Sich der schönsten Augenblicke des Lebens zu entsinnen, fällt den meisten nicht schwer. Dem Yachting zugetane Personen führt das Schwelgen schnell auf oder in das Wasser. Jarkko Jämsén muss an eine Formel denken. „Ich erinnere mich ganz genau an mein erstes maßstabsgetreues Modell“, sagt der Finne in seinem Studio in Monaco und spannt zur Veranschaulichung der Größe seine Arme auseinander. Er fragte seinen Vater, wie schwer sein hölzernes Modell sein sollte, damit es die Konstruktionswasserlinie treffe. Nach Berechnung der angenommenen Verdrängung im selben Maßstab, wie ihn die Modell- zur Originallänge vorgab, merkte er: „So schwer kann das unmöglich sein!“ Es habe recht lang gedauert, ehe er herausfand, dass er die Originalverdrängung teilen musste durch den Maßstabsfaktor hoch drei. „Das war einer der besten Momente meines Lebens“, schwärmt der 47-Jährige. Jämsén trägt Langbart à la Rasputin, schwarzes Cap, Hornbrille und Fischerhemd, auf dem Tisch liegen Exemplare von „Sail and Power“ von Uffa Fox, Jacques Devaulx‘ „Nautical Works“ und ein Buch über organische Formen in der finnischen Glas- und Keramikkunst.
Vor dem Treffen beschrieb Jämsén seinen Bürostandort mit: „Am Formel 1 Starting-Grid, Startplatz 18“, ganz so, als wäre dies eine normal verständliche Adressangabe. Nicht wissend, dass die Startplatzierungen auf dem Asphalt des Fürstentums verbleiben, erfolgte eine zusätzliche Nachfrage nach der Hausnummer. Im fünften Stock erwarten Besucher ein weiß vertäfelter Konferenzraum mit Marmortisch im Zentrum und eine dieser Terrassen, die zum großen Renntag für horrende Summen vermietet werden. Der Port Hercule ist beinahe in Leinenwurfweite.
Das Gespräch eröffnet der Wahlmonegasse mit: „Ich bin Holzbootsbauer, Schiffbauingenieur und Industriedesigner.“ Wie es dazu kam? Er ließ mit 15 Schule und Elternhaus hinter sich, um semiprofessionell Eishockey zu spielen. „Von morgens bis nachmittags trainierte ich auf dem Eis, danach lernte ich, wie man Holzboote baut.“ Das Multitalent kommt aus dem seenreichen Binnenland. „Eine sehr schöne Gegend. Mein Großvater hatte eine Hütte am See und da wir nicht besonders wohlhabend waren, bauten wir unsere Boote selbst. Die waren bis zu acht Meter lang, aus Holz und wurden immer wieder repariert. Das ging in Richtung Semi-Custom“, lacht Jämsén.
Sein erstes Boot baute der finnische Designer mit 16 Jahren, ein abgewandeltes Sea Bright Skiff. Am Ende war es aber „von mir designt und gebaut“, mit kleinem E-Außenborder, frei stehendem Mast und Schwenkkiel. „Ich nutzte nur handbetätigtes Werkzeug“, sagt er und ahmt ein Geräusch nach, wie es ein Auf und Ab des Hobels erzeugt. Jämsén wuchs in einer Umgebung fernab von Segelvereinen und Werften auf. Im Nachbardorf aber gab es eine Bücherei, in der er alles über alte US-amerikanische Boote las. „Bis zur sechsten Klasse waren wir 21 Schüler und zwei Lehrer an der gesamten Schule. Totales Chaos. In den ersten Jahren lernte ich überhaupt nichts, Bootsbau packte mich sofort.“ Zuletzt spielte Jämsén in einer kleinen Stadt als Torwart einer Zweitligamannschaft. „Von Kindesbeinen an bewegte ich mich in dieser maskulinen, vielleicht sogar ein bisschen toxischen Welt.“ Mit 20 kehrte er ihr den Rücken zu und studierte Schiffbau. Seine erste Wahl wäre Industriedesign gewesen, wovon ihm aber die schulinterne Stelle für berufliche Orientierung abriet. Jämsén ist stark farbenblind.
„Ich musste viel in Mathe nachholen, um die Aufnahmeprüfung in Turku zu bestehen.“ Da er bereits sein eigenes Boot gebaut hatte, verstand er die grundlegenden Dynamiken und Mechaniken. „Ich war immer noch ein armer Schlucker. Ich jobbte auch nachts bei Wärtsilä und setzte die großen 46er-Motoren zusammen. Ich hatte Glück und einen sehr guten Professor, bei dem ich viel lernte und Selbstvertrauen schöpfte.“ In dieser Zeit lernte er Englisch, was zuvor in der Schule keine Rolle gespielt hatte. Während des Studiums arbeitete er auch in einem Konstruktionsbüro, teils an Kreuzfahrtschiffen oder Spezialaufgaben. Sein Chef wurde zum Förderer und betraute ihn mit Custom-Projekten, die er zeichnete und mit 3Ds Max renderte.
Mit 25 Jahren folgte ein weiterer Glücksmoment. Auf Schwarzmärkten in Estland deckte er sich mit Raubkopien von Software wie AutoCAD oder Rhino ein und war „im siebten Himmel“. Inspiration lieferten internationale Yachtmagazine, die er am Bahnhof kaufte. Nach erfolgreichem Abschluss des Schiffbaustudiums dachte Jämsén an den Tutor, der ihm das Industriedesign-Studium ausredete. Jetzt versuchte er es, wurde in Lahti angenommen, wohnte aber noch in Helsinki und arbeitete in Turku. „Ich machte alles zur gleichen Zeit und ich denke, so arbeite ich immer noch.“ Aufgrund seines Vorwissens bot man ihm eine verkürzte Studienzeit an, der Jungingenieur entschied sich aber für die vollen vier Jahre und ging für zwei Auslandssemester nach Genua, wo er erstmals auf akademischer Ebene mit Yachtdesign in Berührung kam. Nach Rückkehr in den Norden nahm er Jobs in Industriedesign-Büros an, ehe er an seinem 30. Geburtstag den Entschluss fasste, nur noch auf eigene Rechnung zu arbeiten.
„Ich hätte nicht gedacht, dass ich mich nur mit Yachten über Wasser halten kann“, sagt Jämsén. Und ergänzt trocken: „Mein erstes Projekt war die Yacht des finnischen Präsidenten.“ Über eine Ausschreibung kam er an die Konstruktion und das Design der 20 Meter langen Staatsyacht, die das zweite Projekt mit vier IPS-Einheiten war und ihm einiges an Aufmerksamkeit einbrachte. Mittlerweile übernehmen bei seinen Großyachtprojekten Werften die Konstruktionsleistungen, aber Navia, das von ihm mitgegründete Büro, kann das auch und macht es nach wie vor für Sportboote. „Zu Beginn waren wir drei Personen, jetzt sind wir mit Aivan an die 100 und betreuen zwölf verschiedene Bootsmarken.“ Dazu zählen auch nicht finnische Werften wie Zodiac, Technohull oder Candela, für die Navia sogar die Foil-Steuerung entwickelte.
Eine Marke, die nicht zuletzt auch durch Navia schnell groß wurde, ist Axopar. „Es gab noch keine Firma, nur ein paar Leute mit guten Ideen“, erinnert sich Jämsén, der mit den Axopar-Gründern Sakari Mattila und Jan-Erik Viitala bereits für Paragon und XO kooperierte. Der Name leitet sich aus Teilen von Aquador, der ersten Bootsmarke von Mattila, sowie XO und Paragon ab. Jämsén hält zahlreiche Patente für Konstruktionsdetails, auch der flache Stufenrumpf kam von ihm. Schon für Paragon entwickelte er Mitte der 2000er-Jahre das Konzept eines RIBs ohne Schläuche. Immer setzte er auf Außenborder, um Gewicht und Kraftstoffverbrauch niedrig und die Seegängigkeit hoch zu halten. Hinzu half Jämséns kantige Formgebung den Rumpfkörpern zur optischen Verfestigung.
„Unser Maß an Expertise ist sehr hoch geworden. 40 Prozent des Geschäfts haben mit Wasser zu tun, wovon Superyachten einen sehr kleinen Teil davon einnehmen.“ So deckt der Schwesterbetrieb Aivan – ein Anagramm von „Navia“ – Industrie-, Kommunikations- oder Ladendesign ab. Beide Firmen sitzen in Helsinkis Hafen in einer alten Produktionshalle von Henry Ford. Bezüglich der Kunden sind die Übergänge teils fließend, wie etwa bei Brabus, für die Navia die Boote designte und konstruierte und Aivan einen komplexen Konfigurator für die Autosparte der Bottroper Veredler entwickelte.
Mit einer Brabus Shadow 900 geht es nach dem Studiobesuch auf eine Ausfahrt. An Bord ist Jämsén sichtbar in seinem Element, packt beim Ablegen an und übernimmt später das Steuer. Privat fährt er das gleiche Modell, es liegt außerhalb der Monaco Yacht Show zu Füßen seines Büros im Port Hercule. „Effizienter geht es nicht“, sagt Jämsén über die Kombination aus Stufenrumpf und den zwei Achtzylindern von Mercury. Als er im Hafenbecken den Blick auf die schwimmenden Exponate schweifen lässt, heißt es „no comment“ zur Ästhetik, wohl aber zur Antriebseffizienz: „Am Rumpf erkenne ich recht schnell, ob eine Yacht wenig verbraucht. Und im Detail könnte ich das berechnen.“ Bei all dem hydrodynamischen Optimierungsdenken ist es nicht verwunderlich, dass er bis vor Kurzem noch dem Segeln nachging. Er unterhielt den First-Rule-8er „Folly“ mit einem Freund, bis die Arbeit am Boot zu viel wurde und den Spaß auf dem Wasser übertrumpfte.
Um seine Superyachtaufträge kümmert sich Jämsén von Monaco aus, wo er auch seinen Wohnsitz hat: „Das ist ein bisschen wie ein Hobby für mich.“ Statt an Pitches teilzunehmen oder mit Konzepten auf Kundenfang zu gehen, setzt er auf handverlesene Projekte: „Das mag arrogant klingen, aber ich verstehe Superyachten nicht als knallhartes Business. Es soll Spaß machen, mit Kunden, die etwas Aufregendes suchen und angenehme Personen sind. Wenn mich jemand anheuert, dann stecke ich meine volle Energie in das Projekt und gebe fünf Jahre meines Lebens her. Und dabei geht es nicht um mich, sondern um die Eigner. Ich weiß, was es ihnen abverlangt. In den meisten Fällen ist es das größte Investment.“ Mit seiner Sparte agiert er unabhängig vom Helsinki-Standort, wobei er einzelne Dienstleistungen bei Aivan und Navia zukauft und den Großteil selbst erledigt: „Ich kann alle Bereiche des Baus übersehen, sei es das Rumpfdesign oder die Konstruktion. Ich mag es, die Grenzen auszureizen.“
Genau das tat er mit seinem Großyacht-Debüt, der 77 Meter langen „Pi“ (Ex-„Syzygy 818“). BOOTE EXCLUSIV wurde auf den Designer mit dem ungewöhnlichen Namen 2018 während eines Werftbesuchs bei Feadship aufmerksam. Die Einhausung verbot Blicke auf Projekt 818, jedoch hing neben der provisorischen Gangway eine Lateralansicht. Mehr brauchte es auch nicht, um die Wucht des Entwurfs zu transportieren. Die damaligen Notizen lauteten: „Schmal, negativer Steven, Glas-Aufbauten, kein Sundeck. Von einem Industriedesigner.“ Als die Redaktion nach dem Launch Fotos von der Seeerprobung auf der Nordsee erreichten, fügte sich alles zu einem überaus stimmigen Bild zusammen: ein konkaver, beinahe trichterförmiger Bug, konträr dazu ein konvexes Heck, das im Tumblehome ausläuft. Das Teakdeck ist quer verlegt, das Heck geschlossen.
Feadship brachte den Neubau mit Interieur von Sinot 2019 zur Messe nach Monaco, woraufhin der Auftraggeber wohl ein Angebot für „Syzygy 818“ erhielt, das er nicht ablehnen konnte. Der neue Eigner benannte um, der alte setzte eine Order über die 13 Meter längere Nachfolgerin bei der gleichen Werftadresse ab. Ein Modell von Feadship 824 steht auf dem Besprechungstisch von Jämséns Büro. Es ist ein Werkstück aus dem 3-D-Drucker, das ohne Unterwasserschiff auskommt und lediglich die Proportionen verdeutlichen soll. Es zeigt die gleichen scharfen wie runden Linien, wieder mit Längspool achtern und quadratischem Becken auf dem Vordeck, das ein Hubdach freigibt. Diesmal gibt es ein dramatisch-offenes Heck mit breiter Freitreppe und integrierter Heckklappe, die einen noch längeren Steg zu formen scheint.
Nach „Pi“ wurde Jämsén dafür gefeiert, dass er anscheinend veraltete Formen wie die Konkave zurück ins Yachting holte; ein im Bug überaus effizientes Konstruktionsmerkmal, aber auch verschwenderisches Designelement, das im Gegensatz zu konvexen Bordwänden den Rumpf einschnürt und ihm Innenraumvolumen raubt. Mit ähnlichen Freibordverläufen spielte Jämsén im Anschluss auch für Nautor Swan, für die er seinen Segel-Einstand mit dem Styling der Juan-K-Konstruktion ClubSwan 50 gab. Dessen „Vasenheck“ fand sich im ersten Motormodell der italo-finnischen Marke, der Swan Shadow, weitaus stärker ausgeprägt wieder. Auch die im Bau befindliche, 23 Meter lange SwanArrow setzt auf die konkav-gewölbten Bordwände.
Jarkko Jämséns multidisziplinärer Ansatz gipfelte jüngst in „Raven“. Den 34 Meter langen Super-Foiler von Baltic Yachts konzeptionierte er in Anlehnung an Nat Herreshoffs fast 150 Jahre alten Kat Tarantella sowie den Mono-Foiler von Gordon Baker aus den 1950er-Jahren. Es galt die Alles-auf-einmal-Devise: Segeln oberhalb der Wasseroberfläche, alte Ideen, neue Technik und avantgardistisches Design außen wie innen. Für den in Finnland gebauten Supersegler erdachte der Tausendsassa auch das Leichtbau-Interieur aus Carbon- und Rattan-Elementen. An Deck zeigt sich funktionales Design in Form eines orangefarbenen Anti-Rutsch-Anstrichs um das Deck, Blöcke, Winschen, Ösen oder Lukenverschlüsse. Die Grafiken sollen jenen ähneln, wie sie die Rümpfe von Helikoptern zieren.
Jämsén denkt offen, oftmals weiter als viele andere, und das tut er in dem Wissen, dass er seine Visionen mit Formeln unterfüttern kann. Der Finne ist nicht der Einzige seiner Zunft, der Kreativität und Konstruktion zusammenführt. Aber er tut es mit einer angenehmen Mischung aus Technikbegeisterung und ästhetischer Neugier bei gleichzeitiger Achtung bestehender Künste. Mittlerweile hält der farbenblinde Ex-Eishockeyspieler an der Uni in Lahti Pro-bono-Vorlesungen in Industriedesign: „Mir haben so viele Leute geholfen, darüber möchte ich etwas zurückgeben. Wenn ich eine Person erreichen kann, der es so geht, wie es mir ging, bin ich froh.“