In 994 Metern Höhe erreichen wir den Kornelkirschen-Pass im äußersten Osten des albanischen Hochgebirges. Die kleine Bergstraße führt über eine weiße Linie zu einem einfachen Grenzhäuschen. Trotz des Sommers ist es kalt hier oben. Ein Grenzbeamter mit Fellmütze bittet um unsere Pässe: „Willkommen in Mazedonien.“
„Ich dachte, das Land heißt Nordmazedonien…“, erwidere ich kleinlaut. „Alles Quatsch“, sagt der Beamte in fließendem Deutsch mit Rheinländer Akzent.
„Unser Land heißt seit über 3000 Jahren Mazedonien und war das größte Reich der Antike. Die Vorsilbe ‚Nord‘ mussten wir nur schlucken, damit die Griechen nicht unseren EU-Beitritt blockieren.“ Nach dem Crashkurs in mazedonischer Geschichte reicht der Beamte freundlich die Pässe zurück: „Ich war jugoslawischer Gastarbeiter in Duisburg. Herzlich willkommen im Reich Alexander des Großen.“
Nach der Grenze führt die schmale Straße wieder steil bergab. Der Blick öffnet sich. Vor uns ein Meer, dessen weit entfernter Horizont mit den Berggipfeln verschwimmt. Genau genommen ist es ein Binnenmeer, jedoch mehr als drei Mal so groß wie die Müritz. Der Ohridsee ist ein in Westeuropa kaum bekanntes Binnengewässer voller Rätsel. Er gilt als ältester See Europas. In seinen Tiefen von bis zu 288 Metern birgt er etliche Geheimnisse.
Eine Autostunde östlich der albanischen Grenze liegt die Stadt Ohrid. Mit 39 000 Einwohnern ist es nicht nur der größte Ort am gleichnamigen See, sondern aufgrund seiner mehr als 5000 Jahre zurückreichenden Geschichte zugleich einer der ältesten Orte Europas und unbedingt sehenswert. Vor dem Zentrum liegen im alten Hafen ein Dutzend Segel- und Motorboote sowie mehrere Ausflugsschiffe, die auf Gäste warten. Nur einen Steinwurf entfernt von der Kaimauer begrüßen uns im Restaurant Belvedere unserer Vercharterer Filip Vasileski und sein Skipper Nesch Savanovic. Im Garten des Lokals wird unter alten Platanen gerade eine lange Tafel aufgebaut. Wir müssen viele Hände schütteln.
Ich bitte Skipper Nesch, uns das Charterboot zu zeigen. Nesch heißt eigentlich Nebojsha, spricht fließend Deutsch und hat in Hannover ein eigenes Unternehmen als Zahntechniker. Den ganzen Sommer verbringt er jedoch in seiner Heimat am Ohridsee. Während wir mit ihm zum Seeufer gehen, vergoldet das Licht des späten Nachmittags die unglaublich schöne Altstadt von des historischen Ortes. Man fühlt sich wie in einer aufwändig gestalteten Filmkulisse. Aber für welchen Film? Die Architektur der Häuser, deren Obergeschosse immer breiter werden und den schmalen Gassen Schatten spenden, erinnert an ähnliche Orte in Bulgarien und der Türkei.
Auf dem glatten See spiegeln sich die Türme von nicht mehr zählbaren Kirchen und Moscheen. Das Geläut der Glocken vermischt sich mit dem Gebetsruf des Muezzins von den Kuppeln der weiß in den Himmel stechenden Minarette.
Ich habe sofort das Gefühl, in einem Schmelztiegel der Kulturen und Religionen angekommen zu sein.Vor der Flanier-Promenade parken mehrere Motorboote mit Buganker und Landleine. Junge Leute inszenieren sich in Selfie-Posen. Manche Frauen tragen knöchellange schwarze Kleider und Kopftuch, andere High Heels, Hotpants und Bikini-Oberteile.
Nesch zeigt uns unser Schiffchen. Es ist sieben Meter lang, sehr edel mit Mahagoni ausgebaut und hat mit weißem Leder bezogene Sitzbänke. Irgendwie erinnert es mich an ein vornehmes holländisches Tuckerboot. Nesch erklärt stolz: „Das ist keine niederländische Sloep, sondern eine mazedonische Kajtsche, ein traditionell aus Stahl genietetes Fischerboot.“ Ich sehe ihn ungläubig an: „So vornehm gehen die Mazedonier fischen?“ „Nein. Den Mahagoni-Ausbau haben wir selbst machen lassen. Aber der Bootskörper ist nach hundert Jahre alter Tradition per Hand aus Stahlblech genietet. Die Werften sind die Hinterhöfe der rund um den See wohnenden Roma-Familien. Sie reichen das Handwerk weiter und sind heute die einzigen, die noch so arbeiten.“
Ich bitte Nesch, im Abendlicht noch eine Runde über den See zu drehen. „Nein, es ist schon zu spät“, entgegnet er. Heute feiern wir lieber eure Ankunft. Ihr seid die ersten Chartergäste aus Deutschland“. Wir gehen zurück zum Belvedere, wo sich neben unserer langen Tafel eine Roma-Gruppe mit zwei Geigern, Akkordeon und Kontrabass aufgebaut hat. Die Kellner fahren bergeweise gegrillte Paprika, Auberginen, Zucchini, Fleisch und Würste auf. Dazu einen unwiderstehlichen Rotwein aus der Monastery Winery. Trinksprüche werden zelebriert und unendliche Flaschen vom klösterlichen Roten nachgeschenkt. Als die Roma-Band die uns unbekannten Lieder spielt, in denen es immer wieder um “Makedonija” geht, liegen sich die Männer in den Armen und singen leidenschaftlich mit.
Frühmorgens um 15.30 Uhr erklärt uns Nesch schließlich das Schiffchen. Es gibt einen Außenborder und einen Schalter für das Positionslicht. Das war’s. Als ich nach einer Seekarte und einem Hafenhandbuch frage, kratzt sich der Mazedonier verlegen am Kopf. „Einen kommunalen Hafen gibt es nur hier in Ohrid. Die anderen Plätze zum Anlegen sind meistens Klöster.“
Der Ohridsee war vor tausend Jahren das religiöse Zentrum der Christianisierung des Balkans. Im schwer zugänglichen Hochgebirge war das Boot ein wichtiges Verkehrsmittel.
Die meisten Klöster liegen darum am Wasser und haben einen Bootsanleger. Bis heute sind die Klöster die Mittelpunkte der kleinen Orte am See. Hier werden Handwerk, Ackerbau und Fischfang betrieben und seit über tausend Jahren Weine gekeltert. Ich frage Nesch, ob er mit uns fahren möchte. Ihm leuchten die Augen. Er ist glücklich, dass er uns „seinen“ See zeigen darf – und wir sind erleichtert, einen ortskundigen Guide zu haben. So legen wir ab. In den wenigen Stunden, in denen wir noch Licht haben, zeigt uns Nesch vom Wasser aus die Seeseite von Ohrid.
Wie ein Amphitheater erhebt sich die malerische Altstadt über dem See. Hier leben auf engstem Raum ein Dutzend verschiedene Ethnien nebeneinander. Neben der größten Bevölkerungsgruppe der Mazedonier sind es vor allem Albaner, Türken, Roma, Serben, Bosniaken, Walachen und Bulgaren.
Jede Gruppe pflegt ihre eigene Religion, darum gibt es in der Kleinstadt 365 Kirchen und zig Moscheen. „Du kannst also jeden Tag des Jahres in einer anderen Kirche beten“, sagt unser Skipper, während er das Boot dicht am Ufer entlang steuert.
In Hafennähe reiht sich ein Fischrestaurant an das andere. Jedes Lokal hat einen eigenen Bootsanleger. Mit Sonnenuntergang erreichen wir im Westen der Altstadt einen dominanten Felsen, auf dem die Kirche des Heiligen Johannes von Kaneo thront. Es ist das meistfotografierte Motiv von Ohrid.
Nesch mahnt zur Rückreise. Bis 21 Uhr müssen alle Boote den See verlassen haben. Diese Bestimmung soll die Grenze zwischen Nordmazedonien und Albanien sichern. Etwa ein Drittel des Ohridsees gehört zu dem Nachbarland. Nur eine Tonne markiert die weitgehend unbewachte Grenze. Durch das beiderseits geltende Nachtfahrverbot möchte man Schmuggel verhindern.
Im Jahr 2022, als wir unterwegs waren, durften Sportboote die Seegrenze nach Albanien noch nicht passieren, weil es weder auf der einen noch auf der anderen Seite eine Grenzstation gab. Doch beide Staaten haben längst den nautischen Tourismus als Wirtschaftsfaktor erkannt und arbeiten an einer Lösung für den grenzüberschreitenden Bootsverkehr. Da Albanien und Nordmazedonien EU-Kandidaten sind, ist zu hoffen, dass die jetzt noch bestehende Seegrenze in nicht allzu ferner Zukunft Geschichte sein wird. Wir allerdings müssen auf unserem Törn das albanische Ufer noch ausklammern.
Unsere Reise führt zunächst westwärts. Ganz im Norden liegt in der Ortschaft Struga der Abfluss des Ohridsees. Über den zeitweise reißenden Fluss Drin (mazedonisch: Drim) strömt das Wasser des Ohrid nach 285 Kilometern in die Adria. In Struga legen wir kurz vor dem Nadelwehr, welches den Wasserstand des Ohridsees reguliert, an der Uferpromenade an. Unterhalb des Wehrs reiht sich am Ufer des Flusses Drin ein Restaurant an das andere. Hier bekommt man für kleines Geld einen großen Fisch aus dem See und leckeren Wein.
Am nächsten Morgen will ich von Nesch wissen, wo diese Weine gekeltert werden. Wir fahren nur ein kurzes Stück mit dem Boot ins Zentrum von Ohrid, wo wir abgeholt werden. Nach wenigen Minuten betreten wir das malerisch gelegene Kloster der Heiligen Kusman und Damjan. Der Priester Dimče Gjorgyieski hat Hände wie ein Schmied und ein einnehmend freundliches Lächeln: „Willkommen in der Monastery Winery, sagt der Priester“, führt uns in den Keller, wo ein Winzer Rotwein aus Eichenfässern in Flaschen füllt.
„Wir produzieren neun verschiedene Sorten Wein und etwa 10 000 Flaschen im Jahr.“ Der Priester nimmt einen dunkelroten Merlot aus dem Regal, dreht geübt den Korken heraus und füllt unsere Gläser.
Den Roten im Glas schwenkend doziert der bärtige Priester: „Wir machen die Arbeit hier zu dritt, ein Winzer, ein Priester und der allmächtige Gott.“ Er sieht meinen fragenden Blick und ergänzt: „Der Winzer macht den Wein, der Priester betet und Gott sorgt für den guten Geschmack“. Kein schlechter Job, denke ich, in einem solchen Betrieb der Priester zu sein. Man findet ihn sogar im Internet: www.monasterywinery.com.
Morgens starten wir zum Törn über den See an die Westküste nach Kališta. In dem am Ufer liegenden 764-Seelen-Dorf wohnen Albaner, Mazedonier, Serben und Arumen (mazedonische Rumänen) einträchtig nebeneinander. Die Türme ihrer Moscheen und Kirchen zeigen in denselben Himmel.
Der Hafen gehört dem Kloster Kališta, das berühmt ist wegen seiner mittelalterlichen Fresken. Dem Kloster angeschlossen ist ein Hotel mit Beachbar, so dass immer für das Wohl der Seelen gesorgt ist. Fünf Kilometer weiter südlich liegt das Dorf Radožda. Hier verläuft die albanische Grenze. Wir legen am Steg des Fischrestaurants Dva Bisera an. Das Lokal ist auf Stelzen auf den See hinaus gebaut. Es gibt frischen Fang vom Grill, dazu handgeschnitzte Pommes, Gurkenscheiben und Zwiebelringe in großen Portionen für kleines Geld. Alles schmeckt sehr lecker.
Als kulturgeschichtliches Highlight liegt über dem Fischrestaurant die in den Felsen gehauene orthodoxe Kirche zum Heiligen Erzengel Michael. Sie gilt als schönste frühchristliche Höhlenkirche auf dem Balkan mit Fresken aus dem 14. Jahrhundert.
Unser letzter Tagestrip führt uns am Ostufer entlang in den Süden des Ohridsees. Auf halbem Wege liegt die Bucht der Knochen, heute ein archäologisches Museum, wo wir anlegen. Auf dem Meeresboden der Bucht fand man menschliche Skelette und Werkzeuge aus der Steinzeit. Archäologen bauten daraufhin ein Dorf auf Stelzen auf den See hinaus, wie es etwa tausend Jahre vor unserer Zeitrechnung ausgesehen haben könnte. Auf dem weiteren Weg nach Süden passieren wir das Kloster Zahum, das nur per Boot erreichbar ist und eine eigene Mole hat.
Das Highlight des Südens ist jedoch das Kloster Sveti Naum, welches direkt an der albanischen Grenze liegt. Der Priester Naum war ein Schüler von Kyrill und Method und gründete das Kloster um 895, um hier die Heilige Schrift ins Kyrillische zu übertragen. Der Ort ist heute Unesco-Welterbe.
Die Mönche von Sveti Naum und den benachbarten Klöstern schufen hier vor 1100 Jahren die Grundlagen der kyrillischen Schrift, die heute von 165 Millionen Menschen in elf Zeitzonen benutzt wird.
Wir legen im klostereigenen Hafen an. Zu Fuß des Klosterberges sprudelt in mächtigen Karstquellen Süßwasser hervor, das den See speist. Es ist die Quelle des Schwarzen Drin. Das Wasser stammt aus einem unterirdischen Abfluss des nur fünfzehn Kilometer entfernten Prespasees, welcher 849 Meter über dem Meeresspiegel liegt –und damit also 154 Meter höher als der Ohridsee selbst. Die Karstquellen, die sich einen Kilometer landeinwärts ausdehnen, kann man mit einem Ruderboot erkunden. Das kalte Süßwasser des Schwarzen Drin lädt zum erfrischenden Bad ein.
Unbedingt besuchen sollte man hier das Restaurant Ostrovo gleich neben dem Kloster. Die Terrasse des Lokals ist auf Stelzen über die Karstquellen gebaut. Hier gibt es Forelle, Aal und Karpfen aus dem Ohridsee sowie traditionelle mazedonische Gerichte wie Schnecken im Erdtopf, Spinat-Torte, gefüllte Kohlblätter und natürlich gefüllte Paprika.
Außerdem ist hier einer der wenigen Orte, an dem man die originalen Ohrid-Perlen kaufen kann. Kunststoff-Fälschungen gibt es in vielen Souvenirläden. Die Herstellung der Originale ist jedoch ein wohlgehütetes Geheimnis, das in nur zwei Familien von Generation zu Generation übertragen wird.
Die Perlen werden zu Ketten, Armbändern und Ohrringen verarbeitet. Die prominenteste Trägerin dieses außergewöhnlichen Schmucks soll Queen Elizabeth II. gewesen sein.
Am Kloster Sveti Naum endet unser Törn zu den Heiligen Orten an den Ufern des geheimnisvollen Sees. Es ist schon außergewöhnlich, dass man mit dem Boot stets an einem geschichtsträchtigen Kloster anlegt. Aber auch für Bootsfahrer, die sich nicht für Religionsgeschichte interessieren, ist der Ohridsee ein attraktives Bootsrevier. In den Klöstern wird nicht nur gebetet, sondern auch marktwirtschaftlich gedacht und gehandelt. Überall gibt es gutes Essen und exzellenten Wein.
Und an der 30 Kilometer langen Ostküste zwischen Ohrid und Sveti Naum findet man nicht nur unzählige heilige Orte, sondern mindestens genauso viele Strände. Ohne lange suchen zu müssen, entdeckt jede Crew schnell einen „persönlichen“ Strand, wo man absolut allein ist. Der bislang vom Massentourismus verschonte See ist derartig klar und sauber, dass es eine Freude ist, vom Boot ins Wasser zu springen.