Unbekannt
· 03.05.2020
In den Niederlanden ist das Wasser bei einem Törn durch die Waddenzee nie weit weg. Ein Törn, mit einem stürmischen Start in Stavoren.
Wie ein ungleiches Geschwisterpaar sind sie, die westfriesische Waddenzee und das ostfriesische Wattenmeer. Vor der offenen Nordsee durch eine Kette von Inseln geschützt und auf dem Festland von hohen Deichen eingegrenzt, säumen sie Hand in Hand die lange Küste Frieslands.
In Aussehen und Eigenschaften gleichen sie sich auf den ersten Blick fast völlig. Auf den zweiten jedoch wird deutlich, dass der niederländische nicht nur der größere der beiden Brüder ist: Er muss sich als Erster dem Westwind entgegenstemmen. Umso wechselhafter ist sein Wesen, umso rauer die Laune.
Ein faszinierendes Revier ist es, nicht mehr Land und noch nicht Meer: Wo die Wellen bei Hochwasser ohne Hindernis über den Grund hinwegziehen, erstrecken sich bei Niedrigwasser trockener Sand und weicher Schlick, nur von tiefen, schnell fließenden Prielen durchzogen. Wir werden den großen Bruder in den nächsten Tagen kennenlernen.
Die Gelegenheit bietet sich vor einem Jahr, als Anton van den Bosch von Neptune Marine in der Redaktion anruft: "Wir überführen eine nagelneue Elling E6 nach Neustadt zur Boat Show. Wollt ihr mit an Bord sein?"
Zumindest für den ersten Streckenabschnitt durch die Waddenzee lässt sich das einrichten. Zwar ist die Wettervorhersage für die betreffenden Tage Mitte April eine Herausforderung, da ordentlich Wind angesagt ist, andererseits ist die knapp zwanzig Meter lange Yacht mit ihrer 900 PS starken Hauptmaschine – einem Volvo Penta D13 – und dem tief im Rumpf liegenden Kreiselstabilisator von Seakeeper eigentlich für jeden Seegang gerüstet.
Für uns beginnt die Reise in Stavoren an der Ostküste des IJsselmeers. Bei blauem Himmel und strahlendem Sonnenschein weht der Wind frisch aus Nordwesten quer über das längliche Hafenbecken. Unsere Elling ist schnell ausgemacht. Unruhig klatscht das Wasser an ihrem Rumpf empor.
Eine ganze Gruppe schwerfälliger Plattbodenschiffe, die nebenan noch unter Plane und Persenning schlummern, lässt sich von den kabbeligen Zuständen dagegen überhaupt nicht aus der Ruhe bringen. Bis zum Saisonbeginn müssen noch ein paar Wochen vergehen.
Wir werden trotzdem schon erwartet: Anton winkt vom Achterdeck der Elling, und nachdem wir unsere Sachen an Bord gebracht und unter Deck verstaut haben, führt uns ein kurzer Fußweg vom Liegeplatz an der Klappbrücke an den Backsteingebäuden am Havenweg entlang zur Hafeneinfahrt.
Der Ausblick bringt einen salzigen Vorgeschmack auf das, was uns erwartet: weiße Schaumkämme auf dem aufgepeitschten IJsselmeer und eine heranwandernde Wand dunkler Wolken, die gerade die Sonne verschluckt.
Bald singt es in den Riggs, und wir haben Glück, dass es nur ein paar Schritte hinüber sind in die gute Stube der "Vrouwe van Stavoren".
Die zwölf Seemeilen auf Nordkurs bis zur Schleuse Kornwerderzand liegen am nächsten Morgen schon nach einer guten Stunde hinter uns. Immer wieder stoßen Lichtstrahlen aus dem wolkenzerfetzten Himmel herab, während wir auf diesen östlichen Ausgang des IJsselmeers zuhalten. Der westliche liegt fünfzehn Seemeilen entfernt von hier am anderen Ende des Abschlussdeichs bei Den Oever auf der Halbinsel Nordholland.
Erst Anfang der Dreißigerjahre des vergangenen Jahrhunderts wurde der Deich fertiggestellt; ein Jahrhundertbauwerk, das die bis dahin für ihre Sturmfluten gefürchtete Zuiderzee von der Waddenzee abtrennte, einfriedete und so nicht nur zu einem sehr viel berechenbareren Binnengewässer machte sondern zugleich massive Landgewinnung ermöglichte.
So kommt es, dass eine ehemalige Insel wie Urk heute an der Festlandküste liegt. Wo heute – fünf Meter unter dem Meeresspiegel – die Polderlandschaft der Provinz Flevoland liegt, immerhin Heimat für mehr 400 000 Menschen, gab es früher nur Wasser.
Als die Ampeln auf Grün schalten, steuert Anton die Elling gemeinsam mit zwei Traditionsseglern, die auf Überführungstörn sind, durch die massiven stählernen Doppeltore in die kleinere östliche Kammer der Lorentzsluizen, Teil des Gezeitensperrwerks von Kornwerderzand. Draußen läuft die Flut noch auf.
Entsprechend schnell sind wir oben. Der Verkehr auf der Autobahn A7, die über den Abschlussdeich führt, wurde bereits angehalten, und ohne weitere Zeit zu verlieren, öffnen sich die Drehbrücken der beiden Fahrbahnen für unser Trio.
Einmal aus dem Schutz der lang gestreckten Mole heraus, dreht einer der beiden Plattboden in den Wind, um Segel zu setzen. Sofort explodiert die Gischt über dem runden Bug und zieht in weiten Schleiern nach achtern. Trotz Ölzeugs verzichtet man drüben jetzt doch auf das Manöver, schert wieder ins Fahrwasser ein und freut sich über seinen Motor.
Die Farbe der Waddenzee an diesem Tag sind ein tiefes Grau mit einem Stich ins Blaue oder Braune, wenn Wolkenlöcher vorbeiziehen, und das Weiß der Schaumkämme. Tonnen taumeln in der See. Auch für uns ist die Welle von querab kein Spaß, doch als der Skipper den Stabilisator einschaltet und dessen Kreisel auf Touren kommt, nimmt das Rollen deutlich ab. Tagesziel ist die Insel Terschelling. Der Weg dorthin führt nun zunächst dicht unter der Küste nach Norden führt über die Boontjes, eine gut betonnte und befeuerte Rinne hinauf nach Harlingen, wo wir in das noch besser ausgebaute Hauptfahrwasser einschwenken, das auch die Fähre zwischen Festland und Terschelling nutzt.
Entsprechend lebhaft ist der Verkehr: Ein alter Kutter kommt uns vom Krabbenfang entgegen, den Rumpf voller rostiger Trauerschlieren. Während er durch die See stampft, hängt eine Wolke hungriger Möwen über seinem Heck. Ein Schwimmbagger folgt, dann eine Segelyacht, deren Mast wie ein Metronom vor dem fahlen Himmel pendelt.
Auch der Fähre selbst begegnen wir auf Gegenkurs: Die "Friesland" ist ein richtiges Seeschiff, mit hohem Freibord und bulligem Steven. Ein Anzeichen dafür, welche Verhältnisse hier herrschen können.
Nur die Seekarte verrät, dass an Backbord jetzt der Langezand lauert, keine zwei Meter unter den Wellenkämmen. Auf der Steuerbordseite erstreckt sich sogar die noch größere Ballastplaat, ebenso verborgen. Nur ihre höchste Stelle ist sichtbar – die kleine Insel Griend, auf deren Oberfläche sich sogar spärlicher Bewuchs festkrallt.
Wie eine Arterie zwischen gespannten Muskeln führt das Fahrwasser zwischen den Sänden hindurch, bald als etwas breiter als Blauwe Slenk, bis es auf ein neues Hindernis trifft: den mächtigen Waardgronden südlich der Insel Vlieland.
Hier vereint sich das Tief mit der von Süden kommenden, ebenfalls schiffbaren Inschot, und gemeinsam geht es nun nach Norden, der Nordsee zu, wie ein Fluss, der auf seinem Weg immer mehr Nebenarme aufnimmt. Seine "Mündung" ist in diesem Fall der Vliestroom, das breite, aber dennoch flache Seegatt zwischen Vlieland und ihrer Nachbarin im Osten: Terschelling.
Die Küstenlinie Terschellings ist inzwischen gut auszumachen, viel Sand – der Noordsvaarder –, dahinter ansteigende Dünen von eindrucksvoller Höhe und dunkle Flecken gebeugter Kiefern in den Tälern. Das West Meep zweigt nach Steuerbord ab, ein tiefer Priel, und mit ihm das Hauptfahrwasser. Wir wählen jedoch einen anderen Weg noch etwas weiter nördlich und dicht unter der Insel.
Dort tastet sich das Schuitengat an Jacobsruggen und Grote Plaat bis zum Hafen von West-Terschelling, der bereits nicht nur durch einen dichten Kamm von Masten und die Häuser dahinter erkennbar ist, sondern vor allem durch den klobigen Quader des Leuchtturms Brandaris.
Keine halbe Stunde später laufen wir an einem alten Hochseeschlepper, einem Tonnenleger und einem Päckchen von Plattboden vorbei in den langen, gebaggerten Schlauch des Inselhafens ein, bis wir die Schwimmstege des Passantenhaven an seinem Ende erreicht haben. Zeit, die Beine wieder zu bewegen – nach dem "Anleger", versteht sich.
Feiner Sand wirbelt über den geziegelten Weg, der von der Seefahrtsschule am Yachthafen in den Ort führt. Die Mehrzahl der Liegeplätze ist noch leer, und selbst die Fahrradständer sind noch verwaist. Auch hier hat die Saison noch längst nicht begonnen. Einmal im Schutz der engen Gassen, nimmt die Touristendichte jedoch zu. Irgendwie führen alle Wege hier zum vuurtoren, dem Leuchtturm, mitten im Zentrum. Trotz seiner gelben Klinker und rechtwinkligen Bauweise, die von Weitem leicht an einen schnöden Silo erinnert, ist Brandaris ein echter Veteran an dieser Küste: In diesem Jahr feiert der Turm seinen 425. Geburtstag und ist damit einer der weltweit ältesten, die ausschließlich für diese edle Aufgabe gebaut wurden.
Wer danach den steilen Sandpfaden auf die Dünen gleich westlich des Ortes folgt – und dabei nicht über die leider so unvermeidlichen Reste deutschen Bunkerbauwahns stolpert –, wird mit einer großartigen Rundumsicht belohnt. Von den sich in der östlichen Ferne verlierenden Dünen der Insel über Hafen und Watt, dessen gewundene Strukturen mit dem Rückzug des Wassers langsam sichtbar werden, zum Vliestroom, wo Wadden- und Noordzee über der Barre in einem weißen Streifen aus Brandung aufeinandertreffen. Wir treffen uns im Heksenketel in der Willem Barentszstraat wieder, wo uns zwischen fliegenden Besen und Beschwörungsgedöns bei koffie und likeur tatsächlich schnell wärmer wird.
Goldener Abendschein begleitet uns auch auf dem Weg zurück zum Boot.
Dafür dämmert der nächste Tag umso trister heran: Wie eine alte Betonplatte liegt der Himmel schwer und scheinbar unverrückbar über der Insel. Ein bisschen Beistand hätte uns der heilige Brandarius in seiner Funktion als Lichtbringer schon leisten können. Aber es nützt nichts, wir müssen weiter nach Ameland. Aus diesem Grund werfen wir unsere Leinen eine gute Stunde vor Hochwasser los; denn nur so werden wir bei höchstem Wasserstand an der kritischen Stelle dieser Etappe zur einzig rechten Zeit eintreffen – dem Wattenhoch des Terschellingerwad.
Über eine Seemeile kann der Sand dort trockenfallen, und das bis zu einem halben Meter. Entsprechend giftgrün leuchtet der Hintergrund der betreffenden Stelle auf dem Plotter.
Die Linie des Fahrwassers geht dennoch ungerührt quer darüber hinweg, als handele es sich um einen Spaziergang über eine Wiese. Zwar bezieht sich die ominöse Tiefenangabe "nur" auf das Seekartennull, das aus Sicherheitsgründen sogar noch niedriger angesetzt ist als der Wert des ohnehin seltenen Mittleren Springniedrigwassers.
Aber bei einer Gezeitenhöhe von noch nicht einmal zweieinhalb Metern bei Mittlerem Springhochwasser und einem Tiefgang von anderthalb Metern geht Anton auf Nummer sicher.
Also beginnen wir dem gewundenen Tonnenstrich durch das unsichtbare Labyrinth südlich von Terschelling nach Osten zu folgen, über Slenk, Noord Meep und schließlich Oosterrom. Immer näher rückt die "grüne Wiese" auf dem Plotterbildschirm. Draußen deutet nichts auf den kritischen Moment hin.
Gleichmäßig laufen die Wellen über die ebene Fläche und dennoch vermittelt die Kette roter Tonnen voraus höchstens ein lauwarmes Gefühl von Sicherheit. Dann beginnt der spannende Teil – und schon nach wenigen Augenblicken verrät ein Blick ins Heckwasser schlagartig, was sich geändert hat:
Eben noch weiß, schäumt es jetzt tiefgrau hinter dem Heck. Dunkle Wolken wallen auf, vom Propeller aufgewühlt. Was sagt das Echolot? "0,1 Meter."
Und plötzlich merkt man, wie die große Yacht ganz sanft einruckt. Es ist der zum Schutz des Antriebs tief hinuntergezogene Kiel, der wie ein scharfer Pflug den Grund furcht. Doch dreißig Tonnen in Bewegung lassen sich nicht so leicht stoppen, und so "rutschen" wir über diese Bodenwelle ebenso wie über die zwei, drei weiteren, die noch folgen.
Vom einen auf den anderen Augenblick bekommt unser Heckwasser seine "gesunde" Farbe zurück – und das Wattenhoch liegt hinter uns. Terschelling endet, und im Westgat nimmt uns gleich die Nordsee in Empfang. Ein imposantes Chaos aus Brechern baut der Nordwest hier auf. Doch zum Glück wollen wir heute nicht mehr hinaus, sondern zurück ins Watt, in den Hafen von Ameland, das schon an Backbord voraus liegt. Das tiefe Molengat wird uns sicher dort hinführen.