PolenMasuren - Land ohne Eile

Gerald Penzl

 · 03.06.2023

Marina von Węgorzewo am Fluss Węgorapa am Nordende der Seenplatte
Foto: Gerald Penzl
Masuren im Norden Polens ist das größte Wassersportrevier des Landes. Genau gesagt geht es um die Masurischen Seen. Es ist eine Region, die so schnell nichts aus der Ruhe bringt - das konnten wir auf unserem einwöchigen Chartertörn immer wieder feststellen. Mit einer Northman 1200 Flybridge erkundeten wir fast alle Ecken der weitläufigen Seenplatte, von Węgorzewo im Norden über das touristische Zentrum Giżycko bis nach Mikołajki.

Was soll denn das? Wir wollten doch frisch gezapftes Bier. Und jetzt stellt uns der Kellner Flaschen auf den Tisch. Auf deren Etikett ein goldgekrönter Neptunkerl an einer Kette baumelt. „Na zdrowie“, wünscht er uns, registriert unseren irritierten Blick und schmunzelt. „Das ist Sielaw“, deutet er auf das blau-gelbe Etikett , „der Legende nach der König der Fische. Er ist das größte und klügste Wasserwesen in Masuren. Und der Schrecken aller Fischer. Wenn er sie bei ihrer Arbeit ertappte, zerbiss er ihre Netze. Und kippte ihre Boote um.“ Na wenn das so ist, na zdrowie!

Wasser, Wald und Wind. Wie viele Seen hier im Nordosten Polens ein Produkt der letzten Eiszeit sind, weiß keiner so genau. Knapp 3000 sollen es sein. Dazu kommen sanfte, bis zu 300 Meter hohe Hügel und als Krönung der glazialen Hinterlassenschaft rund 12 000 Quadratkilometer dichter, urwaldähnlicher Mischwald.

Die Shootingstars des navigierbaren Gewusels aus Flach- und Rinnenseen, Kanälen, Flüssen und Bächen sind der 114 Quadratkilometer große Jezioro Śniardwy (Spieringsee), gefolgt vom 104 Quadratkilometer großen Jezioro Mamry (Mauersee). Kein Wunder also, dass die masurische Seenplatte längst zur Crème de la Crème der europäischen Binnenreviere zählt. Wir haben die Probe aufs Exempel gemacht und im Internet eine Northman 1200 gebucht.

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Sommer in Masuren: Von Sztynort nach Węgorzewo

Mit den Mittagsglocken der legendenumwobenen Wallfahrtskirche Święta Libka (Heiligenlinde) laufen wir jetzt aus Port Sztynort (Steinort) aus. Petrus zeigt sich von seiner besten Seite. Der Himmel ist wolkenlos, das Bordthermometer kratzt an der 23-Grad-Marke. Nirgendwo auf der Welt, sagt man, gäbe es mehr Störche als in Masuren. Aber leider, leider lässt sich keiner dieser weißen Schnabelklapperer sehen. Dafür gibt sich hinter der kleinen Sztynorcki-Brücke eine Kolonie Graureiher die Ehre. Ein paar Zündtakte weiter rücken schilfverwucherte Liliput-Inseln ins Bild: Die größte trägt den namen Wyspa Upałty. Sie ist 64 Hektar groß und gehörte bis zum Ende des Zweiten Weltkriegs zum Familienbesitz der Grafen von Lendorff. Doch dazu später mehr …

Das „Land ohne Eile“, wie der bekannte Schriftsteller Arno Surminski Masuren nannte, macht seinem Namen alle Ehre.

Nach zweieinhalb Stunden Fahrt sagen wir dem Jezioro Mamry do widzenia – auf Deutsch ade – und nehmen das Flüsschen Węgorapa (Agerapp) unter den Kiel. Nach einem Kilometer teilt sich das Gewässer. Die Węgorapa mäandert ins nahe gelegene Russland. Und mündet 170 Kilometer weiter nordöstlich bei Kaliningrad als Pregel ins Frische Haff und damit in die Ostsee. Steuerbord führt ein kleiner Kanal nach Węgorzewo (Angerburg). Wir folgen dem Kanal, erreichen kurz nach 15 Uhr die Marina des 12 000 Seelenstädtchens, legen an, erledigen die Formalitäten und machen uns auf den Weg zum nächsten Supermarkt.

Der Mann an der Kasse ist vom „Typus Menschenfreund“. Er registriert unseren wohlgefüllten Einkaufswagen, fragt, ob wir mit einem Charterboot in der Marina lägen und bietet uns – schwupps – einen kostenfreien Lieferservice an. Wir bedanken uns, vereinbaren eine Uhrzeit und machen uns dann im Freilichtmuseum vis-à-vis der Marina mit der bäuerlichen Vergangenheit der Region vertraut. Das Leben in Masuren, das lassen die Exponate vermuten, war hart. Pest, Knechtschaft und vor allem der Dreißigjährige Krieg entvölkerten das Land. Mit den Preußenkönigen wendete sich das Blatt. Zwar sahen Potsdams „Alte Fritzen“ die Ressourcen der masurischen Wälder eher als Finanzierungsmöglichkeit für ihr Militär, doch mit der Einführung neuer Agrar- und Entwässerungstechniken wurden die Ernteerträge reicher und Masuren zu guter Letzt sogar zur Kornkammer des späteren Deutschen Kaiserreichs.

„Wollt ihr nach Mamerki?“, fragt uns der Hafenmeister am nächsten Tag. „Ja“, antworte ich. „Dann schaut auf dem Weg doch mal bei Michael Böhmer vorbei“, empfiehlt er.

Nach knapp einer Stunde haben wir Port Trygort und damit Michaels kleine Landgaststätte Góra Wiatrów erreicht. Am Steg liegen ein halbes Dutzend Segelyachten. Ein paar Meter weiter schaukeln zwei aus der Zeit gefallene, rund vier­einhalb Meter lange Plaste-und-Elaste-Bötchen. „Das sind Ibisse“, erklärt uns Michael später bei Kaffee und hausgemachtem Schokoladenkuchen. „Die Boote wurden in der DDR gebaut. Lenkrad und Frontscheibe stammen aus dem Trabi-Regal.“ Trabi-Regal? Nostalgie, ick hör dir trapsen … Und frage, ob ich mit Honeckers Beitrag zum klassenlosen Wassersport nicht eine Runde drehen könne. Meine Crew-Kollegen rollen mit den Augen. „Lass die Finger davon“, unken sie, „wer weiß, was dabei alles passiert.“

Ruinen im Wald: Mamerki

So weltverloren der kleine Steganleger Mamerki (Mauerwald) auch scheint, so grauenvoll ist die Geschichte seines Umfelds. Sie beginnt mit den Schleusen des 51 Kilometer langen Masurischen Kanals, geht über die Bunkeranlagen des Obersten Heereskommandos der Wehrmacht und endet bei Hitlers Wolfsschanze. Von dieser 15 Kilometer südwestlich gelegenen Schaltzentrale aus befehligte der Diktator den Russlandfeldzug, der nach seriösen Schätzungen mehr als 26 Millionen Menschen den Tod brachte. Hier scheiterte auch Stauffenbergs Attentat. Zwar zündete die in der Besprechungsbaracke deponierte Bombe, vier Menschen starben, doch Hitler selbst wurde nur leicht verletzt.

Wir haben Fahrräder an Bord, hieven sie vom Vorschiff, radeln zu den nahe gelegenen Bunkeranlagen des OHK und dann weiter zur Schleuse Leśniewo Górne (Fürstenau). Mit 42 Metern Länge und 17 Metern Fallhöhe ist sie der Gigant unter den insgesamt zehn Abstiegsbauwerken des Masurischen Kanals. Fertiggestellt wurde die Schleuse jedoch nie, der Krieg kam dazwischen. Und so blicken wir auf eine verwucherte Bauruine, die – es läuft mir kalt den Rücken hinunter – an der Stirnwand noch die Aussparungen für das Symbol des Schreckens, den NS-Reichsadler, trägt.

Handarbeit für die Touristen: Giżycko

Glaubt man den einschlägigen Reisebuch-Autoren, so ist Giżycko (Lötzen) im Sommer so etwas wie das touristische Epizentrum von Masuren. Wir steuern die umtriebige 30 000-Einwohnerstadt über den Kanał Łuczański an. Rechts und links der Wasserstraße geben sich dahingepuzzelte Vorortsiedlungen ihr Stelldichein. Kleine Brückchen rücken ins Bild.

Mit der Festung Boyen und der 140 Jahre alten Drehbrücke am südlichen Ausgang des Kanals erwacht dann aber unübersehbar das alte Preußen. Die Drehbrücke (most obrotowy) selbst wiegt über 100 Tonnen und wird dennoch von Hand (!) bedient.

Wir passieren die technische Antiquität, legen das Boot auf Kurs 170° und queren den gut ausgetonnten Jeziora Niegocin (Löwentinsee). Nach zehn Kilometern feinstaubarmer Spazierfahrt unter weitem Himmel gibt sich das Dörfchen Bogaczewo (Bogatzewen) und mit ihm der kleine Jeziore Boczne (Saitensee) die Ehre. Auf diese real existente Steilvorlage für Arno Surminskis literarische Liebeserklärungen an Masuren folgt ein bunter Mix aus weiteren kleinen Seen und schmalen Kanälen.

Schwimmende Wirtschaft: die Fishbarka

Zurück zur Natur hatte sich Adam Nicewicz wohl gedacht, seinen Job in Warschau an den Nagel gehängt und im Zentrum der masurischen Seen eine Art schwimmende Straußenwirtschaft aus der Taufe gehoben. „Alles selbst gemacht“, erzählt er stolz. Und deutet auf eine Bauskizze an der Wand. Seine Fishbarka, wie er sie nennt, ruht gemäß Planzeichnung auf einem 250 Quadratmeter großen, T-förmigen Ponton, hat Platz für 150 Gäste, eine Küche, Toiletten, Festmacher für die Gästeboote und Solarzellen auf dem Dach.

Jeden Morgen bugsieren zwei Motorboote die kreative Konstruktion vom Ufer aus in die Mitte des Jerizo Szymon (Schimon-See). Abends geht es wieder zurück ans Ufer. Geöffnet ist die schwimmende Gas­tro-Location von Anfang Juni bis Ende August. Zu essen gibt es, was Name und Lage mitten im See erwarten lassen: Fisch, Fisch und nochmals Fisch …

Masuren, sagt man, sei das Land der alten Adelssitze und mächtigen Ordensritterburgen. Preußens größtes Militär­erbe ist die sternförmig angelegte Festung Boyen. Während ihre Kanonen Mitte des 19. Jahrhunderts den Kolonialappetit der russischen Zaren in Schach halten sollten, diente Burg Ryn am nördlichen Ende des Jezioro Ryńskie (Rheiner See) den Deutschrittern als Sprungbrett für ihre östlichen Eroberungsfeldzüge.

Von Ryn in die Vergangenheit

Wir erreichen das gleichnamige Örtchen zu Füßen der Burg, die heute ein schickes Hotel ist, gegen 21 Uhr. Lust zu kochen haben wir nicht. Das Restaurant Gościniec Ryński Młyn, versichert der Hafenmeister, habe noch geöffnet. Und die Küche sei gut. Damit sind unsere Ernährungsfragen gelöst, wir spazieren zu der einstigen Wassermühle und lassen uns die Empfehlung des Hauses – Chrupiąca Stynka – servieren. Zu den heringsähnlichen, in Roggenmehl gewendeten und in Speck und Butter gebratenen Süßwasserstints gibt es Bratkartoffeln, Salat und lokales Craft-Bier. Den Abschluss des kulinarischen Genusses bildet ein vierfach destillierter, aus Roggen hergestellter, leicht erdiger Ausnahme-Wodka namens Chopin.

Nach gut einer Stunde mit dem Bordfahrrad durch Wiesen und Wälder stehen wir am nächsten Morgen vor Eingang des rund 2,5 Quadratkilometer großen Bunkergeländes: vor uns liegt die Wolfsschanze. Unser erstes Augenmerk gilt dem Ort des Hitler-Attentats. Von der Besprechungsbaracke selbst steht nur noch das Fundament, davor informiert eine in Buchform gehaltene Bronzetafel über Stauffenberg und seine Mitverschwörer. Zu ihnen gehörte auch Heinrich Graf von Lehndorff. Der damals 35-Jährige besaß mit Schloss Sztynort (Steinort) und den umliegenden Ländereien eines der größten landwirtschaftlichen Güter Ostpreußens. Doch viel Freude hatte er an dem über 500 Jahre alten Familiensitz zu Zeiten des Russlandfeldzugs wohl nicht.

Während Hitler im Schutz von bis zu acht Meter dicken Bunkerwänden die Welt in den Abgrund stürzte, bestand sein Außenminister Joachim von Ribbentrop auf einen „feudaleren“ Arbeitsplatz. Kraft seines Amtes beschlagnahmte er den Westflügel des Schlosses und baute ihn zur Schaltzentrale seiner Endlösungs-Verbrechen um. Stauffenbergs Attentat kostete etwa 200 Mitverschwörern das Leben; Lehndorff wurde durch den Volksgerichtshof zum Tode verurteilt. Seiner Cousine Marion Gräfin Dönhoff dagegen konnte keine Mittäterschaft nachgewiesen werden. Als die Rote Armee Anfang 1945 vor den Toren ihres Gutshofs stand, floh sie 1200 Kilometer auf dem Pferd in Richtung Westen. Ein Jahr später schrieb sie ihre ersten Beiträge für die neu gegründete „Zeit“.

Craft-Bier vom König der Fische: Mikołajki

Zurück zum Boot: Wir gehen den Tag in Masuren ruhig an, frühstücken auf der Fly mit Blick auf die Burg und legen gegen Mittag Richtung Mikołajki (Nikolaiken) ab. Nach ein paar Streusiedlungen und einem guten Dutzend Segelyachten auf Gegenkurs taucht steuerbord das kleine Örtchen Stare Sady (Schaden) auf. Am Steg liegt eine 989 Platinum Fly­bridge. An der Bordwand des Halbgleiters prangt der Schriftzug „Browar Mikołajki“. Das ist – Zufall oder auch nicht – die Brauerei, deren Fischkönig-Flaschenbier wir am ersten Abend in Sztynort serviert bekamen.

Ob der Neptungeselle auf dem Etikett der Sielaw sei, frage ich ihn. Und warum er an einer Kette hänge. „Ja“, bestätigt der Braumeister, „das ist der König der Fische. Irgendwann haben ihn die Fischer gefangen und wollten ihm den Garaus machen. Wenn ihr mich tötet, soll er gedroht haben, sterben alle meine Untertanen. Dann hab ihr nichts mehr zu essen und werdet verhungern. Das wollten die Fischer natürlich nicht. Sie entließen Sielaw in sein angestammtes Reich, ketteten ihn aber vorsichtshalber am Ufer an.“ Eine hübsche Geschichte, schmunzeln wir – und nehmen zwei Sixpacks mit dem Fischkönig als Ankerbier mit.

Nur wo du zu Fuß warst, bist du wirklich gewesen: Ob diese Lebens- oder besser gesagt Reiseweisheit aus der Feder von Johann Wolfgang von Goethe stammt oder nur eine Erfindung der Tourismusindustrie ist, sei dahin gestellt.

Wir jedenfalls haben das umtriebige Örtchen Mikołajki (Nikolaiken) im Schnelldurchgang erkundet, einen Blick auf den Fischkönig-Brunnen am Wolności-Platz geworfen, getankt und sind dann den Jezioro Beldany (Beldahnsee) Kurs Süden gedampft. Jetzt liegt unser schwimmendes Ferienapartment im kleinen Yachthafen der Pension Janus wenige Meter vor der Schleuse Nowa Śluza Guzianka. Wir sind nach Krutyń (Kruttinnen) geradelt, haben zwei Kanus gemietet und paddeln die Krutynia flussabwärts.

Wirklich viel Zeit dafür haben wir allerdings nicht. Zwar gilt das kristallklare Naturidyll als eines der schönsten Kanureviere Polens, doch wir wollen – oder besser gesagt: müssen – morgen gleich nach Sonnenaufgang wieder nach Sztynort zurück. Dort werden wir uns am Nachmittag mit Michael Nicklas treffen. Der 44-Jährige ist Lehrer für Bauphysik, unterrichtet in München und restauriert zusammen mit angehenden Bautechnikern die marode Dachkonstruktion des Lendorff-Schlosses. Finanziert wird das Projekt unter anderem vom deutschen Bundestag. „Wir hoffen“, so Michael Nicklas letzte Woche kurz vor unserem Törnstart in Sztynort (Steinort), „dass das Schloss einmal ein würdiges Zeugnis für den militärischen Widerstand gegen Hitler und damit ein Kontrapol zur Wolfsschanze wird.“ Wie weit sein Wunsch bereits Wirklichkeit geworden ist, werden wir morgen zum Abschluss unseres Törns in Augenschein nehmen.


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