Christian Tiedt
· 20.12.2021
Jung und Alt: Manche Dinge reifen mit Geduld zur Vollendung, andere erfinden sich immer wieder neu. Gegensätze, die sich anziehen. Wir entdecken den Westen der Niederlande
Die Straßendekoration im touristischeren Teil von Gouda, zwischen Nieuwe Markt und Kattensingelgracht, ist bildlich zu verstehen: Das „Gold“ der Stadt türmt sich nicht nur in den Schaufenstern, es schwebt über allem. Von Stahlseilen, die über die Straßen gespannt sind, hängen ganze Käselaibe. Wie kleine Sonnen baumeln sie am blauen Himmel. Sie sehen sehr echt aus. Ein paar Amerikaner machen sich darunter zum Selfie bereit. Die Botschaft auf den runden Etiketten: „Gouda. Cheese Capital of the World“. Das versteht man zu Hause. Käsewelthauptstädte kennt man auch im Land der unbegrenzten Superlative – und hat sogar selbst mehrere davon. Tillamook in Oregon zum Beispiel. Oder Plymouth in Wisconsin. Nicht zufällig werden die Footballfans der nah beheimateten Green Bay Packers als Cheeseheads bezeichnet. Teil ihres Stadion-Outfits ist eine entsprechende Kopfbedeckung voller Löcher. Natürlich wissen die Europareisenden aus Übersee, dass die schönen Titel daheim mehr oder weniger selbst verliehene sind. But Goohda, it’s real!
So einfach macht die kleine Stadt mit dem weltbekannten Namen jeden ihrer Besucher glücklich. Wir sind da keine Ausnahme. Es gibt nämlich auch das ganz normale Gouda, das sehr leger mit seinem Status umgeht, mit einer sympathischen Mischung aus Stolz und Selbstironie. Und das echte Produkt dazu findet man natürlich auch, nicht nur in den zahllosen Spezialgeschäften, sondern auch auf dem seit Jahrhunderten abgehaltenen kaasmarkt. Dort lässt sich alles finden, vom industriellen Hersteller bis zum kleinen Bio-Bauern, jung und alt, in allen Farben, Formen und Sorten: mit Kreuzkümmel, Lakritz oder lieber Weißbier? Es gibt nichts, das es nicht gibt. Da fällt die Entscheidung schwer. Am Ende bringen wir beide, Kollege René und ich, jeweils mehr als eine Variante zum Probieren mit zurück zum Boot, das in der Turfsingelgracht auf uns wartet. Aber wir haben ja auch noch nicht mal Halbzeit auf unserem Chartertörn durch die Provinz Zuid-Holland – und ein Stück Käse geht immer.
„Am besten macht ihr Rotterdam am Schluss“, rät uns Paul-Michiel von Dutch Yacht Rentals. „Denn da geht es noch mal so richtig zur Sache.“ Drei Tage zuvor stehen wir zu dritt rund um den Tisch auf dem Achterdeck von „Stella“, einer Linssen Grand Sturdy 35.0 AC, mit der wir in der kommenden Woche den Westen der Niederlande erkunden wollen. Vor uns ausgebreitet liegen drei Faltkarten, die das Revier abdecken. Schon im vergangenen Jahr waren wir hier in Willemstad. Damals war die Charterbasis im Jachthaven De Batterij Ausgangspunkt für eine Reise nach Zeeland im Süden (siehe BOOTE-Ausgabe 2/21). Diesmal wird es in die andere Richtung gehen, Zuid-Holland ist an der Reihe, einmal gegen den Uhrzeigersinn. Wir hoffen auf spannende Kontraste zwischen Altem und Neuem. Wie im vergangenen Jahr hat sich Corona glücklicherweise zumindest in die Sommerpause weitgehend verabschiedet, die Erleichterung ist überall spürbar. Es ist Mitte Juni – doch der Sommer ist schon da.
Im Wasserstraßennetz der Niederlande gehört das Hollands Diep zu den Autobahnen. In ihm vereinen sich der südliche Mündungsarm des Rheins und die Maas. Ein Abzweiger, die Dordtsche Kil, verkürzt zusätzlich die Distanz von Rotterdam nach Antwerpen. Klar, dass zwischen den größten Seehäfen Europas viel Verkehr herrscht. Wo es geht, halten wir uns außerhalb des Tonnenstrichs. Mit stattlicher Bugwelle überholen uns Tank- und Gütermotorschiffe. Es sind Niederländer, Belgier und Deutsche, Einzelfahrer und Koppelverbände, beladen mit Flüssiggas, Schotter oder Containern. Eilig haben sie es alle. Nachdem wir die qualmenden Schlote von Moerdijk an Steuerbord passiert haben, lauern wir auf eine Lücke im Betrieb und queren das Hollands Diep hinüber zur Einmündung der Dordtschen Kil.
Auf den nun folgenden acht Kilometern nach Norden wird es eng. Zwischen Fahrwasserrand und Uferböschung bleibt kaum noch Platz, besonders kurz nach Niedrigwasser. Etwa auf halber Strecke werden wir von einem Bilgenentöler überholt, der seinerseits von einem leeren 135-Meter-Tanker übersprintet wird. Gleichzeitig kommt von vorn ein Schuber mit einem Berg Container vor dem Bug – und einem ordentlichen toten Winkel. Auf UKW-Kanal 10 regt sich nichts. Scheint alles ganz normal zu sein.
Hinter der Deichlinie erhebt sich bald dichte Bebauung, links die Dächer von ’s-Gravendeel, rechts große Lagerhallen und Schuppen. Kurz darauf trifft die Dordtsche Kil auf die Oude Maas. Wir biegen nach Steuerbord, vorbei an der Hafeneinfahrt von Dordrecht, das unser Ziel für heute ist. Da Sportboote hier weiter nördlich im Zentrum wesentlich gemütlicher unterkommen, fahren wir noch ein paar Kilometer, inzwischen in komplett urbanem Umfeld, bis wir auch die markante Eisenbahnhubbrücke passiert haben, die selbst geschlossen für uns noch hoch genug ist. Bei der Boombrug, einer alten Klappbrücke, ist das schon anders. Sie versperrt uns den Zugang zum Wijnhaven, einem der drei historischen Becken, die für kommerzielle Nutzung längst zu klein sind. Zwar hat die Brücke feste Öffnungszeiten, trotzdem melden wir uns lieber per Funk. Während wir warten, scheuchen uns die Waterbussen hin und her, die mit Hochgeschwindigkeit nach Rotterdam pendeln und ihrem Wegerecht mit lautem Heulen Nachdruck verleihen. Pünktlich springt das Signal an der Brücke von Rot auf Rot-Grün und schließlich auf Grün. Wir laufen ein, machen am Meldesteiger fest und bekommen einen Platz am Schwimmsteg.
Nachdem der Hafenmeister vorbeigeschaut hat, machen wir uns zu Fuß auf in die Stadt. Wir überqueren die Boombrug, schauen einmal durch den Torbogen des Groothoofdspoort mit seiner reichen Wappenzier und gelangen zum Wolvewershaven, wo ehemals frachttragende Plattboden mit schweren Seitenschwertern und Dampfschlepper an eine vergangene Epoche Dotdrechts erinnern. Weiter zur spätmittelalterlichen Grote Kerk, deren Turm schon leicht geneigt steht. Eigentlich wollten wir dieses Prachtbeispiel der für die Niederlande typischen Brabanter Gotik erklimmen. 275 Stufen hätten uns einen schönen Überblick über die älteste Stadt Hollands verschafft. Leider macht uns Corona hier einen Strich durch die Rechnung.
Auf nach Gouda! Von der Oude Maas geht es zunächst auf der viel befahrenen Noord nach Norden. Ein Einsatzboot des Rijkswaterstaat, der für die Wasserstraßen zuständigen Aufsichts- und Verwaltungsbehörde, schießt mit Blaulicht in hoher Fahrtstufe vorbei und sorgt unter der Brücke von Alblasserdam für ordentlich Welle. Schließlich kommen wir hinaus auf die Nieuwe Maas, den mittleren Mündungsarm des Rheins. Aber auch seinem breiten Verlauf folgen wir nur ein kurzes Stück stromab. Schon in Krimpen verlassen wir ihn nach Nordosten, und die bereits sichtbare Skyline Rotterdams verschwindet langsam wieder achteraus. Wie ruhig es plötzlich ist!
Vor uns liegen nun noch etwa zwanzig Kilometer auf der Hollandse IJssel. Wir durchqueren die offene Algerasluis, die dem Schutz vor Sturmfluten dient. Hinter Capelle erstrecken sich nun flache Polder beiderseits des Flusses, der seinerseits von hohen Deichen eingefasst ist. Am frühen Nachmittag haben wir unser Ziel fast erreicht. Während die Hollandse IJssel nach Osten schwenkt, müssen wir auf der einmündenden Gouwe weiter nach Norden. Am Wartesteg vor den Julianasluizen melden wir uns an und dürfen gleich hinter einem Binnenschiff einfahren. Nun noch in die Nieuwe Gouwe, doch dann zeigt die Steve Bikobrug doppelt Rot: Sie ist defekt und somit unpassierbar. Wie lange die Sperrung wohl dauern wird? Ein paar Tage, lautet die Antwort. Wenigstens weiß der Törnführer, dass es noch einen zweiten Weg in die Stadt gibt, von Süden über Hollandse IJssel und die alte Mallegatsluis. Deren Einfahrt hat für uns zwar nur bei niedriger Tide genug Luft nach oben, doch die Uhrzeit passt. Auch wenn wir dafür noch einmal durch die Julianasluizen müssen. Keine Stunde später machen wir an der Turfsingelgracht mitten in Gouda fest.
Schmale Gassen und immer wieder Wasser, schattige Ecken und sonnige Plätze, Treppengiebel und große Fenster zur Straße. Den Fischmarkt mit seinen dorischen Säulengängen direkt an der Gouwe merken wir uns für später. Jetzt wollen wir erst zur Goudse Waag hinter dem alten Rathaus am Markt. Im Erdgeschoss des 1670 eröffneten Bauwerks wurden jahrhundertelang Handelswaren gewogen, um vor dem Verkauf besteuert zu werden. Auch Käse – den die Hersteller aus dem Umland erst danach als „Gouda“ anbieten durften. Seine Geschichte, auch die seines Siegeszuges rund um den Globus (die viel mit der Nähe zu den großen Seehäfen zu tun hatte), wird im Dachgeschoss erzählt, das zum Museum ausgebaut wurde. Etwa, was es mit der „Reifeprüfung“ auf sich hat: Sieben Altersstufen gibt es, von jong (vier Wochen) bis overjarig (ein Jahr und älter). Es ist wenig wie im wahren Leben: Frische ist vergänglich, doch der Charakter wird stärker.
Jung und Alt spielen auch an unserem nächsten Tagesziel eine Rolle, der Universitätsstadt Leiden. Durch flaches, weites Land führt uns die Gouwe in nördlicher Richtung an Waddinxveen und Boskoop vorbei. In Alphen treffen wir dann nach fünfzehn Kilometern auf den Oude Rijn, dem wir nun nach Westen noch einmal über die gleiche Entfernung folgen. Der Fluss bringt uns mitten ins Zentrum zum Passantenhaven. Für große Yachten wie unsere Linssen ist hier zwar Sackgasse, und für die Weiterfahrt morgen werden wir ein Stück zurück und dann nach Süden abbiegen müssen. Für die unzähligen Sloepen und Sportboote, die unter den Brücken der Altstadt hindurchpassen, gilt das jedoch nicht. Wahnsinn, was auf dem Wasser los ist! Was schwimmt, ist vollbesetzt unterwegs, mit Sonnenhüten und Picknickkörben oder nackten Oberkörpern und Bierkästen an Bord. Die einsetzende Dämmerung ändert nichts daran: Während sich auch die Bars und Restaurants am Zusammenfluss von Oude und Nieuwe Rijn immer mehr füllen, gleiten die Positionslichter wie eine endlose Lichterkette vorbei.
Die letzte Etappe nach Rotterdam verläuft am nächsten Tag fast kaum noch über freies Feld. Meist ist mindestens die eine Seite bebaut, oft sind es beide. Auf dem ersten Teilstück des Rijn-Schiekanaal, der auch Vliet genannt wird, liegt das vor allem an Den Haag. Durch dessen Vororte Leidschendam (mit Schleuse), Voorburg und Rijswijk führt der Kanal. Zu sehen gibt es dabei so manches, was nach gehobenem Lebensstil aussieht. Kein Wunder, schließlich ist die Stadt mit einer halben Million Einwohnern nicht nur politisches Zentrum des Landes, sondern auch Sitz der königlichen Familie. Auch Brücken gibt es wieder viele, zu viele, um sie alle aufzuzählen. Besonders in Delft, das südlich an Den Haag anschließt, ist die Taktung so dicht, dass man sich einzelne Einträge ins Logbuch besser spart. Davon abgesehen ist die Passage kein Problem: Einige Brücken sind auch geschlossen hoch genug, manche muss man anfunken. Falls es zu Wartezeiten kommt, halten sie sich in der Regel in Grenzen.
Kurz nachdem die Delftse Schie, wie der letzte Kanalabschnitt südlich von Delft heißt, Rotterdam erreicht hat, werden an Steuerbord die fünf parallelen Becken des Delfshaven passiert. Ab hier sind jetzt auch wieder mehr Binnenschiffe unterwegs. Spätestens nach der Beukelsbrug befindet man sich mitten in der Stadt, mit Passanten auf der Uferpromenade, dem Straßenverkehr und den langen, rot geklinkerten Fassaden der Wohnhäuser an Spangese- und Aelbrechtskade, bevor der Kanal am Coolhaven ein letztes S beschreibt. Nun noch durch die kleine Kammer der Parksluizen, und im Schatten des Euromasts mit seiner einhundert Meter hohen Aussichtsplattform entlässt uns die Binnenfahrt wieder auf die gezeitenabhängige, frei fließende Nieuwe Maas.
Kein Liegeplatz könnte besser für das Erlebnis Rotterdam geeignet sein als der Veerhaven: Hier trifft gestern auf morgen, Tradition auf Vision. Historische Segelschiffe, moderne Yachten, der Jugendstil rund um das rechteckige Becken und die hoch aufstrebenden Glasfassaden der Hochhäuser dahinter schaffen eine einmalige Atmosphäre. Im Krieg hatte die durch deutsche Bomben stark zerstörte Stadt viel von ihrer Gestalt verloren. Es dauerte, bis sie zu alter wirtschaftlicher Stärke zurückfand – und sich sogar in mancher Hinsicht neu erfinden konnte. Das Rotterdams der Gegenwart blickt nun gleichzeitig zurück und nach vorn. Nirgendwo wird das so deutlich wie auf dem Ufer gegenüber: Dort verwandelt sich seit Jahren ausgedientes Industriegelände an Rijn- und Maashaven in eine neue Lebenswelt für das 21. Jahrhundert – aber nicht, ohne die Spuren der eigenen Vergangenheit als Teil des Ganzen deutlich sichtbar zu lassen. So führt der Weg dorthin über die ikonische Erasmusbrug. Benannt ist sie nach dem Humanisten Erasmus von Rotterdam. Der berühmteste Sohn der Stadt lebte vor einem halben Jahrtausend. Alt und Jung, auch hier finden sie zusammen.
Noch mehr Informationen? Den Reisebericht “ Jung und Alt” finden Sie mit weiteren Bildern und Revierdaten in BOOTE-Ausgabe 01/2022 seit dem 15.12.2021 am Kiosk oder online im Delius Klasing-Shop.