Besonderer ArbeitstagWie ein pensionierter Kapitän als Schleusenwärter arbeitet

Kristina Müller

 · 31.08.2024

Mitten im Geschehen.  Eugen von Abel beobachtet die auslaufenden Boote von der Plattform aus
Foto: YACHT/Jozef Kubica
Die meisten Menschen träumen im Ruhestand von Entspannung und Freizeit, aber für die pensionierten Kapitäne in Bremerhaven sieht der Alltag anders aus. Sie halten eine vielbefahrene Schleuse in Betrieb, voller Humor, Leidenschaft und einer unschlagbaren Liebe zur Seefahrt. Ein Tag mit einem Schleusenwärter

Auf der Suche nach dem schönsten Büro Bremerhavens scheint man bei Eugen von Abel am Ziel zu sein. Wenn sich der 69-jährige Nautiker um die eigene Achse dreht, gleitet sein Blick zunächst über Yachten, die in einer Marina vor modernen Wohnanlagen liegen, dann weiter über den historischen Leuchtturm, den Deich und schließlich auf die Weser.

Inmitten dieser maritimen Kulisse liegt sein Reich, die Schleusenanlage mit dem offiziellen Namen „Schleuse Neuer Hafen“, welche die Weser mit dem Hafen im Herzen der Stadt verbindet. Der Job ist der Grund, warum Kapitän von Abel trotz Ruhestand mehrmals im Monat um fünf Uhr morgens das Haus verlässt, um hier Dienst zu tun: Dann koordiniert er in einem Turm mit Glasfassade das Kommen und Gehen der Boote.

In der Hochsaison als Schleusenwärter arbeiten

Auch an diesem Montagmorgen im Juli. Hochsaison. Blauer Himmel über braunem Wasser, dazu ein leises Lüftchen. „Schwer zu sagen, wie der Tag wird“, sagt Eugen von Abel – er weiß es nie bei Beginn einer achtstündigen Schicht. Im Sommer dauert sie entweder von sechs bis 14 Uhr oder von 14 bis 22 Uhr. Zehn Männer teilen die Wachen unter sich auf. Routine müssen sie nicht fürchten.

Es ist 7.30 Uhr, das Vermessungsboot „Seeadler“ schiebt sich in die Schleuse. Kurz zuvor haben schon drei Segelbootcrews ausgeschleust, vermutlich um es mit dem letzten auflaufenden Wasser noch ein Stück Weser aufwärts zu schaffen, bevor die Tide heute gegen acht Uhr kentert. Der Gezeitenkalender liegt aufgeschlagen neben der Funkanlage. Die eng bedruckten Zeilen sind die Bibel der Segler im Revier. Sie bestimmen die Richtung, in die auf der Weser gesegelt wird, will man nicht gegen bis zu dreieinhalb Knoten Strom ankämpfen müssen.

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Auch für den Schleusenwärter ist das Büchlein ein unverzichtbares Werkzeug. Denn rund um Hochwasser wird es bei gutem Wetter voll in der Kammer. Von See kommende Crews planen ihre Fahrt so, dass sie dann hier sind. Auslaufende Skipper nutzen die Tide für eine Rauschefahrt die Weser raus und weiter nach Westen.

Heute aber scheint weniger die Tide als der Urlaubsrhythmus das Auslaufen der Yachten zu bestimmen. Nur wenige Boote füllen um acht Uhr die Schleusenkammer.

Schritt für Schritt

Schranken runter, Tore auf und zu – die ganze Prozedur wird über einen einzigen Monitor gesteuert. Mit Hilfe des Programms löst Schleusenwärter von Abel einen Schritt nach dem anderen aus. Zwei weitere Bildschirme mit fünf Kacheln zeigen ihm dabei über Kameras alle neuralgischen Punkte des Geländes, die er von seinem Stuhl aus schlecht einsehen kann: die Schranken an den Wegen über die Schleusentore etwa, die Einfahrt von außen, die Schleusenkammer. Mit einer Kamera kann er sogar über die Weser schwenken und zoomen. „Die ist neu und ein Segen. Vorher gab es nur Schwarz-Weiß-Bilder, auf denen man kaum etwas erkennen konnte“, so von Abel.

Er kennt das Revier nach einem Berufsleben auf Nord- und Ostsee hervorragend und ist dennoch dankbar für die technischen Neuerungen. Gebürtig kommt von Abel aus Stuttgart und wuchs dort auf. Doch in den Ferien besuchte er entweder seine Tante in Kiel oder die Oma in Lindau am Bodensee. Als er merkte, dass das humanistische Gymnasium nichts für ihn ist, fiel seine Wahl auf ein Nautikstudium samt Umzug nach Norddeutschland.

Den Schleusenvorgang leitet er mit einer Durchsage vom Band für die Passanten ein. Sie hallt auf Deutsch, Englisch und für die touristische Gaudi sogar auf Plattdütsch über das Gelände: „Moin, leeve Lüüd, groote un lütte! Ji mütt nu all gau runner vun de Brüch! De Slüüs geiht glieks op – un desterwegen: All Lüüd fix runner vunne Brüch! Veel’n Dank!“

Dann senkt sich nach einem weiteren Knopfdruck ein Schlagbaum vor dem Schleusentor, das geöffnet werden soll und über das sonst ein Rundgang um den Hafen führt. Nicht wenige Besucher sind so gebannt von dem Treiben auf und am Wasser, dass sie die Warnsignale einfach überhören. „Dann hilft nur noch eine Durchsage von mir“, so von Abel.

Auch heute springt ein Mann mit Shorts und nacktem Oberkörper erschrocken auf, als sich die rot-weiße Schranke neben ihm rasselnd in Bewegung setzt, um den Weg über das Binnenhaupt zu versperren.


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Wer den Weg in die Schleuse findet

Bis vor einem Jahr wurde in beide Richtungen nach Bedarf geschleust. Bootfahrer konnten sich anmelden und damit rechnen, kurzfristig ein- oder ausgeschleust zu werden. Seit dieser Saison jedoch führt der Weg nur noch zur vollen Stunde von drinnen nach draußen. Hintergrund sei, so von Abel, dass die Schleusenanlage im Sommer sonst zu warm und überlastet werde. „Sie kostet ja auch jede Menge Strom.“

Neben Sportbooten nutzen kleine Berufsschiffe die Anlage, etwa der Ausflugsdampfer „Geestemünde“. Außerdem Schlepper und kleine Bunkerschiffe, die über die Sportbootschleuse eine Abkürzung in einen der verzweigen Industriehäfen Bremerhavens nehmen.

Die Kammer misst 14 mal 50 Meter und kann bei Bedarf auf 62,5 Meter erweitert werden. Dafür wird ein weiter außen liegendes Tor auf der Weserseite genutzt. Zum Tragen kommt diese Option etwa bei Großveranstaltungen, wenn auch das ein oder andere Traditionsschiff im Neuen Hafen festmachen will.

Mittlerweile hat von Abel das Binnentor geschlossen, den Wasserstand angepasst – was nahe Hochwasser kaum nötig ist – und die Boote auf die Weser entlassen. Schon haben sich die nächsten für neun Uhr angemeldet, doch ein Schlepper will vorher noch mit rein. Eugen von Abel, ein ruhiger Mann mit grauen Haaren und Brille, überlegt kurz. „Das müssten wir noch schaffen vor neun“, dann funkt er seine Antwort. „Komm mal ran!“

Ein Schleusenwärter mit Gelassenheit und Erfahrung

Es braucht einiges an Gelassenheit und Erfahrung, bis man Situationen wie diese entspannt einschätzen kann und der Schleusenrhythmus nicht aus dem Tritt gerät. Nicht alle Kollegen sind so routiniert wie von Abel, der seit vier Jahren dabei ist.

Wie er sind auch alle anderen Rentner und auf Minijob-Basis bei der Betreiberfirma der Schleuse beschäftigt. Sechs Schichten übernimmt jeder pro Monat, immer zwei Tage hintereinander. Dann ist wieder ein Weilchen Pause. Von November bis März, wenn die Schleuse nicht besetzt ist, schaut täglich einer von ihnen nach dem Rechten im Turm und auf dem Gelände.

Alle sind Nautiker, ehemalige Kapitäne oder Berufsseeleute. Der harte Kern macht den Job schon lange. Die Neuesten im Team sind erst seit ein paar Monaten dabei. Voraussetzung ist eine nautische Ausbildung oder ein Bezug zur Seefahrt.

„Moooiiiin!“, dröhnt es von unten durch das Treppenhaus. „Das ist Hausmeister Chris“, erklärt von Abel. Chris feudelt die 52 Stufen zum Schleusenstand hinauf, einmal um die Tische und Stühle herum und verschwindet nach einem kurzen, herzlichen Wortwechsel über das tolle Wetter und die Unmengen an Touristen am Vortag im Hafen wieder.

Eine Stunde verfliegt schnell auf dem Schleusenstand. Der Nächste will raus, diesmal ist es der Kapitän der „Geestemünde“. Das Ausflugsschiff hat heute eine besondere Mission, die Nationale weht auf Halbmast. „Wieder eine Trauerfahrt“, erklärt von Abel. Der Passagierdampfer kann für Seebestattungen gebucht werden, bei denen die Urne auf See beigesetzt wird.

Was in einer Schleuse passieren kann, aber nicht sollte ...

Die Manöver der Proficrew verlaufen routiniert. Auch bei den Sportbooten gebe es selten ernsthafte Probleme beim An- und Ablegen, erzählt der Schleusenwärter. Am ehesten passiere etwas, wenn Schlepper schleusen und, wie jüngst erst, dabei das Tor berühren, sodass etwas beschädigt wird. „Bei den Sportbooten schubst sich das zurecht“, schmunzelt von Abel. Doch gesehen hat er schon vieles: Leinen, die nicht übergehen, Boote, die sich in der Kammer drehen, Hecks, die wegdriften, Paare, die sich angiften.

Oder, wie bei der nächsten Schleusung dieses Tages, eine große Segelyacht, die in die Kammer einläuft und unmittelbar hinter dem Tor festmacht, obwohl noch ein weiteres Boot von achtern kommt. „Der Klassiker!“, murmelt von Abel. Doch auch diesmal passt am Ende alles irgendwie. „Da bewegt sich nix, jetzt können wir den Laden zumachen.“

Erst als er das äußere Tor wieder geöffnet hat und die Boote auslaufen, verlässt er seinen Posten am Monitor und geht raus auf die Plattform des Turms. Viele Skipper schauen hoch, sobald die Leinen gelöst sind, und rufen ein „Danke!“ nach oben. Andere bedanken sich über Funk für den reibungslosen Schleusenvorgang. Da das längst nicht jeder macht, freut sich von Abel umso mehr über die Aufmerksamkeit.

Drinnen klingelt das Telefon. „Schleuse Neuer Hafen, moin!“, meldet sich von Abel. „Um zehn Uhr raus, kein Problem. Bis gleich!“ Viele Segler nutzen das Telefon, um sich anzumelden. „Einige scheinen sich nicht recht ans Funken ranzutrauen“, sagt der ehemalige Kapitän. Manche würden auch ganz ohne Anmeldung vor der Schleuse Kreise ziehen, aber dann sei nicht klar, was die Crew vorhabe.

Besonders gute Koordinierung sei während maritimer Großveranstaltungen erforderlich, wenn Windjammer aus aller Welt das Hafenbecken füllen – und besonders viele Boote die Schleuse. Dann wird sie im Drei-Schicht-System betrieben. Von sechs bis zwölf, zwölf bis 18 und 18 bis 24 Uhr sind die Rentner dann an ihrem Arbeitsplatz mit der sagenhaften Aussicht im Einsatz.

Eugen von Abel zeigt auf den Wachplan, der an der Tür hängt. Festgelegt wird er für ein Jahr im Voraus, „und dann beginnt das große Tauschen“, sagt er lachend. So sei er gerade eine Weile im Urlaub gewesen, dafür hole er nun Schichten nach.

Von April bis Oktober steuern die Nautiker a. D. die Schleuse vor Ort. In den übrigen Monaten wird sie ferngesteuert. Auch dann herrscht durchaus noch Kommen und Gehen im Yachthafen. Die Fernsteuerung übernimmt das Personal der großen Schleusenanlage, durch die RoRo-Schiffe und Autofrachter in den nördlichen Industriehafen Bremerhavens einschleusen. Auch große Windjammer nehmen diesen Weg, um in den Neuen Hafen zu kommen.

Über 5.000 Schleusungen pro Jahr

Schon 1852 wurde er in Betrieb genommen. Damals erfolgte der Zugang zur Weser durch eine Dockschleuse mit Stemmtoren. Sie war bis 1937 in Betrieb, wurde dann aber aufgrund des Hochwasserschutzes zugeschüttet. Die heutige Schleuse wurde von 2003 bis 2005 am selben Ort errichtet. Seitdem ermöglichen moderne Sektortore, dass der Niveauausgleich in der Schleuse ohne starke Turbulenzen in der Kammer erfolgt und der Wasserstand nicht durch Pumpen reguliert werden muss. Über 5.000 Schleusungen finden jedes Jahr statt, dabei wechseln fast 10.000 Schiffe von drinnen nach draußen oder umgekehrt.

Eugen von Abel genießt es, hier trotz Ruhestand den Kontakt zur Seefahrt zu halten. „Man kann hervorragend aufs Wasser gucken, hat Funkkontakt – das macht schon Spaß“, erklärt er. „Beeindruckend ist es auch, wenn Wetter aufzieht.“

Der Weg zum Schleusenwärter

2020 kam er ins Schleusenwärter-Team, da hatte seine Altersteilzeit bei seinem alten Arbeitgeber, dem Bundesamt für Seeschifffahrt und Hydrographie, gerade begonnen. Beinahe sein ganzes Berufsleben hat er dort als Kapitän Vermessungsschiffe gefahren. „Wir haben zum Beispiel die Schlei vermessen – das war wunderschön!“

Nach dem Nautikstudium erfuhr er, dass beim Deutschen Hydrographischen Institut, dem heutigen BSH, Nautiker mit Kenntnissen in der Vermessung gesucht wurden. 1980 heuerte von Abel dort an und absolvierte ein zusätzliches Vermessungs-Studium in Hamburg. Die folgenden Einsätze auf Nord- und Ostsee ließen sich deutlich besser mit seinem Familienleben vereinbaren als die große Fahrt. Auch seine Freizeit hat Eugen von Abel immer auf See verbracht: als Kapitän auf der „Alexander von Humboldt“ und seit 2012 auf dem Hochseekutter „Astarte“.

Fünf weitere Schleusungen. Zwischenzeitlich kommt kurz ein neuer Kollege rein, der Schornsteinfeger für den Heizungscheck und schließlich seine Ablösung: 14 Uhr, Wachwechsel. Ein letztes Mal für heute aktiviert von Abel die Durchsage, die das Schleusenspektakel in Gang setzt. „All Lüüd fix runner vunne Brüch! Veel’n Dank!“


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