Christian Tiedt
· 14.05.2023
Über 200 Kilometer begleitet der Canal latéral à la Loire seine Namensgeberin durchs Herz Frankreichs. Auch auf unserem Chartertörn von Chatillon bis nach Decize war der Strom nie weit entfernt
Ein Höhepunkt am ersten Törnabend, das kommt nicht oft vor – und dann auch noch im wahrsten Sinne: Neun Meter über der ruhig dahinfließenden Loire überqueren wir Frankreichs großen Strom. Auf eigenem Kiel. Denn bei dem Ort Briare, im Herzen des Landes, führt eine Kanalbrücke über das weite Flusstal. Ihr stählerner Trog trägt den Canal latéral à la Loire über seine von Sandbänken, Stromschnellen und anderen Launen geplagte Namensgeberin. 1896 wurden die letzten Nieten eingeschlagen, vierzehn Pfeiler stützen seitdem das sechshundert Meter lange Wunderwerk. Ein rundes Jahrhundert lang gab es auf der Welt nicht Vergleichbares.
Zwei kunstvolle Pfeiler im Stil der Beaux-Arts markieren die Zufahrt, inspiriert von den Verzierungen der Pariser Seine-Brücken. Im Schritttempo steuern wir unser Charterboot hinüber, erst über die Flutwiesen, dann über die Loire selbst. Zum Glück ist die schnurgerade Strecke schon von beiden Enden auf ganzer Länge einsehbar. Wer zuerst kommt, fährt auch zuerst. In Briare bleiben wollen wir gar nicht. Also gleich retour, zurück zum anderen Ufer und in eine der Ausbuchtungen, die hier als öffentliche Liegestellen dienen. Die Vorleine ziehen wir durch einen Ring, für die Heckleine schlagen wir einen schweren Erdnagel ein – und liegen perfekt, mit fantastischer Aussicht über die tiefer gelegene Landschaft und später auf den Sternenhimmel.
Dass wir diesen Abend an einem so außergewöhnlichen Ort verbringen, verdanken wir einem Tipp von Aurélie von Le Boat, die uns erst vor wenigen Stunden an unserer Charterbasis in Châtillon-sur-Loire in Empfang genommen hatte. Eigentlich führt unser einwöchiger One-Way-Törn auf dem Loire-Seitenkanal von Châtillon aus nämlich nach Süden bis Decize. Briare liegt jedoch im Norden, allerdings ganz in der Nähe: „Übernachtet doch heute dort“, hatte sie vorgeschlagen, „es ist nur eine Stunde entfernt. Die Fahrt über den pont-canal solltet ihr euch nicht entgehen lassen.“ Alors allons-y! – Na dann nichts wie hin!
Nach einer ruhigen Nacht weckt uns helles Glockengeläut auf dem Pfad neben dem Boot. Ein Hirte treibt seine Ziegen vorbei. Der Himmel ist von strahlendem Blau, es wird ein heißer Tag werden. Bald sind wir zum zweiten Mal in Châtillon und werfen den Schlüssel unseres Mietwagens vom Flughafen in Paris im Briefkasten der Basis ein. Aurélie wird ihn für uns nach Decize bringen. Unser erstes Ziel heißt jedoch Sancerre, Zentrum des einzigen Weinanbaugebietes der Loire in unserem Törnverlauf. Bis dahin liegen etwa 37 Kanalkilometer und fünf Schleusen vor uns. Da die erlaubte Höchstgeschwindigkeit nur acht Stundenkilometer beträgt, werden wir wohl etwas länger unterwegs sein.
Mit langen, geraden Schlägen läuft der Kanal durch Felder und Wiesen. Links unter uns windet sich die Loire in einiger Entfernung durch ihr breites Tal. Viel sehen wir nicht vom Fluss, nur die Baumreihen, die seinem Uferverlauf folgen. Auch der Kanal hat noch alleenartige Abschnitte. Meist sind es altehrwürdige Platanen, die früher Schatten auf dem Treidelpfad spendeten. Der ist jetzt teils als Fahrrad- und Wanderweg ausgebaut, zum Teil auch ganz verschwunden. Von Zeit zu Zeit begleitet uns dafür die Landstraße. Autofahrer hupen und winken uns zu. Die Hügel zur Rechten sind überraschend flach, nur selten sieht man Reihen junger Reben. Dörfer und Höfe sind unauffällig, die Fenster von hölzernen Läden verschlossen. Für sommerliche Farbe sorgt aber der Klatschmohn – und das hellgrüne Wasser des Kanals passt perfekt zur wild wuchernden Graskante über der Spundwand, die sein Ufer etwa halbmeterhoch einfasst.
Im Takt der vielen Brücken legen wir unseren Sonnenschirm um und stellen ihn ebenso schnell wieder auf. Die Flybridge wird zum Grill. Welche Ironie, das gerade jetzt voraus die beiden Kühltürme eines Kernkraftwerkes in Sicht kommen. Die Silhouette mit dem niedlichen Namen Belleville – nach dem Ort in der Nähe – wird uns noch ein paar Stunden begleiten.
Inzwischen haben wir die erste Schleuse erreicht: Maimbray. Jetzt heißt es warten, denn zwölf Uhr ist gerade durch – und bis um dreizehn Uhr ist Mittagspause. Weitere Schleusen folgen in ungleichmäßigen Abständen: Belleville, Houards, Peseau und Bannay. Gekurbelt wird noch meist von Hand. Die Kammerwände sind glatt gemauert oder betoniert, ihre Oberkanten bröselig. Möglichkeiten zum Festmachen gibt es in der Kammerwand nicht, bei der Bergschleusung ist man deshalb auf Unterstützung „von oben“ angewiesen, wo Poller stehen. Das freundliche Personal ist aber immer zur Stelle. „Continuez-vous?“, „Fahren Sie weiter?“, lautet die Frage am Ende. „Oui!“ Also werden wir an die nächste Schleuse weitergemeldet, die schon vorbereitet wird. Im Lauf des Tages findet sich sogar ein kleiner Konvoi aus drei Charterbooten zusammen: Neuseeländer vor uns, hinten Österreicher.
Gegen 17 Uhr markiert ein hoher Silo am Ufer den Hafen von Saint-Satur, das unterhalb von Sancerre liegt. Wir biegen ab zum port de plaisance, der sich im ehemaligen Vorhafen der inzwischen gesperrten Abstiegsschleuse zur Loire befindet. Gerade ist ein mittelalterliches „Turnier“ zu Ende gegangen: Lanzenstechen mit Ruderbooten. Das „Burgfräulein“ wuchtet schwere Gasflaschen einhändig in ihren Kastenwagen.
Sancerre liegt erhaben auf einer Bergkuppe. Also schwingen wir uns in bester Rittermanier selbst in den Sattel und kämpfen uns die knapp drei Kilometer hinauf. Der anschließende Spaziergang durch die alten Gassen und das Panorama vom Rempart des Augustines entschädigt aber völlig für die Strampelei. Übrigens: Einige Winzereien bieten Verkostungen in Sancerre an und holen Crews direkt am Boot ab. Angebote sind am Hafen ausgehängt. Wir behalten die Zeit im Auge und bekommen in Saint-Satur noch einen Tisch auf der Terrasse des „Bord de Loire“ direkt am Flussufer. Für rund zwanzig Euro wird ein großartiges Menü serviert. Dazu leisten wir uns eine Flasche Cabernet-Sauvignon von den Hängen hier. Wie Gott in Frankreich? Absolut!
Am nächsten Tag starten wir ohne Eile so, dass wir kurz vor der Mittagspause noch durch die Schleuse Thauvenay rutschen. Nun folgt zum ersten Mal ein längeres Waldstück, dessen Bäume sich im Wasser spiegeln. Vor La Grange warten wir nur kurz, bevor es auch hier pünktlich um 13 Uhr weitergeht. Wir bleiben allein, auch an den verbleibenden Schleusen von La Prée und Herry, und nach rund 23 Kilometern tauchen am rechten Ufer schließlich die Speicher von La Chapelle-Montlinard auf – dem Anleger und Umschlagplatz von La Charité-sur-Loire.
Wir gehen am halte fluviale längsseits, nicht im schönsten Umfeld, aber immerhin halbwegs im Grünen. La Charité selbst ist zwei Kilometer entfernt, der Weg führt über drei Brücken. Man merkt, wie alt der Ort ist. Heller Stein und Putz leuchten in der Sonne, und die enge Rue du Pont führt uns geradewegs vor das imposante Portal von Notre-Dame. Schwalben schießen im Spiel von scharfem Licht und Schatten umher. Die romanische Prioratskirche ist UNESCO-Welterbe, eine „Tochter“ der berühmten Abtei von Cluny. La Charité liegt noch immer am Jakobsweg. Das Zeichen der Pilgermuschel findet sich auch an der Brücke. Daneben hat man sich den Büchern verschrieben, überall stößt man auf kleine librairies zum Stöbern. Zitate zieren die Mauern, groß und klein, auch versteckt, eine literarische Suche: „Les fleurs sont des mots de l’Amour“ – „Die Blumen sind die Wörter der Liebe“.
Rund 26 Kilometer und sechs Schleusen stehen am Folgetag auf dem Plan. Immer wieder passieren wir nun waldige Abschnitte, wo der Kanal selbst wie ein Fluss wirkt. Doch kurz vor Marseilles-les-Aubigny ragt ein modernes Zementwerk in die Höhe, Hinweis darauf, wie wichtig der Kanal einst für die Wirtschaft war, warum er gebaut und später erweitert wurde. Die ehemalige Verladepier ist lange verwaist – heute rollt der Transport auf Straße und Schiene. Die „Frachtschiffe“, die man noch sieht, sind verwahrloste Wracks oder zu Hausbooten umgebaut – beides gibt es noch in vergleichsweise großer Zahl.
Nach Saint-Satur und La Chapelle erwartet uns nun endlich ein wirklich netter Liegeplatz an einer hübschen Parkanlage: Der Port de Guétin befindet sich im unteren Vorhafen der Schleusentreppe, die zur Kanalbrücke über den Allier führt, einen von Süden kommenden Nebenfluss der Loire. Dass wir schon um halb vier hier bleiben, haben wir einem weiteren Tipp von Aurélie zu verdanken: Etwa fünf Kilometer südlich soll nämlich eines von Frankreichs schönsten Dörfern liegen: Apremont-sur-Allier.
Schon die Strecke dorthin führt am alten Abstiegskanal zum Allier entlang durch sonnendurchfluteten Wald. So kommen wir unerwartet auch zur Kesselschleuse von Lorrains, einem eindrucksvollen technischen Denkmal. Doch es wird noch besser: Kurz darauf rollen wir nach Apremont hinein, und sein historisches Ensemble blumenumrankter Häuser scheint so perfekt, dass man sich beinahe in einem Themenpark wähnt. Auch wenn der Parc Floral mit seinen blühenden Wundern allzu bald schließt und das vieltürmige Château auf dem Hügel über dem Dorf nicht zu besichtigen ist, wird dieser Ausflug für uns zu einem weiteren Höhepunkt der Reise. Nicht zuletzt auch deshalb, weil wir uns dank Renés Beharrlichkeit im „Les Petits Causeries“ im Schatten der Baumkronen an der Promenade nicht nur ein Bier gönnen und die Beine mal wieder direkt am Ufer ausstrecken können – auch wenn es zur Abwechslung mal nicht die Loire selbst ist.
Die untere Schleuse der Treppe von Guétin hat den größten Hub auf dieser Reise. Ohne den hilfreichen Haken, der unsere Vorleine von oben annimmt, geht es hier nicht. Das Heck wird dann mit Hartruder eingekuppelt an der Kammerwand gehalten. Und nach der oberen Kammer überqueren wir kurze darauf den Allier auf dem zweiten Aquädukt des Törns. Keine dreizehn Kilometer trennen uns jetzt noch von unserem vorletzten Etappenziel, der 30 000-Einwohner-Stadt Nevers, und dem Stichkanal, der über zwei Selbstbedienungsschleusen zu ihrem Hafen führt. Zunächst drehen wir bei steifem Wind eine Runde und entscheiden uns dann für einen Liegeplatz unmittelbar am neu gestalteten Bereich beim Hafenbüro.
In die Stadt geht es diesmal zu Fuß, über den Fluss und an der Stadtmauer entlang, hinauf zur Kathedrale von Saint Cyr und Sainte Julitte. Die sieht nicht nur so neu aus, weil ihre Fassade samt Wasserspeiern und Strebebögen gerade komplett restau-riert wird, sondern auch, weil die Royal Air Force 1944 ihre Bomben bei einem Angriff über dem falschen Teil von Nevers abwarf und irrtümlich den alten Stadtkern traf. Vor dem Herzogspalast am offenen Place de la République stehen Zelte und Tribünen um ein sandiges Spielfeld herum: Die nationale Pétanque-Tour ist in der Stadt. Im Vergleich zum bekannten Boule verzichtet diese rund einhundert Jahre alte Variante des Sports auf die Anlaufschritte vor dem Wurf – was darauf zurückzuführen sein soll, dass ihr in die Jahre gekommener Erfinder trotz steifer Gelenke nicht auf sein Lieblingsspiel verzichten wollte.
Acht Grad in der Nacht und jede Menge Regen – was für ein Kontrast! So beginnt der letzte Abschnitt unserer Reise auf dem Canal latéral à la Loire, immerhin noch einmal 32 Kilometer und sechs Schleusen. Doch das Glück bleibt uns treu – es wird ein richtig schöner Abschluss. Denn bald lockert es auf, und klassisches Rückseitenwetter verwöhnt uns. Weiße Wolkentürme wandern über den blauen Himmel, und es wird schnell wieder sommerlich warm. Viel zu schnell erreichen wir die Abstiegsschleuse zum Hafen von Decize. Doch die Crew des Charterbootes, das gerade von unten in die Kammer einfährt, braucht ihre Zeit. Das kommt uns gerade recht. An der Wartestelle machen wir es uns noch einmal bequem, lassen die letzten Eiswürfel klirren und wenden die Gesichter der Sonne entgegen.
Distanz/Fahrzeit/Schleusen
S Châtillon-sur-Loire – Briare: 7 km/1 h/0
Z Decize
Gesamt: 136 km/26,5 h/26
Revierführer: „Loire Nivernais“, Band 2 aus der Reihe „Guide Fluvial“ von Éditions du Breil. Gewässerkarten mit abfolgenden Abschnitten in großem Maßstab, nautische und touristische Informationen (auch in deutscher Sprache). 112 S., viele farbige Abbildungen, Format: 29,5 x 21 cm, broschiert, ISBN 978-2-91312-000-6, Preis: 19,50 €.
Informationen zu den Etappenorten: Châtillon-sur-Loire: chatillon-sur-loire.com ▪ Briare: tourisme-briare.com ▪ Saint-Satur/Sancerre: tourisme-sancerre.com ▪ La Charité-sur-Loire: www.lacharitesurloire-tourisme.com ▪ Le Guétin/Apremont-sur-Allier: www.apremont-sur-allier.com ▪ Nevers: www.nevers-tourisme.com ▪ Decize: www.decize-confluence.fr
Unser Boot: Horizon 1 (GFK-Verdränger) · Länge: 11,50 m · Breite: 4,25 m · Kojen: 4 (2 Doppelkabinen) · WC/Dusche: 1/1 · Besondere Ausstattung: Bug- und Heckstrahlruder, zweiter Fahrstand (innen), feste Fenderleisten, Gasgrill, Backofen, Mikrowelle, Klimagerät, große Flybridge mit Verdeck. Grundpreise je nach Saison: von 1670 bis 3115 €.
Chartern: Unterwegs waren wir mit einem Boot der modernsten Baureihe von Le Boat, einer Horizon in der Zwei-Kabinen-Variante (o.). Daneben bietet die Firma an der Destination noch weitere Bootstypen unterschiedlicher Größen und Preisklassen. Unser One-Way-Törn startete in Châtillon-sur-Loire und endete in Decize, die Betreuung durch das Personal vor Ort war in beiden Fällen unkompliziert und sehr freundlich. Insgesamt verfügt Le Boat im Burgund über vier Stützpunkte, sodass dort eine Vielzahl von Routen zur Auswahl stehen. Informationen: Le Boat, Theodor-Heuss-Str. 53–63, Eing. B, 61118 Bad Vilbel, Tel. 06101-557 91 75. www.leboat.de
Der Kanal Wie das gesamte Wasserstraßennetz Frankreichs wird auch der Loire-Seitenkanal (Canal latéral à la Loire) von den VNF (Voies navigables de France) verwaltet und betrieben. Die Eröffnung erfolgte im Jahr 1838, heute gibt es neben dem Tourismus nahezu keine kommerzielle Nutzung mehr. Seine Strecke führt über 200 Kilometer von Briare (Anschluss: Canal de Briare) über Decize (Anschluss: Canal du Nivernais) nach Digoin (Anschluss: Canal de Roanne à Digoin, Canal du Centre). www.vnf.fr
Die Schleusen Das recht geringe Gefälle von nur 140 Metern über den gesamten Kanalverlauf wird von insgesamt 47 Schleusen ausgeglichen, wobei die Länge der Stauhaltungen sehr unterschiedlich ist. Auch wenn allmählich auf elektrischen, halbautomatischen Betrieb umgestellt wird , werden die meisten Schleusen noch vollständig manuell bedient. Das Personal hilft besonders bei Bergschleusungen mit den Leinen, da sich Poller nur oben auf dem Kammerrand befinden. Lichtsignale (und andere Schifffahrtszeichen) sind absolute Ausnahme.
Der Verkehr Dank des vergleichsweise geringen Verkehrs und des ruhigen Kanalverlaufs ist das Revier auch für Einsteiger gut geeignet. Ein Bootsführerschein wird nicht benötigt. Vorsicht (und geringe Geschwindigkeit) erfordern neben den Schleusen auch Kanalbrücken und die zum Teil sehr schmalen Brückendurchfahrten. Häfen und andere Anlege- und Übernachtungsmöglichkeiten sind ausreichend vorhanden.