboote vom Typ 066 ausgeliefert
Foto: Luftfahrttechnisches Museum Rechlin

Viele der militärischen Boote wurden auch an die UdSSR und nach Ungarn exportiert und kamen bei der Grenzsicherung auf der Donau zum Einsatz. Nach der Wende wurden viele der ehemaligen Grenzschutz- und Rettungs- und Sicherungsboote (RuSB) vom Bundesgrenzschutz, den Landespolizeien der Bundesländer und dem THW übernommen.

Die Schiffswerft Rechlin war Spezialbetrieb für Rettungsboote

Bereits 1960 wurden in Rechlin so viele Boote produziert, dass zur Taktstraßenproduktion und von der Nietbauweise zum Schutzgasschweißen umgestellt wurde. Ende der 60er Jahre – als sich die Herstellung in glasfaserverstärktem Kunststoff weltweit noch in den Kinderschuhen befand – war die Schiffswerft Rechlin eine der ersten Werften in Europa, die mit dem neuen Werkstoff arbeiteten. Die damit konfrontierten Arbeiter waren eigentlich Tischler und hatten keine Ahnung, womit sie es zu tun hatten. Innerhalb nur eines Jahres wurde eine „Plasteabteilung“ aus dem Boden gestampft und das nötige Know-how angeeignet.

Die mit dem neuen Werkstoff GFK konfrontierten Arbeiter waren eigentlich Tischler und hatten keine Ahnung, womit sie es zu tun hatten

Die benötigten teuren Negativformen für die Serienproduktion wurden aufwendig in der Modellbauabteilung der Werft selbst hergestellt. Auf diese Weise verließen bis 1989 unter anderem über 50 000 Rettungsfloßbehälter die Werft. 1963 galt die Schiffswerft Rechlin als Spezialbetrieb von Rettungsbooten. Alle DDR-Rettungsboote kamen von hier. Anfang der 80er Jahre wurde mit der Einführung der komplett geschlossenen und selbstaufrichtenden Rettungsboote, der Rechliner GAL-Serie, ein neues Zeitalter im Rettungsbootbau eingeleitet und die Überlebenschance verunglückter Seeleute entscheidend verbessert. Kurz vor der Wiedervereinigung wurden auf der Rechliner Werft auch Freifallrettungsboote entwickelt. Nach der missglückten Privatisierung der Werft wurden die Konstruktionsunterlagen und Formen für die Rettungsboote an Konkurrenzbetriebe in den alten Bundesländern verkauft.

Konsumgüterproduktion: Sportbootbau in der DDR

Neben Militär und Grenzschutz war die Gesellschaft für Sport und Technik (GST) ein großer Abnehmer von Rettungsbooten und Tauchpontons. 1974 wurde die Schiffswerft Rechlin von der GST beauftragt, einen Ruder- und Segelkutter für zehn Personen plus Steuermann zu entwickeln. Jugendliche sollten hier die Grundkenntnisse für einen späteren Marinedienst erlernen. 1976 ging der „Zesenkutter ZK-10“ in die Serienfertigung. Bis 1980 wurden 223 dieser Kutter gefertigt. Auch Sportboote für den Freizeitsektor wurden in Rechlin produziert. Denn so wie alle Industriebetriebe in der DDR war auch die Schiffswerft Rechlin angewiesen, Konsumgüter zu produzieren. Über 4 000 Sportboote vom Dinghi bis zum größeren Motorboot wurden an der Müritz auf Kiel gelegt. Darunter die bei der Leipziger Messe 1960 vorgestellten Motorboote Habicht, Kranich und Viola. Im Ausstellungsraum des Museums finden Klassikerliebhaber Schmuckstücke wie den „Wellenbinder“, der heute Kultstatus erreicht hat, das „Volkspaddelboot“ und ein „Camping-Dinghi“, das auf dem Pkw-Dach transportiert werden konnte. Seit dem Mauerbau 1961 galt an der gesamten DDR-Küste ein Sportbootverbot. Selbst Luftmatratzen galten Grenztruppen als verdächtig und als mögliche Fluchtmittel. Schon zu DDR-Zeiten entwickelte sich die Region rund um die Müritz deshalb zum Wassersportparadies des Ostens. Die Nachfrage war da. Doch im sozialistischen Wirtschaftsplan der DDR spielte der private Wassersportsektor kaum eine Rolle, Bootsmotoren standen nicht im Fünfjahresplan.

Im sozialistischen Wirtschaftsplan der DDR spielte der private Wassersportsektor kaum eine Rolle, Bootsmotoren standen nicht im Fünfjahresplan

Also waren umgebaute Wartburg- und Trabbi-Motoren in DDR-Sportbooten die Regel. Motorboote für den privaten Gebrauch waren Luxusgüter und für den Durchschnittsverdiener unbezahlbar. Außerdem musste man Jahre darauf warten.

Not macht erfinderisch

Wie in vielen anderen Bereichen weckte der Mangel bei einigen wassersportbegeisterten DDR-Bürgern den Erfindungsgeist. Viele private Motorboote wurden kurzerhand selbst zusammengeschweißt. So entstanden originelle Eigenkonstruktionen, wie die auf dem Museumsgelände ausgestellte „Trabitanic“ aus dem Jahr 1987. Als Aufbau für das Flachbodenboot aus Stahl dienten zwei ausrangierte Trabbi-Dächer. Die zunehmende Diversifikation in der Produktpalette durch die verpflichtende Produktion von Konsumgütern stellte viele Betriebe, wie auch die Schiffswerft Rechlin, vor massive Qualitätsprobleme. Denn die Betriebe wurden verpflichtet, auch für sie produktfremde Erzeugnisse „für den privaten Bedarf zur Erhöhung des Versorgungsniveaus der Bevölkerung“ herzustellen. Das nahm zum Teil groteske Züge an: Werften lieferten Flaschenöffner oder Gartenmöbel aus, ein Sprengstoffwerk Fliegenklatschen. Die Schiffswerft Rechlin musste neben ihren Torpedoschnellbooten, Grenzschutz- und Rettungsbooten unter anderem auch Campinganhänger und Haushaltszubehör wie Garderoben und Fußabtreter produzieren.

Eine Erfindung aus Rechlin rettet Menschenleben

Ein Auftrag jedoch führte zu einer Erfindung, auf die die Rechliner bis heute besonders stolz sind: Nach dem tragischen Untergang des Frachters „Fiete Schulze“ 1967, bei dem dreizehn Seeleute in der eiskalten Biskaya erfroren waren, wurde die Schiffswerft mit der Entwicklung eines Überlebensanzugs beauftragt, in dem Seeleute selbst bei Wassertemperaturen nahe dem Gefrierpunkt mehrere Stunden überleben können. 1979 führte die DDR-Handelsmarine den in Rechlin entwickelten Anzug RA‑S vier Jahre vor der Änderung der Konvention zur Sicherheit auf See (SOLAS, 1974) als Pflichtausrüstung aller ihrer Handelsschiffe zum Schutz der Besatzungsmitglieder ein. Heute gehört der Schutzanzug weltweit zur Standardausrüstung für jeden ­Matrosen auf See. E Ende der 80er Jahre befand sich die Produktion auf der Rechliner Werft mit über 1 200 Mitarbeitern und einer enormen Produktpalette auf dem Höhepunkt. Kurz bevor die Mauer fiel, war der Grundstein für eine neue Fertigungshalle gelegt worden, in der Minenabwehrboote gebaut werden sollten. Sie kam nie zum Einsatz. Mit dem Mauerfall wurde der Auftrag mit sofortiger Wirkung zurückgezogen. Innerhalb kürzester Zeit verloren Hunderte Menschen ihre Arbeit und verließen ihre Heimat. Die Einwohnerzahl sank dramatisch und das Durchschnittsalter stieg sprunghaft an. Ein Traditionsbetrieb, in dem in 40 Jahren über 22 500 Boote entstanden, verschwand von der Bildfläche. Doch dank des Engagements vieler ehrenamtlicher Mitglieder zweier Vereine wird die wechselvolle Geschichte der Schiffswerft und der Menschen, die hier lebten und arbeiteten, am Leben erhalten.

Kontakt: Luftfahrttechnisches Museum Rechlin e.V.
Am Claassee 1, 17248 Rechlin
Öffnungszeiten:
Februar-März
täglich 10:00- 16:00 Uhr
April-Oktober täglich 10:00-17:00 Uhr

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